„Fragt, wenn ihr was wissen wollt?“ Mit dieser Aufforderung an die Kinder demonstrieren weltweit Eltern ihre geistige Überlegenheit und hoffen inständig, ihre Nachkommen werden nie Gebrauch davon machen.
Es ist nur eine Floskel, deren Wahrheitsgehalt nur selten seitens der „Frucht ihrer Lenden“ überprüft wird. Eine Floskel, ja man kann auch sagen, eine Falschinformation, wie nachfolgende Aussage eindrücklich beweist.
„Chantalle – Jaqueline, iss deinen Teller leer, sonst gibt es morgen schlechtes Wetter!“
Es ist die unverblümte Drohung einer Mutter, die zwar keine Meteorologin ist, aber eine hundsmiserable Köchin und nur davon ablenken will. Bis ich Achtzehn war, musste ich mir das anhören, obwohl ich weder ein Mädchen, noch Chantalle - Jaqueline heiße. Erst dann wagte ich es, mich gegen die Repressalien aufzulehnen. Die leicht verspätete Pubertät kam mir dabei zu Hilfe. Bisher konnte ich meinen ungezügelten Wissensdurst noch zügeln, doch jetzt sah ich die Zeit gekommen, ihrer, früher einmal getätigten Aussage (siehe Titelüberschrift), auf den Grund zu gehen. Mir wurde nämlich zum ersten Mal das Interesse eines Mädchens an mir, von dritter Stelle zugetragen.
„Die steht auf dich!“, sagte mir mein bester Freund Josch, ohne Vorwarnung. Ich wusste zwar, dass es irgendwann dazu kommen müsste, da es die Aufgabe der Menschheit ist, sich fortzupflanzen, doch hoffte ich, man würde mich vielleicht vergessen. Bisher verlief mein Leben in ruhigen Bahnen und ich vermisste nichts. Plötzlich interessierte sich jemand für mich, der aus der nichtfußballspielenden Fraktion war. Sofort war ich beunruhigt. Ja sogar höchst alarmiert. In der Theorie hatte ich ja einiges in der Schule mitbekommen. Irgendwelche Schaubilder vom jeweils anderen Geschlecht, die wir beschriften und ausmalen mussten. Unsere Biologielehrerin, so unsere Vermutung, unterrichtete es nur, weil es im Lehrplan stand, nicht mit der Überzeugung der eigenen Erfahrung.
„Meinste die hat schon mal?“, interviewte mich Josch.
„Nie und nimmer! Die doch nicht. Nee, das glaub ich nicht.“, sagte ich voller Überzeugung.
„Hast Du schon mal?“
„Klar! Du nicht?“
„Logo!“
„Und wie war es?“
„Spitze. Hat sich gelohnt.“
So ähnlich laufen sie ab, die tiefgründigen psychologisch ausgereiften Gespräche zweier Jungs, die beide weit davon entfernt waren, irgendwelche sexuellen Kontakte mit dem anderen Geschlecht, demselben oder gar mit diversen anderen Geschlechtern, gemacht zu haben. Jungs sind eben Jungs. Wenn man sie fragt, dann hatten alle schon mal. Es gehört für sie zum guten Ton, es zu behaupten, damit zu prahlen, auch wenn es nicht stimmt. So erging es mir auch. Offiziell hatte ich natürlich schon und nicht nur einmal. Inoffiziell hatte ich nicht den Hauch einer Ahnung, wie ich was zu machen hatte. Welcher Mann hört schon einer altjüngferlichen Biologielehrerin zu, die ihren Unterricht so spannend gestaltet, wie ein Schneckenhalbmarathon.
Und ausgerechnet jetzt, offenbart mir Josch diese neue Entwicklung, von der ich hoffte, davon verschont zu bleiben.
„Wer will mich denn?“, heuchelte ich ihm Interesse vor.
Schließlich war ich ja auf meinen guten Ruf bedacht. Desinteresse oder gar Panik zu signalisieren und ich wäre unter meinen Jungs unten durch und auf derselben Stufe mit Armin. Armin war ein Streber und schon alleine deshalb ein von allen gemiedener Außenseiter. Er sah auch so aus, als müsse er sich keine Sorgen machen, von Mädchen interessant gefunden zu werden. Meine Ausgangslage war eine völlig andere. Ich sah gut aus, sportlich und so der Typ „Boygroupmitglied“. Schönheit hat eben auch seine dunklen Seiten.
„Jetzt sag schon, wer steht auf mich.“, wollte ich dann doch wissen, weil es schmeichelt einem ja doch etwas.
