Symphonie der Nacht

Das große Haus lag, in der Dunkelheit der Nacht, still da. Der Trubel war verflogen. Die letzten Gäste sind gegangen, die sich eben noch am Champagner labten. Die angeregten Gespräche, über das soeben Gehörte, sind verstummt. Auf den Gängen, wo vor kurzem noch emsiges und hektisches Treiben war, zeigt sich jetzt nur noch eine kleine Abordnung von hauseigenen Wollmäusen, die ihre höchst eigene Version von Schwanensee aufführen.
Der Pförtner hat seine letzte Runde gedreht und sitzt nun wieder, verschanzend hinter seiner Bildzeitung und hofft darauf, nicht weiter gestört zu werden. Er genießt die nächtliche Ruhe, die er sich, mit eigens mitgebrachtem Kaffee versüßt. Gut behütet steht die Thermoskanne neben ihm. Zur Geschmacksverstärkung hatte er den Kaffee mit Kognak versetzt, nach einem alten Pförtnergeheimrezept. Zwei drittel Kaffee zu einem drittel Kognak. Die Mischung machts eben. So wird er die Nacht gut durchstehen. Sicherheitshalber liegt neben der Thermoskanne eine Rolle Pfefferminzbonbons für den Ernstfall.
Das große Silvesterkonzert ist vorüber.
Das große Symphonieorchester hat wieder einmal alles gegeben. Der Dirigent dirigierte, als ginge es um sein Leben.
Der Generalmusikdirektor hatte es sich nehmen lassen, heute selbst das Dirigat zu übernehmen.
Er jagte seine Musiker von einem Höhepunkt zum nächsten. Ein Feuerwerk der klassischen Unterhaltung.
Die in edle Garderobe geschlüpften Abonnenten, dankten es ihnen mit frenetischem Applaus.
Kein Schmuckstück wurde unbeaufsichtigt zuhause zurückgelassen, sondern stolz präsentiert. Lange hausinterne Diskussionen gingen dem heutigen Besuch voraus. Nicht gerade wenige Ehemänner hatten unter dem Weihnachtsbaum Eintrittskarten für diesen Abend liegen. Doch so mancher sehnte sich nach seiner jährlichen Krawatte zurück. Allerorten hörte man in der Weihnachtsnacht, anklagend und verzweifelt die Rufe manches Mannes: „Muss ich da mitgehen? -- Nimm doch deine Freundin mit!“ – oder „Das Jahr fängt ja gut an!“

Viele empfanden es sowieso schon ungerecht, dass ihre Frauen eine Freundin haben dürfen und ihnen wird sie nicht zugestanden. Einige Männer gönnen sich trotzdem eine. Aber eine, die klassische Musik hasst. Sollte dennoch einmal ein Ehemann mit seiner Geliebten ins Konzert gehen, dann hat er den Sinn des Lebens nicht verstanden. Eine Geliebte ist zur körperlichen und nicht zur geistigen Erbauung erfunden worden.
Doch nicht nur das die Ehemänner mit mussten, sie wurden auch noch gezwungen, ihren guten schwarzen Anzug anzuziehen, den sie ausschließlich für Beerdigungen angeschafft haben und der sonst, eingemottet, ganz hinten, versteckt im Kleiderschrank hängt. Dort wartet er genügsam auf den nächsten Todesfall, der ihm dann wieder einen großen Auftritt beschert. Als letzte Amtshandlung wird er mitsamt seinem Besitzer dereinst den letzten Weg gehen.

Als es auf Mitternacht zuging, in dieser letzten Nacht des Jahres, betrat der Intendant, König über das Dreispartenhaus, die Bühne und zählte von zehn auf null herunter, unter Zuhilfenahme eines Spickzettels und einem Glas Champagner, der ihm auf Produktionskosten, aus dem Requisitenbudget zur Verfügung gestellt wurde.
Der Inspizient rutschte unruhig auf seinem Stuhl, denn er hatte heute die wichtigste Aufgabe.
