Das Problem an einer provokanten Idee ist ist ja nicht, dass sie provokant ist. Geht in Ordnung. Kann einen weiterbringen. Ich kriege es zum Beispiel nicht hin, mich über Gendern wirklich zu empören. Ich finde es legitim und auch spannend, sich Gedanken zu machen, wie sich verändernde gesellschaftliche Verhältnisse sich auch in der Sprache widerspiegeln könnten. Meine Probleme sind eher der autoritäre Gestus, in dem da gern mal top-down was verfügt wird. Und sie sind ästhetischer Natur: Gendern macht die Sprache für meinen Geschmack in unangenehm bürokratischer Weise ungelenk. So wie früher das "Herr/Frau/Fräulein" auf Formularen. (Das "Fräulein" ist übrigens längst weggegendert, ohne dass deswegen die Welt untergegangen wäre.)

Die unter Sprachbewahrern verbreitete Illusion, Sprache sei etwas Urwüchsiges, gegen irgendwelche bösen Einflüsse Schützenswertes, hat mindestens drei Webfehler: Erstens war Sprache schon immer verschiedensten Einflüssen von außen, d.h. aus anderen Sprachen, ausgesetzt. Zweitens gibt es zahlreiche Beispiele für 'verordneten' Sprachgebrauch, der sehr gut funktioniert hat. Und drittens bleiben Puristen gern die Antwort auf die Frage schuldig, welchen seligen Idealzustand sie eigentlich genau bewahren wollen.

Das ändert aber nichts daran, dass es einigermaßen problematisch ist, beispielsweise an Universitäten gendersensible Sprache vorschreiben zu wollen, und welchen, die in ihren Seminar- und Abschlussarbeiten nicht gendern, Punkte abzuziehen. Umgekehrt wäre es korrekt, für das Verwenden 'gendersensibler' Formen, wobei es sich streng genommen um einen Verstoß gegen geltende Rechtschreibregeln handelt, keine Punkte abzuziehen.

An Unis und Schulen sowie in Verwaltungen gilt, wie an anderen öffentlichen Einrichtungen, die jeweilige Amtssprache. Und das ist hierzulande nun einmal die deutsche. Nach dem vom Rat für deutsche Rechtschreibung abgesegneten Regelwerk (der Rat für deutsche Rechtschreibung ist übrigens nicht zu verwechseln mit der honorigen Gesellschaft für deutsche Sprache und erst recht nicht mit dem notorischen Verein für deutsche Sprache). Das kann man voll unwoke und nazi finden, ist aber in vielen Ländern so. Darüber hinaus ist es möglich, etwa bei internationalen Projekten, sich zum Beispiel auf Englisch als Verkehrssprache zu einigen. Oder sich vorher mit der/dem/den Betreuer/inn/en z.B. auf qualifizierte Kleinschreibung zu verständigen.

Die Postion des Rechtschreibrates kann man hier nachlesen. Man beobachtet das mit dem Gendern aufmerksam und durchaus wohlwollend, sieht aber momentan noch zu vieles im Fluss, um sich auf verbindliche Regeln festzulegen. Auch der Duden ist nicht mehr maßgeblich, sondern seit 1997 bloß ein privatwirtschaftliches Unternehmen, das Wörterbücher mit im deutschsprachigen Raum berühmtem Namen verlegt. Eine Mitteilung wie die, dass der Duden nunmehr gegenderte Formen enthielte, hat also ungefähr die Relevanz der Meldung, in Posemuckel sei ein Sack Sägemehl geplatzt. Für Bewohner von Posemuckel, pardon, für Posemuckel Bewohnende, vielleicht ganz interessant, aber sonst eher geht so.

Was tun? Durch Gebrauch des Partizip I Funktion und Tätigkeit zu vermischen, um die Genderklippe zu umschiffen, ist jedenfalls keine gute Idee. Student:innen (Funktion) sind eben nicht 365/7/24 Studierende (Tätigkeit). Das sind sie vielleicht, wenn sie im Hörsaal als solche angesprochen werden oder in der Bibliothek sitzen, das sind sie vielleicht öfter als andere, weil so ein Unidasein auch eine Art Lebensform ist. Aber eine liebe Kollegin von mir, die gelernte Malerin und Lackiererin ist (Funktion), aber nicht mehr als solche arbeitet, wäre befremdet, wenn man sie als 'Malenden und Lackierende' (Tätigkeit) bezeichnete, obwohl sie gerade weder das eine noch das andere tut.

Auch das mit dem generischen Maskulinum ist nicht so unproblematisch wie es scheint. Es ist inzwischen allgemeiner Konsens, dass es zumindest unhöflich ist, die weibliche Form nicht zu erwähnen, Frauen also automatisch 'mitzumeinen', wie das bis in die Achtziger üblich war. Dass das inzwischen anders ist und niemand sich einen Zacken aus der Krone bricht deswegen, ist das Ergebnis eines Prozesses, den man heute 'gendern' nennen würde. Andere Fälle sind nicht so eindeutig. Der Begriff 'Arbeitskraft' ist grammatisch feminin, denn es heißt 'die Arbeitskraft'. Fühlen sich demnach nur Frauen angesprochen, wenn eine Firma inseriert: "Wir suchen Arbeitskräfte!"?

