Jubiläum: Wie der römische Dichter war Thomas Mann die Portalfigur am Ende eines Kulturzyklus.
Es gibt zwei Arten von Künstlern. Die Propheten und die Chronisten. Während erstere vor allen anderen Witterung aufnehmen, was die Zukunft an paradiesischen Verheißungen und infernalischen Abgründen bringen werde, und das Publikum an ihren Lippen hängt wie an denen eines delphischen Orakels, blicken letztere vor allem zurück, und versuchen Sinn aus dem zu machen, was die Menschheit vollbracht und verbrochen hat.
Es ist offensichtlich, dass Thomas Mann zur Kategorie der Chronisten zählte. Nicht nur seine im bildungsbürgerlichen Ethos wurzelnde unermüdliche Beschäftigung mit der Kunst und Kultur der Vergangenheit, auch seine tiefe Identifikation mit dieser Kultur, die sich allmählich zu einem Gefühl des Repräsentantentums emporwuchs, deuten unverkennbar in diese Richtung.
In zahlreichen Publikationen zum Jubiläum wurden vor allem zeitgeistige Zensuren verteilt, mit dem allgemeinen Befund, dass Thomas Mann als liberaler Demokrat gerade noch die Versetzung erreicht hat, ähnlich wie er als miserabler Schüler nur mit Ach und Krach das Abitur bestanden hatte. Bereits Golo Mann hatte immer wieder mitgeteilt, dass sein Vater politisch eigentlich naiv und leicht beeinflussbar war, im Gegensatz zu seinem Bruder Heinrich, der viele der deutschen Verhängnisse klar vorausgesehen hatte.
Doch scheinen viele nicht recht zu verstehen, dass Thomas Mann nicht trotz dieser zahlreichen Irrtümer und Zögerlichkeiten zur repräsentativen Künstlerfigur seiner Zeit aufstieg, sondern umgekehrt eben deswegen, weil er diese schmerzhaften Transformationsprozesse selber durchgemacht hatte. Und jene eigenen Leidenserfahrungen dieser Höllenstürze die Quelle bildeten, aus denen er seine Chronistenweisheit schöpfte.
Das verbindet ihn auch mit der anderen deutschen Repräsentationsfigur Johann Wolfgang von Goethe. Auch Goethe hatte sich mit seiner feudalen Anstellung in Weimar zunächst der Welt von gestern verschrieben wie Thomas Mann dem Wilhelmismus, und sich erst unter vielen Qualen und großem Widerstreben den neuen Paradigmen der französischen Revolution und bürgerlichen Romantik angenähert.
In einem noch größeren Kontext verweist dieses Element der Transformation auf die zentrale Dynamik der christlich abendländischen Kultur, die mit Dante Alighieri ihren Anfang nahm (der wie Thomas Mann aus seiner Heimat vertrieben worden war). Jener christliche Mythos, aus der großen Krise, der existentiellen Erfahrung der totalen Verlorenheit im Symbol des Kreuzes eine Chance des Neubeginns unter neuen Vorzeichen zu erlangen, hat die Erzählungen der europäischen Geschichte zwischen Dante und Dostojewski tief geprägt. Was auch das zentrale Thema von Thomas Manns opus summum „Joseph und seine Brüder“ ist.
Chronist der deutschen Epoche
Dass Thomas Mann zur deutschen Identifikationsfigur aufstieg, lag gewiss nicht zuletzt darin begründet, dass sein Leben ziemlich genau mit jener Epoche zusammenfiel, die Deutschlands Höhepunkt an Macht und Bedeutung in der europäischen Geschichte markierte. Er wurde geboren kurz nachdem das Deutsche Reich 1871 nach dem Sieg über Frankreich gegründet worden war, und im Begriff war zur Weltmacht aufzusteigen. Und ist gestorben nachdem es nach zwei katastrophalen Weltkriegen 1945 wieder zu Grunde gegangen war.