Er musste exakt um Zwölf den elektrischen Gong ertönen lassen. Gongt er zu früh, wird allen das neue Jahr unheimlich lange vorkommen. Gongt er zu spät, steht ihm eine Abmahnung ins Haus.
Der Intendant ist ein Pedant und schlägt damit den Dirigenten noch um Längen, der unbeirrt darauf besteht, jeden Ton so spielen zu lassen, wie der Komponist, in seinem Übereifer, es vorgesehen hat.
Und wehe, es spielt jemand ein F statt eines Fis, dann schüttelt er verächtlich seinen Kopf und seine hochtoupierte Haarpracht wird endgültig zerstört. Da hilft selbst das stabilisierende Haarspray nichts mehr.
Der Maskenbildner, der in der Gasse ängstlich um sein Kunstwerk bangt, erleidet einen höchst theatralischen Zusammenbruch sämtlicher Nerven.
Die Bühnenarbeiter können ihn gerade noch davon abhalten, sich am Schnürboden aufzuhängen. Nicht ganz uneigennützig, denn hinterher haben sie die Arbeit damit ihn wieder abzuhängen.
Doch all dies ist heute nicht geschehen. Das Orchester spielte überragend, der Generalmusikdirektor dirigierte wie ein junger Gott und die Frisur hielt, was der Maskenbildner ihr versprach.
Auch der Inspizient war auf die Sekunde genau und der Intendant zählte den Countdown fehlerfrei von seinem Spickzettel herunter. Dann rief er sein „Happy New Year“ in die Menge und das Volk machte es ihm gleich. Es wurde angestoßen und geküsst.
Der Intendant, im Eifer des feierlichen Moments, küsste das halbe Orchester und gab auch jeder Musikerin die Hand. Nachdem nun das neue Jahr gebührend empfangen wurde, fremde Menschen sich in den Armen lagen, erhob der Generalmusikdirektor ein letztes Mal seinen Stab und warf die Arme weit nach oben, was ihm die Gelenke etwas übel nahmen, denn sie wurden von seinem überraschenden Handeln vollkommen überrumpelt. So hatten sie sich das neue Jahr nicht vorgestellt. Der Dirigent auch nicht, der noch in der Nacht die Notaufnahme aufsuchte, weil er auf den letzten Metern versäumt hatte, Körper und Geist in Einklang zu bringen.
Trotz der heftigen Schmerzen, die ihm seine Schulter bereitete und auch die zweite Geige, die sich zweimal verstrich, kämpfte er sich mit letzter Kraft, durch die „Ode an die Freude“, die als Rausschmeißer intoniert wurde.
Chor und Extrachor schmetterten aus vollen Kehlen, doch konnten sie das miteinstimmende Publikum nicht übertönen, was jegliche einstudierte Phrasierungen und Solopartien untergehen ließ, in den Disharmonien, die ihnen aus dem Saal entgegenschallten.
Nachdem das Orchester den letzten Ton verklingen ließ und auf enthusiastischen Applaus erschöpft wartete, übernahm das Publikum kurzerhand die Regie des Abends und sang einfach ungehemmt weiter. Künstlerisch gesehen ein Desaster.
Sprach- und machtlos stand der Dirigent da und in seiner Verzweiflung ließ er das komplette Orchester sich erheben, damit er nicht so alleine herumstehen musste.
Da hatten sie es nun endlich einmal geschafft, aus den Niederungen des Orchestergrabens emporzusteigen, um auf der großen Bühne zu glänzen und dann das!
Doch der Generalmusikdirektor hatte sich schon insgeheim eine Rache ausgedacht. Im nächsten Jahr würde er keine Strauss-Walzer mehr spielen. Das soll André Rieu machen!
Er würde nur noch ganz schwere Kost auf den Spielplan setzen. Schönberg, Stockhausen und Alban Berg und als Rausschmeißer einen Trauermarsch. Was heißt einen, alle Trauermärsche, die die Klassik hervorgebracht hat. Donizetti, Grieg, Beethoven und Händel. Da gibt es dann nichts mehr zum Mitgrölen. Nur keinen Mozart, der Ralph Siegel der klassischen Musik!