Josch blickte sich vorsichtig um. Er wollte sichergehen, dass niemand von dem großen Geheimnis gewahr wird.
„Claudine.“, hauchte er mir flüsternd ins Ohr und stieß mir bewundernd in die Seite, dass mir fast die Luft wegblieb.
„Wow!“, stieß ich in vorgespielter Begeisterung aus.
„Die ist eine glatte Eins.“, pries Josch sie an, wie eine Marktfrau ihre Gemüseauslage.
„Woher weißt du, dass sie mich will?“
„Sie hat mich direkt gefragt, ob sie eine Chance bei dir hätte.“
„Und was hast du gesagt?“
„Ich habe ihr klar zu verstehen gegeben, momentan seist du zu haben. Und schon mal dein Interesse bekundet.“
„Hättest du nicht erst einmal bei mir nachfragen müssen?“
„Eine Eins. Die ist eine Eins. Was gibt es denn da zu fragen.“, erklärte Josch, der es ja nur gut meinte, was ich ihm zwar einerseits hoch anrechnete, andererseits hätte ich ihm in die Fresse hauen können.
„Dann sag ich ihr, dass du willst oder?“, machte Josch gleich Nägel mit Köpfen.
„Ja klar.“, rief ich, „bei einer Eins gibt es nichts zu fackeln.“
Worte, die ich schon bereute, als ich sie aussprach.
Ohne mein Zutun hatte ich nun eine Freundin, eine Geliebte, die Mutter meiner Kinder. Josch lieg gleich los, um ihr die frohe Kunde zu überbringen. Er zeigte so nie geahnte Kupplerfähigkeiten. Später verfeinerte er sein immenses Potential und wurde ein erfolgreicher und stadtbekannter Zuhälter. Unversehens hatte er mich in eine feste Beziehung gequatscht. Jetzt stand ich vor den Scherben meines bisherigen unbeschwerten Lebens. Ohne mein zutun würde nun eins zum anderen kommen und alles dann in SEX münden. Die Vorstellung ließ mich erschaudern. Bisher kannte ich Claudine, die in der Parallelklasse war, nur vom sehen und jetzt war ich mit ihr liiert. In der großen Pause begann ich Informationen über sie einzusammeln. Ganz nebenbei horchte ich ihre Freundinnen über sie aus und was ich da erfuhr, sorgte für eine Panikattacke nach der anderen.
„Die kennt sich aus. – Jungfrau? Ach schon ewig nicht mehr! – die hat schon so manchen Typen verschlissen. – die ist ein kleines Luder.“, waren nur einige der Aussagen ihrer besten Freundinnen.
„Bist du interessiert an der?“, haute Marie eine Gegenfrage raus.
„Nee, ich frage nur für einen Freund.“, antwortete ich rasch, wohl etwas zu rasch, um glaubwürdig rüberzukommen.
„Komm, sag schon? Du willst was von Claudine.“, beantwortete sie ihre Frage gleich selbst.
„Wir sind zusammen.“, sagte ich nur knapp.
„Seit wann?“
„Seit eben!“
Damit war es offiziell. Auch wenn ich es ihr nur im vertrauen sagte, so war es am nächsten morgen bereits das Pausenthema auf dem Schulhof. Marie hatte mein Vertrauen missbraucht und ich hoffte nur inständig, Chantalle-Jaqueline würde es nicht zu Ohren kommen.
„Hallo, mir ist da was zu Ohren gekommen!“, stellte sich im Flur mir Chantalle-Jaqueline in den Weg und sah mich mit lüsternem gierigen Augen an.
Mir fiel der Schreck in die Glieder und der Rucksack aus der Hand.
„Was denn?“, stotterte ich selbstbewusst, als o ich von nichts wüsste.
„Du hast rumerzählt, wir gingen miteinander.“, sagte sie offen heraus.
„Das kann man so direkt nicht sagen.“, versuchte ich, die Sache zu entkräften.
„Von mir aus ist es ok.“, sagte sie knapp und küsste mich einfach.
Ich wollte mich schon beschweren und alles ins Reich der Fantasie abtun, hatte aber noch ihre Zunge im Mund. Ich wollte auch nicht unhöflich erscheinen und ließ sie zunächst gewähren. Doch irgendwann ging mir die Puste aus und ich sah mich gezwungen, dem ganzen ungehörigen Vorgang Einhalt zu gebieten. Ich fuhr meine Zunge wieder ein, die sich, ganz gegen meinen Willen, reflexartig bei ihr eindrang, um ein Pas de deux aufzuführen. Noch während der Verzüngelung hatte ich mein Urteil über sie gefällt.
