TikTok wird vor allem von jungen Menschen genutzt. Mir war gar nicht so genau klar, was das eigentlich ist, da es mich bisher einfach nicht interessiert hat. Am Wochenende wurde mir das nun mal von meinen Nichten und meinem Neffen (13 bis 22 Jahre alt) näher erläutert – und nun verstehe ich einige andere Aussagen von jungen Menschen deutlich besser.

Kurz zusammengefasst für diejenigen, die ebenfalls keine TikTok-User sind: Das ist ein soziales Netzwerk, in dem man Videos anschauen kann, die allerdings nicht länger als eine Minute sind, oft sogar nur ein paar Sekunden. Und der Algorithmus, der dann weitere Videos empfiehlt, scheint sehr gut zu sein, denn in der Regel werden einem dann schon nach einer halben Stunde Gebrauch Sachen vorgeschlagen, die genau das sind, was man sehen möchte.

Was natürlich schon einen ziemlichen Suchteffekt entwickeln kann – zumal ja „nur noch ein Video“ (und dann noch ein und noch eins) zeitlich nicht so kritisch ist, da die Dinger eben sehr kurz sind.

So erklärt sich dann auch, dass unsere Nichte von einer Schulkameradin berichtete, die in den Ferien etwa zwölf Stunden Onlinezeit pro Tag hat, von denen sie neun bei TikTok verbringt (während der Schulzeit ist das natürlich etwas weniger). Das ist schon mal eine gewaltige Hausnummer, finde ich, zumal als jemand, der in diesem Alter in der Woche kaum auf zwölf Stunden Fernsehen gekommen ist – einfach weil es damals gar nicht so viel Interessantes für Kinder und Jugendliche gab.

Unsere Nichte meinte dann allerdings auch, dass sie mittlerweile nicht mehr bei TikTok sei, da sie gemerkt hat, dass sie kaum noch aufmerksam Videos auf YouTube anschauen kann, die ein bisschen länger als eine Minute sind. Und das bestätigt dann auch, was ich mir schon gleich bei der Schilderung der Funktionsweise von TikTok gedacht habe: Das ruiniert doch mit Sicherheit die Aufmerksamkeitsspanne der User.

Dazu passen dann auch ein paar Sachen, die ich in den Wochen zuvor gehört habe. So meinten zwei Freunde von uns, beide Anfang 20, nach einem Spieleabend, dass sie es cool finden, so was mit uns „Älteren“ zu machen, da das mit gleichaltrigen Freunden von ihnen nicht funktionieren würde. Auch die Aussage vom 20-jährigen Sohn einer Freundin bestätigt dies Phänomen: Er meinte, dass er mit Freunden in seinem Alter keine Filme schauen könnte, da nach zehn Minuten sowieso alle in ihre Smartphones glotzen würden.

Eine Schauspielerin vom Stadttheater hier am Ort schilderte mir kürzlich, als wir uns mit unseren Hunden auf der Straße begegneten, dass bei einer Schüleraufführung von „Romeo und Julia“ so ein Lärm im Publikum gewesen wäre, dass die Darsteller von der Bühne die Jugendlichen darauf hinweisen mussten, dass sie sie auf der Bühne sehr gut hören konnten.

Und auch bei Konzerten scheint es vor allem bei jüngeren Menschen mittlerweile weit verbreitet zu sein, sich nicht dem Geschehen auf der Bühne zu widmen, sondern lieber um seinen eigenen Kram in seinem Smartphone zu kreisen, wie Tatum Van Dam in einem Artikel auf VICE schildert. Darin macht sie TikTok dann auch noch für einige andere unangenehme Manieren, die sie bei Konzerten immer häufiger beobachtet, verantwortlich, nämlich beispielsweise, dass es vielen Besuchern offensichtlich nur noch darum geht, sich mit seltsamem Verhalten in Form von Challenges dort zu präsentieren.

Dass Bildschirme nicht besonders gut für die kindliche Entwicklung sind, haben Fachleute wie der Hirnforscher Manfred Spitzer ja schon vor etlichen Jahren festgestellt (s. dazu dieses Interview von 2005), ganz aktuell wurden diese Aussagen nun von einer Langzeitstudie von Neurowissenschaftlern aus Singapur belegt. Ich zitiere dazu mal einen Artikel auf Deutschlandfunk Nova, der über diese Studie berichtet:

In den EEG habe sich gezeigt, dass die Hirnströme sich durch viel Bildschirmzeit verändert haben. So gebe es mehr langsamere Wellen, die laut der Forschenden für eine schlechtere Aufmerksamkeitskontrolle oder eben Konzentrationsfähigkeit verantwortlich sein können. Die Kinder können dann Aufgaben weniger gut priorisieren, sich nicht so gut oder lange fokussieren, schweifen leichter ab oder verlieren schneller das Interesse an mehrstufigen Aufgaben, erklärt Henning Beck. „Das setzt sich dann bis ins spätere Leben fort, also bis zum Alter von neun Jahren“, so der Neurowissenschaftler.

In der Regel sei die Entwicklung bei Kindern so, dass sie sich mit zunehmendem Alter besser oder länger auf Aufgaben konzentrieren können. Daraus leitet sich auch die Schulfähigkeit ab dem sechsten oder siebten Lebensjahr ab. „Diese kognitiven Kontrollfunktionen werden eigentlich immer besser mit der Zeit“, sagt Henning Beck. Aus seiner Sicht ist das Erschreckende an der Studie, dass genau diese Fähigkeit durch Technik oder Smartphone-Nutzung gestört wird.

Wenn man nun hierbei nicht nur von einer generellen Smartphone-Nutzung ausgeht, sondern von extrem kurztaktigen Videoschnipseln auf TikTok, dann könnte ich mir vorstellen, dass sich dieser Effekt noch mal verschärft.

Die von mir genannten Beispiele sind natürlich relativ harmlos, denn wenn jemand keine Spiele spiele oder Filme bzw. Theaterstücke mehr anschauen kann, dann ist das für denjenigen vielleicht bedauerlich, aber gesamtgesellschaftlich gesehen nicht unbedingt dramatisch. Allerdings hört es damit ja nicht auf, denn man kann wohl davon ausgehen, dass derart auf Kurzzeitaufmerksamkeit konditionierte Menschen auch nicht in der Lage sind, sich generell mit komplexeren Themen zu beschäftigen, die eben eine längere Aufmerksamkeitsspanne erfordern. Und viele relevante Themen sind nun mal nicht innerhalb von einer Minute adäquat abzuhandeln.

Sich nicht mit zeitintensiveren Texten oder auch Videos auseinandersetzen zu können, begünstigt meines Erachtens die Anfälligkeit für demagogische Parolen, die sich ja vor allem dadurch auszeichnen, dass sie verkürzend und simplifizierend sind, um auf die schnelle Stimmung zu machen und nicht nur schnell gemerkt, sondern auch wiederholt werden können. Für die BILD-Schlagzeile reicht es dann gerade noch, aber differenzierendere Artikel, Essays oder gar Bücher zu einem Thema können nicht mehr erfasst werden.

Eine funktionierende Demokratie braucht mündige Bürger, die in der Lage sind, sich zu informieren, um entsprechend ihre demokratische Teilhabe auszuüben. Wenn diese Fähigkeit unterminiert wird, wird die Axt direkt am Fundament der Demokratie angelegt. Und wenn das durch ein vermeintlich harmloses und triviales Portal wie TikTok massiv forciert wird, dann finde ich das ausgesprochen bedenklich.

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