Er wird es diesen Kunstbanausen schon zeigen. Und alles in Moll, damit auch ja kein Ballermann Feeling aufkommt. Die Melodieführung werden die Bässe übernehmen und eine singende Säge. Eine Kreissäge! Bei dem Gedanken daran erhellte sich seine finstere Miene.
Und im Chor müssen alle Bass singen, auch die Soprane. Die Countertenöre können ihren Resturlaub nehmen oder Champagner ausschenken.
Er würde den Befrackten und Roben ausführenden Gästen schon zeigen, was es heißt, in seinen Konzerten ungefragt los zu plärren. Symphonische Konzerte, selbst wenn sie an Silvester stattfinden, sind zur Erbauung von Seele und Geist da und sind keine Mitmachveranstaltungen. Fehlt nur noch das sie mitklatschen würden, diese typisch deutsche Unart. Das sollen sie bei Silbereisen machen, aber nicht bei Hayden, Brahms oder Hindemith.
Man stelle sich nur einfach einmal vor, bei Mozarts Requiem in d-Moll würde mitgesungen oder gar rhythmisch geklatscht werden. Da wäre doch die schöne traurige Stimmung dahin.
Um dem vorzubeugen sind die meisten Requiem, auch völlig zurecht, auf Lateinisch. Die Wahrscheinlichkeit, einen ganzen Konzertsaal mit Muttersprachlern angefüllt zu finden, die alle Texte mitsingen können, kann man getrost als eher gering einstufen.
Mit solchen schwerwiegenden Gedanken quält sich wohl jeder verantwortungsbewusste Generalmusikdirektor.
Aber erst dann!
Als normaler Kapellmeister wollte er noch einfach pünktlich Feierabend haben, um die letzte Bahn zu kriegen. Da wurde dann auch schon mal, gegen Ende hin, das Tempo massiv angezogen, so dass die Streicher kaum mitkamen.

Ein seltsames Geräusch schreckte den Pförtner aus dem Schlaf, den der Inhalt seiner leeren Thermoskanne zu verantworten hatte. Es war ein wehleidiges markerschütterndes Heulen.
„Übt hier noch jemand?“, dachte er so bei sich.
Er verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. Denn ein verantwortungsvoller, gewerkschaftlich organisierter Musiker, würde sich nie erdreisten, außerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Probenzeit, sein Instrument auch nur eines Blickes würdigen.
Die deutsche Orchestervereinigung, kurz DOV, hat da klare Richtlinien. Wer dagegen verstößt, erhält Blas- Streich- oder Schlagverbot.
Was der Pförtner nicht ahnen konnte, tief unten, in einem kleinen stickigen dunklen Raum, gleich neben dem Orchestergraben, lag eine traurige Geige, die ihr Schicksal bejammerte.
Neben ihr lag, was der Anlass des Jammerns war, ihr Geigenbogen, der völlig zerzaust aussah. Und die Geige schämte sich dafür, denn sie war nicht irgend eine Geige. Sie war die erste Geige und damit Vorbild für alle Streicher, die unter der Knute, ihr musikalisch zu Diensten waren. Wobei sie sich selbst lieber als Violine bezeichnete. Geige klingt ihr einfach zu profan. Begrifflich gesehen ist es aber dasselbe. Manche, die sich damit als Kulturbanausen outen, verwechseln sie oft mit einer Bratsche oder einer Viola. Doch die Viola ist eine Armgeige. Achtung! Nicht zu verwechseln mit einer Arschgeige. Letztere sind meist unmusikalisch und humorlos. Soweit etwas Hintergrundinformation für die hier anwesenden Volkshochschulbesucher unter ihnen.

Aus allen Ecken krochen nun die vom Konzert geschundenen Klangkörper hervor, um zu sehen, was es mit der klagenden ersten Geige auf sich hat. Gerade sie, die doch als Einzige stets den dank des Dirigenten erhält. Allerdings muss ihr Bespieler dafür die stets verschwitzte Hand des Allmächtigen in Kauf nehmen, während sie unter seinem Kinn klemmt.