Ich kann nicht beurteilen, inwieweit Sprache bzw. ein bestimmter Sprachgebrauch wirklich das Bewusstsein beeinflusst oder ob das magisches Denken ist (ich tendiere zu letzterem). Was ich weiß, ist, dass es Sprachen gibt, in denen es sich mit den grammatischen Genera z.T. komplett anders verhält. Etwa im Englischen, wo das meiste irgendwie Neutrum ist, oder im Französischen, wo vieles anders ist als im Deutschen (immer wieder ein großer Spaß, Frankophonen zu erklären, dass 'Mädchen' im Deutschen ein Neutrum ist). Wenn Sprache also unser Bewusstsein formt, dann müsste das doch irgendetwas damit machen, wie Frauen in diesen Sprachräumen wahrgenommen werden, oder? Gibt es da Studien drüber? Wenn ja, fände ich das schon interessant.


Dann ist da das Konzept der 'kulturellen Aneignung'. Nähme ich das wirklich ernst, wäre ich mir also nicht nur meiner Existenz als Alter Weißer Cis*gender-Mann, sondern auch meiner Vergangenheit als Abkömmling europäischen Imperialismus' stets bewusst, dann dürfte ich als kulturell sensibler Mitteleuropäer nichts mehr essen außer Brot und ein paar wenigen einheimischen Gemüse- und Obstsorten (Fleisch, Milchprodukte und alles Tierische wäre eh tabu, wegen Tierleid und Ausbeutung).

Übertrieben? Kartoffeln zum Beispiel wären ganz klar verboten. Die wurden einst von indigenen Völkern in Südamerika kultiviert, die ihrerseits von europäischen Conquistadores brutal kolonisiert wurden. Also keine Pommes zum Veggieburger. Veggieburger? Moment mal, sind Soja und Seitan überhaupt von hier? Schade. Süßkartoffeln, auch Bataten genannt? Bedaure, Kolonialwaren. Nudeln? Von Chinesen erfunden, von brutalen europäischen Unterdrückern importiert und somit totenverboten. Also auch keine Pasta. Tomaten? Nope. Paprika? Verboten.

Ja wie, das ist jetzt aber ein bisschen kleinlich und das könne man jetzt nicht so sagen? Ich bin nur konsequent. Wenn schon, denn schon.

Reis ist ein traditionelles Grundnahrungsmittel im von Europäern übelst kolonisierten Ostasien, also tabu. Und komme mir niemand mit dem traditionellen Reisanbau in Norditalien, weswegen Risotto safe sei. In der Poebene wurde Reis nach einer verheerenden Pestepidemie im 14. Jahrhundert aus Asien eingeführt. Also lieber Gerstengraupen. Haferbrei? Hafer stammt aus dem vorderen Orient, unwoker Barbar. Bier gönge. Wenn keine Hausenblase oder Gelantine zum Klären verwendet wurde (wegen vegan), ebenso Wein. Mit irgendwas muss man sich das kulinarische Elend ja schönsaufen. Kaffee? Tee? In your dreams! Eichel-, Zichorien- oder Malzkaffee sind erlaubt (wobei ich mir bei Zichorie nicht sicher bin), ebenso Kräutertees. Kakao? Möööp! Und erst recht nicht mit Soja- oder Mandelmilch.

Auch Kleidung ist natürlich ein Problem. Außer hiesigem Leinen und Kunstfasern (wo kommt noch gleich das Erdöl für deren Produktion her?), wird die Wahl eng. In jeden Fetzen Baumwolle ist das millionenfache Leid der geknechteten Sklaven auf den Plantagen des amerikanischen Südens eingewoben. Dürfte eigentlich kein kultursensibler Privilegierter tragen können, ohne auf der Stelle nässenden Ausschlag und/oder Haarausfall zu kriegen. Wolle? Geht der Witz auch in Farbe? Schafe gegen deren Willen einpferchen und scheren? Was machen Sie als nächstes? Das Blut von Neugeborenen süffeln?


Richtig unangenehm kann es werden, wenn die Welt der Kunst und der Kultur von Reinemachkommandos durchgekärchert wird. Wegen der fiesen Tradition, die das hat. Wenn Fridays For Future-Kiddies eine Musikerin wegen ihrer Dreadlocks wieder ausladen, weil das kulturelle Aneignung sei, bedeutet das nicht, einen Menschen auf sein Äußeres zu reduzieren? Wo ist da, außer der eigenen, als 'gut' oder 'richtig' imaginierten Einstellung, noch der große, prinzipielle Unterschied zu Onkel Erwin, der damals alle Langhaarigen zum Frisör, bei Weigerung zwangsscheren und ansonsten ins Arbeitslager schicken wollte?

