Die Türkei hat den Großteil der syrischen Provinz Idlib de facto annektiert und nistet sich dauerhaft als Besatzungsmacht in der Region ein. Zugleich vollzieht Ankara eine brisante Strategiewende. Die vielen einst verbündeten Gruppierungen werden jetzt gegeneinander ausgespielt.

Bereits seit zwei Jahren hat die Türkei den Großteil der syrischen Provinz Idlib de facto annektiert. Tausende türkische Soldaten stehen in der Provinz. Zahlreiche radikale Gruppierungen sind in der Provinz ebenso aktiv. Diese waren lange Zeit das wichtigste Machtinstrument von Ankara auf dem syrischen Boden, doch nun vollzieht sich eine brisante Wende. Die einstigen Verbündeten wurden längst zur Last – Ankara spielt die Söldnergruppen nun gegeneinander aus.

Rolle von Söldnergruppierungen in Syrien

Jahrelang setzte die Türkei in dem syrischen Konflikt auf ihre Proxys – zahlreiche radikale Gruppierungen kämpften in Interessen Ankaras in dem syrischen Bürgerkrieg.

Das Brisante dabei war, dass die Zusammensetzung dieser Gruppierungen äußerst unterschiedlich war. Einige der Gruppierungen waren in Syrien mehr oder minder „einheimisch“. Sie bestanden hauptsächlich aus türkisch- oder syrisch-stämmigen Kämpfern und setzten eine weitgehend pro-türkische Strategie um. Die bekannteste und zugleich die Stärkste darunter war stets die Haiʾat Tahrir asch-Scham (HST) – ein Bündnis verschiedener extremistisch-islamistischer Milizen, die Tausende Kämpfer in Idlib unterhielt. Ironischerweise wird die HTS formell auch in der Türkei als eine „Terrororganisation“ angesehen, zugleich ist es ein offenes Geheimnis, dass die HTS türkische Interessen in der Region durchsetzt, aus der Türkei Technik und Personal geliefert bekommt und manche ihrer Offensiven unter Deckfeuer der türkischen Artillerie und Drohnen ausführt.

Andere radikale Gruppierungen in Idlib bestanden dagegen fast komplett aus ausländischen Islamisten – Arabern, geflohenen Tschetschenen, Afghanen, Zentralasiaten etc. Es waren vor allem diese Ausländer-Gruppierungen, die in den Anfängen des syrischen Bürgerkries 2012 bis 2013 das Land beinah in den Kollaps führten und fast in Damaskus eimarschiert waren. Kein Wunder, die Ausländer-Gruppierungen waren radikaler und fanatischer. Syrien war nicht ihr Land und sie nahmen keine Rücksicht auf einheimische Zivilisten, ihre Familien etc. In Syrien zeigte sich deutlich, dass je radikaler und fanatischer eine Gruppierung war, desto schonungsloser kämpfte sie und desto größere militärische Erfolge hatte sie vorzuweisen.

Lange Zeit deckten sich die Interessen der „einheimischen“ und der „ausländischen“ Gruppierungen mit den Interessen Ankaras – es war der Kampf gegen die syrischen Regierungstruppen. Für die Türkei war dies äußerst profitabel – sie erlangte dadurch die Kontrolle über eine syrische Provinz, ohne eigene Soldaten in die Territorien zu schicken und politische Skandale zu riskieren. Dass die meisten dieser Gruppierungen hartgesottene Islamisten waren, störte Ankara wenig.

Der Bruch innerhalb der „Anti-Damaskus-Koalition“

Doch dann kam die Wende in dem Konflikt und mit ihm der Bruch in der türkischen Strategie. Die syrische Regierungsarmee erstarkte und wendete mit massiver russischer Hilfe das Blatt. Das Bündnis islamistischer Söldner konnte bei all seinem Fanatismus die syrischen Gegenoffensiven nicht mehr halten. Im Winter 2019 rückten syrische Regierungstruppen unaufhaltsam in Idlib vor – das Ende der Terrorhochburg war absehbar.

Um die Kontrolle über die Provinz nicht zu verlieren, vollzog Ankara eine rasante Wende. Tausende reguläre türkische Soldaten rückten nun „offiziell“ in Idlib ein, bauten Dutzende Stützpunkte und zwangen die syrische Regierungsarmee zum Ende der Offensive. Seitdem vollzog sich zwischen den einstigen Verbündeten in Idlib eine rasante Entfremdung.

Nachdem die Türkei ab 2019/2020 ihre Truppen offiziell nach Syrien schickte, wurden die ausländischen Söldnergruppierungen nicht mehr gebraucht. Wurde früher die Frontlinie größtenteils dank ihnen gehalten, standen jetzt Tausende türkische Soldaten mit schwerer Militärtechnik auf syrischem Boden. Die syrische Armee rückte auf Idlib nicht mehr vor - nicht weil sie Angst vor den Islamisten hatte, sondern weil Ankara bis zu 20.000 Soldaten in die Schlacht gegen sie geschickt hätte.

Zudem verhandelten Moskau und Ankara einen festen Waffenstillstand, der bis heute einigermaßen hält und die Einflusszonen nach klaren „Spielregeln“ aufteilt. Mit jedem Tag sank nun der Wert der ausländischen Söldnergruppen auf dem Schlachtfeld. Mehr noch, sie wurden zu einer Gefahr. Das Verhältnis zu der Türkei verschlechterte sich rasant. Die Gruppierungen traten immer öfter gegen Ankara auf und warfen Erdogan vor, sich an Putin „verkauft“ zu haben.

Kämpfe in Idlib

Nun kam es die Tage offensichtlich zum endgültigen Bruch. Mehrere Tage lang lieferten sich pro-türkische und ausländische Gruppierungen in Idlib heftige Gefechte. Ankara lässt dies geschehen, denn es ist in ihrem vollen Interesse, dass die Söldner jetzt beseitigt werden, nachdem sie nicht mehr gebraucht werden.

Ankara führt damit eine völkerrechtswidrige, aber auch in gewisser Weise "logische" Politik. Sie lässt die nun überflüssigen Gruppierungen sich gegenseitig beseitigen und zementiert zugleich ihre eigene Präsenz in Idlib. Reguläre türkische Truppen sichern die Region. Massive Befestigungsanlagen werden entlang der gesamten Trennlinie zu den syrischen Regierungstruppen aufgebaut. Nahezu täglich rücken in Idlib neue türkische Konvois mit Betonblöcken und weiterer Technik ein. Zudem soll in der Provinz schon seit Längerem die türkische Lira eingeführt worden sein. In anderen Worten: Ankara reißt Idlib dauerhaft aus dem syrischen Staatsgebilde heraus, installiert dort ihre direkte Kontrolle und nistet sich „offiziell“ in der Provinz ein. Die vielen einst verbündeten Gruppierungen werden nicht mehr als Proxys gebraucht und werden nach und nach gegeneinander ausgespielt und beseitigt.

Die Revolution frisst stets ihre Kinder. In diesem Fall frisst der Krieg die Gruppierungen auf, die ihn einst mehrheitlich nach Syrien getragen haben.

Damaskus muss sich darauf einstellen, dass Idlib dauerhaft verloren ist. Gegen die Terrorgruppierungen hätte es sich zurückerobern lassen, gegen die Türkei wird dies für die syrische Armee unmöglich sein. Der Westen wird der schleichenden Annexionspolitik ihres NATO-Partners sicherlich auch keine Hürden stellen, solange diese Politik nicht den strategischen Interessen der "westlichen Wertegemeinschaft" widerspricht.

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