Die Serie seiner zeitgenössischen Romane von den „Buddenbrooks“ über „Königliche Hoheit“ und „Zauberberg“ bis zum „Doktor Faustus“ schreiten denn auch die Stationen dieser deutschen Geschichte ab, sind rekapitulierende Chroniken dieser Epoche. Und immer gleichzeitig auch autobiographische Selbstreflektionen ihres Autors, der von eben jenen geschichtlichen Ereignissen berauscht, überwältigt und niedergeworfen wird.
Die „Buddenbrooks“ sind der Roman der deutschen weltmännischen Selbstwerdung. Waren die Romane Theodor Fontanes oder Adalbert Stifters noch ganz in der Lokalität eines romantischen deutschen Heimatverständnisses verwurzelt, war Lübeck als Hafen und Handelsstadt im späten 19. Jahrhundert eben jenes Tor, das die Fühler mit wachsendem Selbstbewusstsein in die Welt ausstreckte. Die Protagonisten des Romans bewegen sich denn auch zwischen den atmosphärischen Sphären des angloamerikanischen „gilded age“, der französischen „belle époque“, des russischen Moralismus Tolstois, des (ins Bayerische hochschwappende) italienischen Kraftmenschentum D'Annunzios und einer überständigen deutschen romantischen Innerlichkeit.
„Königliche Hoheit“ zeigt Deutschland im Zenit, der gleichzeitig auch der gesellschaftliche Zenit seines Autors war, der nach dem Erfolg der „Buddenbrooks“ und der Heirat mit Katia Pringsheim in die deutsche Kulturelite aufgestiegen war. Dass dieser Roman der am wenigsten wahrgenommene Roman Thomas Manns ist, liegt gewiss daran, dass man sich „post festum“ für jene nationalistische Selbsttrunkenheit genierte, die den Weg zum großen Krieg bereitet hatte. Doch ist es darüber hinaus eine generelle Beobachtung, dass das Angekommensein, im Gegensatz zu Aufstieg und Fall, schon immer ästhetisch am wenigsten attraktiv ist. Das war schon bei Dantes „Paradiso“ so und auch „Joseph der Ernährer“ ist aus der Tetralogie aus ganz ähnlichen Gründen der Teil, der es am schwersten hat, Leser für sich zu gewinnen.
Der „Zauberberg“ ist der Roman der deutschen Dekadenz. War der Verfall der Buddenbrooks noch halb Pose, der an die französische „décadence“ gemahnte, kommen hier die spezifischen deutschen Kulturmerkmale zum Tragen. Allem voran ein Zug zur Selbstpathologisierung, dessen historische Gallionsfigur Siegmund Freud war. In einem Gefühl, dass man den hochgesteckten Zielen der Selbstverbesserung des deutschen Idealismus nicht mehr gerecht werden könne, diagnostiziert man die eigene Schwäche als Krankheit. Als neurasthenische Befallenheit, die man auskurieren, oder durch die Rezepte der zahlreichen anthroposophischen Bewegungen der Zeit purgieren müsse. (NB: auch in der aktuellen MAGA Bewegung kann man dieses Dekadenz Phänomen einer in die Pervertierung gesteigerten Form des „American dream“ beobachten.).
Gleichzeitig war der erste Weltkrieg Thomas Manns erster „Höllensturz“, der mit der deutschen Niederlage nicht nur sein Weltbild auf den Kopf gestellt hatte. Auch das Chaos, das der Krieg hinterließ, hat Thomas Manns Bedürfnis nach Ordnung und Halt tief erschüttert. Daher wächst der „Zauberberg“ dann auch über die Dimension des reinen Gesellschaftsroman hinaus, was die beiden Vorgänger noch waren, und gewinnt vor allem durch die beiden Figuren Lodovico Settembrini und Leo Naphta (deren Namen auf Giambattista Vico und Leo Tolstoi, und damit auf die historischen europäischen Pole der geistig moralischen Selbstverortung verweisen, in dessen Mitte der deutsche Idealismus stand) eine episch allegorische Dimension, die sich in den folgenden Romanen immer mehr verstärken wird.
