Der US-Abzug aus Afghanistan schreitet zügig voran. Schon in den nächsten Monaten werden alle US-Soldaten das Land verlassen haben. Die Taliban werden alles daran setzen, das Machtvakuum zu füllen. Doch zunehmend liebäugelt auch eine andere Macht mit der Idee – die Türkei.
Die Frage, wie Afghanistan nach dem vollständigen US-Abzug aussehen wird, beschäftigt Konfliktbeobachter rund um die Welt. Angesichts des rasanten Vorrückens der Taliban ist das naheliegende Szenario, dass die afghanische Zentralregierung in Kabul auf Dauer kaum Überlebenschancen hat. Bestenfalls wird sie sich in der Hauptstadt verbarrikadieren und von dort die legitime Regierung spielen, wenngleich sie im Rest des Landes keinerlei Einfluss haben wird. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie eher früh als spät fallen wird. Die Taliban würden die Macht in ganz Afghanistan (wieder) an sich reißen und somit praktisch den Status quo von 2001 vor der US-Invasion wiederherstellen.
Doch nun deutet sich zunehmend an, dass auch die Türkei damit liebäugelt, in das afghanische Machtvakuum vorzustoßen und dadurch ihre Positionen in der gesamten Region weiter zu festigen.
Während die NATO Afghanistan fast schon fluchtartig verlässt, belässt Ankara sein Truppenkontingent in dem Land. Es heißt, die Türkei habe von Washington grünes Licht dafür bekommen, den Internationalen Flughafen von Kabul auch nach dem offiziellen NATO-Abzug zu sichern.
Welche Trümpfe Ankara in der Hand hat
Türkische Truppen sollen also bleiben, um den Internationalen Flughafen von Kabul zu sichern. In dem Gebirgsland ist der Flughafen von Kabul praktisch die einzige Möglichkeit für eine reguläre Flugverbindung zu der „weiten Welt“. Nun könnte Ankara versuchen, dieses Ass auszuspielen, um seine Positionen in dem Land auszuweiten. Dies dürfte durchaus im Sinne der USA sein, die eine Stärkung Russlands und Chinas in der Region vermeiden wollen. Ein türkisches Erstarken in Afghanistan könnte das Vakuum also zumindest teilweise füllen und ein Anwachsen des chinesischen Einfluss verhindern. Die Interessen der Türkei und der USA würden in dieser Frage also zusammenfallen bzw. kompatibel sein, was in den letzten Jahren längst keine Selbstverständlichkeit mehr ist.
Ein weiterer Vorteil für Ankara ergibt sich aus den guten Beziehungen zu Pakistan. In den letzten Jahren haben sich Ankara und Islamabad in vielen Fragen deutlich angenähert. Insbesondere der Waffenhandel zwischen den beiden Staaten floriert. Zuletzt sicherte sich Islamabad die neuen türkischen Angriffsdrohnen Bayraktar-Tb2 zu. Mit Islamabad als Verbündeten hätte die Türkei gute Chancen, die Südgrenze des Landes – seit jeher das schwierigste Terrain und ein Rückzugsgebiet der Taliban – zu sichern.
Nicht zuletzt leben auf dem Territorium Afghanistans auch einige Türk-Völker, zu denen Ankara sicherlich schnell einen kurzen Draht finden wird. Generell reiht sich die mögliche türkische Präsenz in Afghanistan durchaus in die neu-osmanischen Ambitionen der Erdogan-Regierung. Ankara strebt an, im ehemaligen Einflussgebiet des Osmanischen Reiches das alte Gewicht wiederzuerlangen – Zentralasien gehört auf jeden Fall dazu. Eine dauerhafte türkische Präsenz in Afghanistan wäre ein Schritt, auch in Zentralasien Fuß zu fassen und sich dauerhaft in der Region niederzulassen.
Was gegen einen türkischen Verbleib in Afghanistan spricht
Einfach wird das trotzdem nicht. Zum einen ist es absolut unklar, wie die Taliban auf einen türkischen Verbleib reagieren würden. Es heißt, Verhandlungen zwischen türkischen und Taliban-Vertretern seien bereits gestartet worden. Wie erfolgreich diese waren, ist aber bislang absolut unklar und wird je nach Quelle unterschiedlich dargestellt. In manchen Quellen heißt es, dass die Taliban und die Türken durchaus auf einen Kompromiss zudriften. Demnach würden die Taliban ihr Einverständnis dafür geben, dass türkische Soldaten weiterhin den Internationalen Flughafen von Kabul sichern. Dies wäre in der Tat der erste „Fuß in der Tür“, mit dem Ankara einerseits in Afghanistan offiziell verbleiben und andererseits sich auch mit den Taliban gut stellen könnte.
Laut anderen Quellen ist solch ein Kompromiss aber in weiter Ferne. Die Taliban hätten den Abzug ausnahmslos aller ausländischen Truppen, auch der türkischen, im Laufe der nächsten Monate gefordert. Es ist unwahrscheinlich, dass Ankara sich großangelegte Kämpfe gegen die Taliban leisten kann. In diesem Fall werden auch türkische Truppen früher oder später abziehen und den Flughafen von Kabul freimachen müssen.
Und zuletzt ist es sicherlich auch eine Frage der türkischen Wirtschaftskraft. Diese ist in den letzten Jahren stark gebeutelt worden – Corona, rasant steigende Inflation, Währungsturbulenzen und teure Auslandseinsätze in Libyen, Syrien und dem Irak sind eine signifikante Belastung. Ob die türkische Wirtschaft auch noch eine potentielle dauerhafte Stationierung in Afghanistan tragen kann, darf durchaus angezweifelt werden.
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