Von: Jürgen Kremb, 30. Dezember 2020

Was zeichnet einen herausragenden Politiker oder in diesem Falle eine  Politikerin aus? Beliebtheit? Charisma? Effizienz? Führungsstärke?  Medienpräsens? Visionen? Das Wohlergehen ihres Souveräns zu mehren?  Wahrscheinlich ein Amalgan aus alledem. Und schon deshalb ist es im  Corona-Jahr 2020 nicht einfach, einen Staatenlenker zu finden, der in  dieser leidgeprüften Zeit einen aufsehenerregenden Job gemacht hat.

Ich denke, gäbe es eine Rikscha-Reporter-Goldmedaille für die beste  Politikerin zu verleihen, den herausragenden politischen Kopf Asiens zu  küren, Tsai Ing-wen müsste 2020 die Auszeichnung erhalten. Die 64-Jährige ist die  amtierende Präsidentin Taiwans. Ihr ist es trotzt Krise gelungen, was  ihren Vorgängern bisher versagt blieb. Tsai Ing-wen hat Taiwan im  Bewusstsein von politischen Akteuren, Journalisten und selbst normalen  Zuschauern der globalen Politarena fest auf der Landkarte positioniert.  Man nimmt die Nummer 20 der größten Volkswirtschaften der Welt wieder  wahr. Und zwar als demokratische Nation, von der sich auch in Europa  noch etwas lernen lässt. Beachtlich, denn noch zu Jahresbeginn galt  Taiwan, vielmehr die „Republik China“, wie der offizielle Staatsname der 24-Millionen-Einwohnernation lautet, noch als Pariastaat.

Eigentlich ist Taiwan, die “Ilha Formosa”,  seit dem Ende des chinesischen Bürgerkrieges im Jahr 1949 eine unabhängige Nation. Doch mit etwa der gleichen Logik wie Donald Trump behauptete, die  US-Präsidentschaftswahlen 2020 seien gefälscht, insistiert Chinas  Partei- und Staatschef Xi Jinping, dass Taiwan eine abtrünnige Provinz  der erst 1949 gegründeten kommunistischen „Volksrepublik China“ sei.  Peking besteht auf seiner Ein-China-Politik

“Time for Taiwan”, Tourismuswerbung. Foto: Jürgen Kremb

Und deshalb unterhalten nur noch 14 unbedeutende Zwergstaaten offizielle diplomatische Beziehungen zu der ersten und einzigen Demokratie im chinesischen Kulturraum. Tendenz sinkend.

Chinas Politiker führen international zudem einen kalten Vernichtungskrieg gegen  die kleine Insel. Sie drohen Firmen und Staaten schon mit der  Verbannung vom chinesischen Markt, wenn Taiwan auf deren Karten und  Werbematerialien nicht als Teil Chinas abgebildet ist. Amok laufen die  Pekinger Wolfsdiplomaten geradezu, wenn etwa eine offizielle  Wirtschaftsdelegation, wie die von Tschechien im Frühjahr, Taipei  besucht.

Tsais Wiederwahl schien nach vier Jahren Amtszeit Ende 2019 sehr  fraglich. Unter anderem, weil sie in Taiwan als erstes Land im eher  konservativen Asien die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert hatte.  Doch dann kam Corona und Xi Jinping. Tsai begann ihre zweite Amtszeit im  Januar mit einem Erdrutschsieg. Und seitdem wächst sie über sich  hinaus. Im Auftreten stets ruhig und bescheiden, hat sie schon etwas  Angela Merkel-haftes.

Es gab keinen Lockdown, die Wirtschaft wächst, Fabriken und Schulen blieben geöffnet, Kinos und Restaurants sowieso.

Kein Land machte bei der Bekämpfung des Coronavirus weltweit einen  besseren Job. Die Einreise auf die Insel von der Größe  Baden-Württembergs wird strikt kontrolliert, denn immerhin leben mehr  als eine Million taiwanische Geschäftsleute in China. Dazu sind gut eine  Million Fremdarbeiter aus Südostasien im Land. Eine 14-tägige  Quarantäne bei der Einreise ist Pflicht. Doch bis heute sind nur sieben  Corona-Tote zu beklagen. Lediglich 800 Menschen haben sich bisher mikt  dem Virus infiziert. Es gab keinen Lockdown, die Wirtschaft wächst,  Fabriken und Schulen blieben geöffnet, Kinos und Restaurants sowieso.  Geradezu eine Meisterleistung für das Land mit einer der höchsten  Bevölkerungsdichten weltweit. Und das obwohl der Insel der Zugang zur  Weltgesundheitsorganisation (WHO) und deren Expertise auf Druck Chinas  verwehrt bleibt.

Nebel in Taiwans Hauptstadt Taipei. Foto: Jürgen Kremb

Noch vor einem Jahr wussten viele Europäer, Amerikaner sowieso, nicht  genau, wo Taiwan liegt. „Wie bitte? Thailand oder Taiwan?“ die Frage.  Jetzt wird Taiwan in Talkshows zwischen Wien, Zürich und Hamburg in  einem Atemzug mit den Demokratien Asiens, Japan, Südkorea und Indonesien  genannt.“

Dazu gelang es Tsai, den China-Taiwan-Konflikt zu  internationalisieren. Je mehr Chinas Großer Steuermann Xi Jinping  drohte, er werde Taiwan bald mit militärischer Gewalt heim ins  chinesische Reich holen, desto vehementer verweigern europäische und  asiatische Politiker nun den Kotau vor der kommenden Supermacht China.  Die brutale Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong stärkte  Tsai weiter den Rücken. Jetzt fliehen verfolgte Studenten und  Menschenrechtler aus der chinesischen Sonderverwaltungszone ins  demokratische China auf Taiwan.

Ein Einmarsch des chinesischen Drachen auf dem kleinen Taiwan sei nicht hinnehmbar, heißt es jetzt unumwunden in Brüssel, Berlin, London, Washington, Tokio und Canberra sowieso. Im Kampf David Taiwan gegen Goliath China führt Taiwan in der Halbzeit zumindest nach Punkten.

Tsai Ing-wens markantester Satz in diesem Jahr: “China soll endlich  aufhören, den eigenen Lügen zu glauben.” Das sitzt. Wäre Tsai Ing-wen  ein CEO, sieht hätte 2020 einen Bonus verdient. Und zwar einen recht  fetten.

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