„Sie ist eine Schlampe. Aber küssen kann sie.“, dachte ich und war mir bereits ganz sicher, meine Eltern, tiefgläubige Menschen, würden einer nahenden Eheschließung nicht zustimmen. Und ohne deren Segen war so eine finanziell belastende Aktion nicht zu stemmen. Nur wie jetzt aus dieser vertrackten Situation herauskommen, ohne einen folgenschweren Kollateralschaden anzurichten.
Zurückgewiesene Frauen können mitunter sehr nachtragend und gehässig werden, bei unbegründeter Zurückweisung. Die sind imstande den Ruf eines ehrbaren Mannes zu vernichten, durch boshafte Unterstellungen, Verleumdungen und grausame Unwahrheiten.
„Wir sind jetzt fest zusammen und nach der letzten Stunde zeigst Du mir, was du kannst!“
Es waren furchteinflößende Worte, die an Eindeutigkeit nichts vermissen ließen. Sie übte einen immensen Druck auf mich und meine ohnehin angeschlagene Psyche aus. Es war eindeutig, sie wollte es und noch heute. Zwischen mir und der drohenden Blamage lag nur noch eine Englischstunde. Zu wenig Zeit, fehlendes Wissen aufzuholen. Also tat ich, was ein Mann in solch geradezu apokalyptischer Situation noch tun kann. Ich verhielt mich in der Englischstunde so unsachgemäß, dass mir dankenswerterweise eine Stunde Nachsitzen, zur Läuterung, aufgebrummt wurde. Ich hätte Mrs. White, wie sie sich im Unterricht nannte, die aber eigentlich Frau Weiß hieß, die Füße küssen können. So entkam ich Claudines Fängen, jedenfalls an diesem Tag. Das verschaffte mir die nötige Zeit, Erkundigungen einzuholen, wie und was zu tun ist, wenn man es tut. Josch konnte ich nicht fragen, da ich mich ihm gegenüber ja bereits als alter Hause ausgegeben hatte. Im Kopf ging ich meine Bekannten durch, doch mir fiel niemand ein, der mir Auskunft oder eine Lehrstunde geben könnte. Unser Schulpfarrer war auch keine Anlaufstelle, da er ja aus beruflichen Gründen davon nichts wissen durfte. Mir blieb nur eins, den schweren Gang, hin zu meiner Mutter. Bei ihr wusste ich wenigstens zuverlässig, sie musste da wenigstens einmal durch, wofür ich ja als Beweis stehe. Aber das ist natürlich über achtzehn Jahre her und wer weiß, ob sie noch eine Erinnerung daran hat oder ob sie es verdrängt hat, wofür ich vollstes Verständnis hätte.
Als ich mit Mutter beim nachmittäglichen Kaffeeplausch saßen und ich in meinem Bienenstich stocherte, fand meine Mutter klare Worte.
„Junge iss und stocher nicht so lustlos darin rum.“
Mütterliche Instinkte sind einfach unschlagbar. Ohne vorher auch nur ein Wort fallen gelassen zu haben, ahnte sie wohl, was mir auf den Lenden brennt.
„Wo wir gerade beim Thema sind ...“, begann ich vorsichtig, um nicht gleich mit der Tür ins haus zu fallen, „... wann hast Du und Papa eigentlich geplant, mich aufzuklären?“
Man konnte förmlich das schlechte Gewissen ihr ansehen. Sprachlos sah sie mich an, während ich bereits Notizblock und Stift zur Hand hatte, um mir die einzelnen Schritte zu notieren. Ich hatte mir vorgenommen, später mir einen Spickzettel zu schreiben, wo ich notfalls nachsehen kann, falls es ins Stocken gerät. Dieses System hatte sich in der Schule bereits bewährt. Meinen Unterarm zierten die binomischen Formeln und rechts war eine Zusammenfassung der punischen Kriege verewigt. Oberschenkel links, das ganze Periodensystem, aber der rechte Oberschenkel war noch frei für Sonstiges. Dort sollte die Anleitung hinkommen, Schritt für Schritt zum perfekten Liebhaber.