„Doktor Faustus“ (nach den Joseph Romanen und „Lotte in Weimar“ entstanden) bildet den Schlussstein der deutschen Chronik, worüber sich Thomas Mann bereits bei der Niederschrift, die bis in den 2. Weltkrieg reichte, vollkommen bewusst war, indem er ihn als seinen „Parsifal“ (der letzten Oper Richard Wagners) bezeichnete. Vollkommen konsequent geht er darin, in seinem ihm zugewachsenen Selbstverständnis als Epiker, denn auch zum Anbeginn der deutschen Kultur in der Epoche der Reformation mit Martin Luther und Doktor Faust zurück. Ein letztes Mal verknüpft er darin seine eigenen privaten Leidenserfahrungen mit den epochalen Kulturerfahrungen Deutschlands, das in einer katastrophalen negativen Apotheose zu Grunde ging, eben als er den Roman beendete.
Leiden und Größe
„Wahrhaftig, ich war nicht groß. Aber eine gewisse kindliche Intimität meines Verhaltens zur Größe brachte in mein Werk ein Lächeln der Allusion auf sie, das Wissende, Gütige, Amüsable heute und später erfreuen mag."
Diese Tagebuch Eintragung Thomas Manns vom 19. Juni 1954 war nur ein klein wenig kokett. Denn kaum jemand hatte ein klareres Bewusstsein davon, was „Größe“ in jenem künstlerisch überlebensgroßen und menschheitsprägenden Sinn bedeutet. „Groß“ waren für Thomas Mann vor allem Goethe, Tolstoi und Richard Wagner, denen er nicht nur eine Reihe von umfangreichen Essays widmete, sondern die auch jene Fixsterne bildeten, an denen er seine eigene Produktion ausrichtete.
Wenn in den Joseph-Romanen nach dem Vorspiel der „Höllenfahrt“, das den entsprechenden metaphysisch ausholenden Vorspielen aus Dantes „Commedia“, Goethes „Faust“ und Wagners „Ring des Nibelungen“ nachgebildet ist, Joseph auftreten lässt wie er nachts nackt liegend den Mond grüßt, verweist er auf jene eigene Künstlerphysiognomie der „Mondhaftigkeit“, die nicht in der sonnenhaften vitalistisch ausstrahlenden Größe besteht, sondern eben in diesem schattenhaft ironischen Modus der Reflektion und Allusion.
Darin berührt sich Thomas Mann auch mit dem römischen Dichter Vergil, der in seiner „Aeneis“ ganz ähnlich die Epen Homers und die daran anknüpfende Kultur um die antike Götter-Mythologie summarisch rekapituliert und in einer historisch transformierten Weise reflektiert. Nichts Geringeres tut Thomas Mann in seiner Joseph Tetralogie, indem er anhand der Bibel, dem Gründungs-Epos der christlichen Kultur, und in Bezugnahme auf die großen Erzählungen der abendländischen Kultur, ein Epos des Abendlandes entwirft.
Joseph und seine Brüder
Die erneute Lektüre der Joseph-Romane in Vorbereitung zum diesjährigen Jubiläum war eine der merkwürdigsten Leseerfahrungen meines Lebens. Hatte ich die Romane damals bei meiner ersten Lektüre als Student zwar durchaus genossen, sie aber, wie wohl viele, eher als ein ironisch spielerisches Experiment mit epischen und mythischen Elementen betrachtet, offenbarte sich dieses Werk, in Kenntnis der Epen Homers, Vergils, Ovids und vieler Erzählungen der abendländischen Kultur, in gänzlich neuem Kleide.
Gerade dem ironischen Tonfall wächst, wenn man diesem Fluidum der epischen überzeitlichen Dimensionen, mit denen auf die Welt und den Kosmos geblickt wird, gewahr wird, die Qualität einer distanzierten Abgeklärtheit zu, die einen völlig einzigartigen Reiz hat. Und auch in diesem Zusammenhang besteht einen bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Vergil, der auch in einem Modus stoischer Distanz und untergründig stiller Wachsamkeit operiert.