„Seht nur her, ihr die ihr mit mir Beethovens Neunte heute Abend gestemmt habt. Alle meine Streicher, die unter mir dienen, haben gerissene Saiten. Sämtliche unserer Bogen haben zerrissene Pferdehaare. Da hilft auch keine Haarkur mehr. Alles ist ganz fürchterlich.“, schluchzte die erste Geige, zum Stein erweichen.
„Was soll ich erst sagen!“, meldete sich eine Tuba.
„Ich bin fast ertrunken, im Speichel meines Tubisten.
„Wir rosten doch so leicht!“,sprangen ihm die Trompeten zur Seite.
Eine schrille Stimme mischte sich plötzlich ein.
„Ach mir gehts gut!“
Es war die Triangel, die sich da ungefragt einmischte.
„Halt du dich aus der Diskussion raus.“, brummte der Kontrabass, übellaunig wie immer.
„Du bist ja nicht einmal ein richtiges Instrument.“
„Genau!“, unterstützte ihn das Fagott.
„Drei mickrige Schläge im ganzen Konzert, aber dann hier einen auf dicke Hose machen wollen!“
„Was kann ich denn dafür, wenn hier nur Komponisten gespielt werden, die mich ignorieren. Das ist musikalisches Mobbing! Liszt! Warum spielen wir nicht Liszt? In seinem Klavierkonzert Nr. 1 in Es-Dur, da habe ich ein fabelhaftes Solo!“
„Ach Gott, die olle Kamelle!“, rief augenrollend die Posaune und machte sich ganz lang.
„Ohne mich wäre Mozarts Entführung aus dem Serail nix! Da hatte ich meinen großen Durchbruch.“, meinte die, der oder das Triangel.
Welches Instrument kann schon von sich behaupten drei Geschlechter zu haben!
„Danach ging es aber steil bergab mit der Karriere!“, pfiff ihr die Piccoloflöte den Marsch.
„Ruhe jetzt! Ich will schlafen.“
Es war die dicke Kesselpauke, die sich da lautstark beschwerte und entsprechend ihrer masochistischen Veranlagung, schlug sie sich selbst dabei.
„Ja bitte!“, pflichtete ihm die schüchterne Harfe bei und zupfte verlegen an sich herum.
Doch jetzt ging es erst richtig los. Jede Instrumentenfamilie rottete sich zusammen und ging auf die andren Familienclans los. Blechbläser gegen Holzbläser und vereint gegen die Streicher. Zunächst noch piano, doch dann anschwellend hin bis zum großen Crescendo. Nur die Harfe hielt sich zurück, da sie zu den Zupfinstrumenten zählt und im Orchester alleinstehend ist.
Von all dem völlig unbeeindruckt, lag in seiner holzgeschnitzten und mit rotem Samt ausgeschlagenen Kiste, der von allen verehrte und hoch geachtete Taktstock. Er räusperte sich nur kurz, dann erhob er sich würdevoll. Sofort verstummten alle Instrumente automatisch. Einige aus Respekt vor seiner ungeheuren Macht, andere aus Angst, da sie nur einen Zeitvertrag haben.
„Aber meine Damen und Herren! Ich muss doch sehr bitten. Ihrer aller Taktlosigkeit wird sie morgen teuer zu stehen kommen. Auf dem Probenplan steht der Säbeltanz und da werden sie alle ihre Kräfte brauchen. Und jetzt gute Nacht.“
Langsam kehrte wieder Ruhe ein und die ermüdeten Helden fielen in tiefen Schlaf. Nur die kleine Piccoloflöte nicht. Sie gönnte sich noch einen kleinen Piccolo als Absacker, ehe auch ihr die Augen zufielen.
Als am nächsten Morgen die Musiker ihre Instrumente holten, zeigten sie sich doch etwas verwundert, denn alle ihre Instrumente waren noch immer sehr verstimmt.

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