Mutter saß immer noch wortlos da und nahm einen Bissen Bienenstich nach dem anderen in den Mund. Ich hatte den Verdacht, sie versucht Zeit herauszuschinden, bis Papa von der Arbeit kommt. Aber genau das wollte ich nun vermeiden, den Papa war handwerklich nicht gerade eine Kapazität. Jedes Jahr das Aufstellen des Christbaums gerät zu einem Desaster. Krumm und schief und wir müssen dann immer so tun, als sei der Baum so gewachsen, nur um den Weihnachtsfrieden nicht zu gefährden. Mit Kritik, besonders mit gerechtfertigter, kann er nicht umgehen. Ich fürchtete, er würde nur unnötige Verwirrung stiften und wenig Substanzielles beitragen.
Endlich fand meine Mutter ihre Sprache wieder, wohl auch, weil kein Bienenstich mehr da war.
„Lernt ihr das denn nicht in der Schule?“, versuchte sie, sich aus der elterlichen Verantwortung zu stehlen.
Ich gestand kleinlaut, damals unter einer Phase der chronischen Unaufmerksamkeit gelitten zu haben und nur noch rudimentäre Versatzstücke in Erinnerung zu haben.
„Muss das den ausgerechnet heute sein? Ich habe noch große Wäsche.“
Langsam stieg bei mir das ungute Gefühl auf, sie will nicht mit mir darüber reden. Sie versuchte, sich in Ausflüchte zu flüchten. Und mir lief die Zeit davon.
Ohne fundiertes Wissen konnte ich doch morgen nicht vor Claudine hintreten. Die machte auf mich nicht den Eindruck, ein besonders geduldiges Mädchen zu sein.
Und dann trat ein, was meine schlimmsten Befürchtungen bestätigte.
„Frag deinen Vater! Das ist ein Gespräch zwischen Vater und Sohn. Mütter tun das bei ihren Töchtern.“
Das war leicht gesagt, denn eine Schwester hatte ich nicht.
„Meinst Du, Papa kann mir das wirklich erklären?“, fragte ich ungläubig.
Sie seufzte tief und mehrfach und mir schwante nichts Gutes.
„Wenn er sich noch daran erinnert, wird er es dir so leidlich erklären können.“
Plötzlich war ihre Stimmung ganz gedrückt. Das lag wohl an der schmerzlichen Erinnerung vergangener Jahre. Was muss diese arme Frau durchgemacht haben!
„Dann frag ich ihn halt doch.“, sagte ich, ohne jeglichen Enthusiasmus und wenig Hoffnung, brauchbare Tipps zu erhalten. Zum Glück kam es jedoch nicht zu einem Vater-Sohn Gespräch. Es blieb ihm erspart, da er von einem Bus angefahren wurde und im Gipsstreckverband im Krankenhaus erst nach Tagen erwachte. Ich will ihm ja keinen Vorsatz unterstellen, aber hilfreich war er nicht. Am nächsten Morgen simulierte ich, der Not gehorchend, ganzseitige Lähmungserscheinungen und schwänzte die Schule.
Inständig hoffte ich, Claudine hätte jemand anderen gefunden, der ihr gibt, was Frauen ihrer Art eben so haben wollen. Dann wäre ich wieder frei und mir blieb mehr Zeit, dass nachzuarbeiten, was mir an Wissen fehlt, denn eines wurde mir schmerzlich klar: Nach der Frau ist vor der Frau.
Eine ganze Woche lang hielten die Lähmungssymptome an. Als Mutter ihren eingegipsten Mann besuchte, nutzte ich die Zeit und kramte im Keller nach längst verschollenen Bravo - Heften und las sämtliche Dr. Sommer Tipps. Das brachte mich endlich weiter voran. Die halbe Nacht verbrachte ich im Selbstversuch, mich ganz an die Vorgaben Dr. Sommers haltend. Freude kam dabei nicht auf. Zum Glück hatte ich das Licht zuvor ausgeschaltet, so musste ich es mir nicht auch noch ansehen. Aber es funktionierte letztendlich. Ein großer Erfolg war mir beschert. So weit so gut. Dies alles jetzt aber umsetzen, dazu noch im Beisein einer anderen Person, namentlich Claudine, beunruhigte mich doch sehr. Sie wusste alle, ich wusste nichts. Das zumindest wusste ich. Bilder, Zeichnungen und Erfahrungswerte von Kindern, die wenigsten davon über Dreizehn, gab es zuhauf. Achtzehnjährige wie ich, fanden sich nicht. Ich musste erkennen, ich lief dem Zeitgeist hinterher. Offenbar sind Männer meiner Altersklasse besser informiert als ich und hatten das erste Mal bereits hinter sich. Die die ansteigende Zahl der Drogenabhängigen und Alkoholiker über achtzehn, die kommen sicher nicht von ungefähr. Claudine dafür nun die Alleinschuld zu geben, wäre sicher übertrieben. Aber einen gehörigen Anteil daran wird sie bestimmt haben. Ein Ruf wie Donnerhall, den sie sich hart erarbeitet hat, kommt ja nicht vom Nichtstun.