Sicher gibt es Fälle, da habe auch ich keine klare Antwort. Lisa Eckart ist so ein Grenzfall für mich, weil ich bei ihr  Probleme habe, Bühnenfigur und reale Haltung auseinanderzuhalten und gerade diese indifferente Irrlichterei auch als Einladung an Antisemiten verstehe. Was selbstverständlich an mir liegen kann. Fürs Protokoll: So etwas halte ich für ein gutes Zeichen. Weil Kunst Fragen stellt, anstatt Antworten zu liefern. Mit Michel Houellebecq habe ich diese Probleme übrigens nicht. Da ist völlig klar, dass zwischen Autoren-Ich und literarischem Ich, ein Unterschied besteht, es also ein Anfängerfehler wäre, das beides gleichzusetzen und ihn wegen seiner Figuren zum rechten Reaktionär zu stempeln.

Keinerlei offensichtlichen Nutzen sehe ich darin, russische Stars wie Anna Netrebko und Waleri Gergijew die Engagements zu kündigen. Das ist allenfalls ein Geschenk an einen wie Putin, weiter an seiner Opferlitanei zu stricken. Alle Welt ist gegen uns, buhuuu! Warum sich so was nicht selbst erledigen, das Publikum mal machen lassen? Was, wenn Netrebko und/oder Gergijew bei ihren nächsten Auftritten ausgebuht oder beschwiegen worden wären? Zeugte von republikanischer Gesinnung.

Andererseits gibt es so was wie Vertragsfreiheit. Und wenn die Stadt München entscheidet, ihren teuersten Angestellten wegen unüberbrückbarer Differenzen nicht mehr zu beschäftigen, nun gut. (Auffallend jedenfalls, dass der Protest aus den Reihen der von ihm dirigierten Münchner Philharmoniker irgendwie ausgeblieben scheint.) Weiters kann man sowohl Netrebko als auch Gergijew schon vorwerfen, sämtliche, auch monetären Vorzüge einer offenen, globalisierten Welt gern mitzunehmen und immer gern mitgenommen zu haben (Netrebko hat eigens die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen), und gleichzeitig einen Autokraten unterstützten, der genau das offen bekämpft. Immerhin hat zumindest Gergijew seinem ehemaligen Auftraggeber die Peinlichkeit erspart, eine lauwarme, pflichtschuldige Erklärung für Weltfrieden und Völkerfreundschaft vom Blatt abgelesen zu haben.

Was aber soll der unkultivierte, amusische Humbug, Musik von Peter Iljitsch Tschaikowski aus Konzertprogrammen zu streichen? Allein von der Lebenszeit hatte er Mann noch nicht mal die Chance, Kommunist zu sein, selbst wenn er gewollt hätte. Geschweige denn, ein Anhänger Putins. Macht es einen zum bösen Imperialisten, seine Musik aufzuführen und zu hören? (Wie Noldes Blumenbilder zu begucken einen auch sofort zum Antisemiten macht.) Wenn es eine Möglichkeit gibt, Gräben zu überwinden, wie sie sich gerade östlich von Polen auftun, dann doch Kunst, oder? Gerade jetzt weiterhin Tschaikowski, Mussorgski, Glinka et al. zu spielen, ist auch ein Signal: Deren Musik mag vielleicht russische Wurzeln haben, ist aber nichts exklusiv Russisches, was sich ein imperialistisch-nationalistischer Ungut unter den Nagel reißen und instrumentalisieren kann, sondern gehört der ganzen Menschheit.

(Es ist übrigens gut belegt, dass Tschaikowski schwul war. Ist das nicht voll gemein gegenüber queeren Komponisten? Müsste man seine Musik nicht gerade jetzt spielen, um anti-queere osteuropäische Potentaten zu ärgern?)

Fieserweise entspringt das alles sicherlich lauteren und ehrenwerten Motiven. Ich bin überzeugt, dass diejenigen, die nicht bloß Bücher verkaufen wollen und/oder auf akademische Planstellen schielen, die Welt wirklich zu einem freundlicheren und besseren Ort machen wollen. Die Frage ist, ob ihre inquisitorischen Mittel auch geeignet dazu sind.

Aus allen oben beschriebenen Phänomenen spricht ein Bedürfnis, eine Sehnsucht, diese unendlich komplexe, vernetzte Welt mit unendlichen Wechselwirkungen übersichtlich zu machen. Dagegen spricht erst mal nichts.

Dagegen, aus Denkfaulheit nach simplen Schwarz-Weiß- und Täter-Opfer-Strukturen zu suchen, als 'Böses' identifiziertes eindeutig vom 'Guten' zu scheiden, hingegen sehr vieles. Hat noch nie wirklich funktioniert, geschweige denn die Welt besser gemacht. Weil kein Weltbild frei ist von Lücken, offenen Flanken und Widersprüchen und jedem, der behauptet, in seinem Weltbild gäbe es keine Lücken, offenen Flanken und Widersprüche bzw. einem so eines andrehen will, mit größtem Misstrauen zu begegnen ist. Fragen Sie den Jakobiner Ihres Vertrauens.

Vielleicht reden unsere Enkel dereinst auch völlig anders als wir und lachen sich kaputt über die Debatten, die wir damals geführt haben.

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