„Joseph und seine Brüder“ war schon immer mehr eine Sache der Gelehrten als des Publikums gewesen. Ihnen geht von Natur aus das ab, was bei den Zeitromanen zwischen „Buddenbrooks“ und „Doktor Faustus“ ein wesentlicher Faktor ihrer Attraktivität ist. Das zeitgeistige und atmosphärische Element, das die nostalgischen Sentiments der Leserschaft aktiviert.
Was jedoch das Epos auszeichnet, ist die Dimension des abstrakten Erzählens, das, der realistischen Konkretheit entkleidet, umgekehrt den Vorzug hat, dass man sich durch den Mantel des Allegorischen viel tiefer in die Bereiche des Intimen und Unaussprechlichen vorwagen kann. Schon Goethe war sich dessen bewusst, dessen zweiter Teil des „Faust“ viel abstrakter und allegorischer ist als der erste, und eben dadurch einerseits viel epischer und ausgreifender, doch auch viel radikaler in seiner mephistophelisch grausamen Kritik aller menschlichen Schwächen und Abgründe.
Auch Richard Wagner sagte die Wahrheit als er bemerkte, dass er in seinem „Ring des Nibelungen“ sein Innerstes preisgegeben habe. Die Möglichkeit in mythischen Konstellationen seine Lebens- und Leidenserfahrungen auf viele verschiedene Protagonisten zu projizieren, eröffnet Potentiale der Differenzierung und Exemplifizierung, die dem realistischen Erzählen nicht in gleichem Maße gegeben sind.
In den Joseph-Romanen geht es denn auch um nichts weniger als um Alles. Die zentrale Prämisse, dass die Erfahrung des menschlichen Daseins eigentlich gänzlich aus Imitation und Erinnerung besteht, und in dieser Erinnerung permanent individuelle Erfahrung und historische und kulturelle Prägungen interferieren und ineinander verschwimmen, ist der Ausgangspunkt von Thomas Manns epischem Projekt, das eigene Schicksal als mythisch und exemplarisch zu begreifen.
Denn natürlich sind die Figuren des Jakob und Joseph zuallererst Projektionen von Thomas Manns eigener Lebenserfahrung. Angefangen mit dem Gefühl von schicksalhafter Erwählung, den Bruderkonflikten des Zweitgeborenen, den Erfahrungen von Ehe und Familie, den Liebeserfahrungen, die neben der Figur der vergeblich liebenden Mut-em-enet auch in zahlreichen weiteren Figuren und Konstellation allegorisch camoufliert doch durchaus psychologisch differenziert Ausdruck gefunden haben.
Vor allem in der Figur des Joseph gibt Thomas Mann viel von sich Preis. Den kindischen Narzissmus, die Natur des Träumers, das Gefühl des Außenseitertums, das gleichzeitig mit einem Gefühl der Erwähltheit korrespondiert. Doch auch jemand, der durchaus taktisch klug und kühl seine Karriere plant und die Schwächen seiner Mitmenschen kalkulierend zu nutzen weiß. Der trotzdem immer wieder von Schwärmereien hingerissen wird und bitter für seine Kopflosigkeit bezahlen muss.
Zentral sind jedoch allem voran jene Erfahrungen der wiederholten Höllenstürze, aus denen er mit Blessuren geläutert hervorgeht. Denn eben darin liegt auch eine überhistorische und kosmische Welterfahrung des permanenten Wandels. Und so sind auch die aktuellen Lobpreisungen in den Jubiläumsartikeln von Thomas Mann als geläuterten Demokraten als Kronzeugen für den Erhalt des Status quo eigentlich ein Missverständnis. Der späte weltweise Chronist Thomas Mann wusste wie kaum jemand anders, dass die Welt nie so bleibt wie sie ist sondern im beständigem Wandel ist.
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