Nach einer Woche intensiver Auseinandersetzung, wie man es macht, wann man es macht, mit wem man es macht und nicht zuletzt, warum man es überhaupt macht, sah ich mich gut gewappnet, den Kampf anzugehen.
Ich war nervös, ich war aufgeregt und fest entschlossen, es heute hinter mich zu bringen, damit ich es aus dem Kopf habe.
Doch dann kam die große Enttäuschung. Josch kam auf mich eilig zu und noch ehe ich ihn grüßen konnte, legte er bereits voll los.
„Du Hirni, du Spasti, du Volldepp!“, waren noch die harmlosesten Umschreibungen für „Schön Dich endlich wiederzusehen.“, die er mir zukommen ließ.
Ich hielt ihn, an etwas leiser zu reden, denn schließlich muss ja nicht die ganze Schule meine Zusatznamen mitbekommen.
Doch in unverminderter Lautstärke fuhr er fort, weil er gerade so schön in Fahrt war.
„Ganzseitige Lähmung? Das glaubt dir doch kein Mensch.“
„Wieso?“, verteidigte ich mich, „Hat doch funktioniert.“
„Eltern und Lehrer zählen nicht.“, entgegnete er.
Da hatte er natürlich vollkommen recht. Die hinters Licht zu führen, war relativ leicht gewesen.
„Ich habe nicht einen Moment daran geglaubt. Deshalb habe ich auch keinen Krankenbesuch gemacht. Gib es zu, du hast nur simuliert. Du hattest schiss in die Schule zu kommen, wegen Claudine.“
Er sah mich fordernd an und erwartete mein Eingeständnis. Der Lüge überführt ist ja das eine, es zuzugeben eine ganz andere Sache.
„Mir war wirklich nicht gut.“, räumte ich ein.
„Zwischen „Mir ist nicht gut“ und „ich bin für mein Leben lang gelähmt“, ist aber ein kleiner Unterschied.
„Es war nur ein vorübergehendes lähmendes Unwohlsein.“, gab ich relativierend zu.
„Alter, mir brauchst du doch so einen Käse nicht zu erzählen. Du hattest Schiss vor Claudine, weil dich will.“, brachte er es auf den Punkt.
Es lag nun an mir, diese unglaubliche Anschuldigung vehement abzustreiten und ihn Lügen strafen.
Doch plötzlich hörte ich mich sagen und ich traute meinen Ohren nicht: „Ja stimmt.“
Völlig perplex sah er mich an.
„Du gibst es zu? Wow.“, meinte er anerkennend.
„Ja, ich gebe es zu.“, sagte ich ihm selbstbewusst ins Gesicht.
Ich war von mir fast noch mehr überrascht, als er es war.
„Aber es ist doch nicht deine Erste?“, fragte er nach, doch nun stimmlich gedämpfter.
„Doch.“, gab ich kleinlaut zu.
„Wahnsinn. Du bist achtzehn und hast noch nie? Wahnsinn. Echt jetzt? Wahnsinn.“
„Jetzt hör schon auf mit deinem ewigen „Wahnsinn“. Das macht einen ja wahnsinnig.“, imitierte ich ihn nach.
„Wahnsinn.“, meinte er nur erstaunt.
„Bloß weil Du es bereits mit fünfzehn gemacht hast, muss ich es mit achtzehn ja nicht tun.“
„Hab ich gar nicht.“, sagte nun Josch völlig überraschend.
„Hast Du doch immer erzählt. Ja damit geprahlt.“, konfrontierte ich ihn mit seinen langjährigen Lügen.
„Ja aber nur .... weil eben alle ... also es sagen.“, stotterte er sich eine Erklärung zurecht.
„Und wenn alle von der Brücke springen, springst Du auch?“
„Du hast es ja auch immer behauptet!“, verteidigte er sich.
„Ups! – äh ja.“, gab ich zu und dann mussten wir beide lachen.
„Na wir sind schon zwei ...“, sagte ich.
„Aber das bleibt unter uns.“, erwiderte Josch.
„Logo. Offiziell haben wir natürlich.“
Mit Ghettofaust besiegelten wir unseren Pakt.
„Und was ich jetzt mit Claudine? Die will ja und ich bin jetzt gut vorbereitet. Da wäre es ja blöde mein Wissen nicht anzuwenden.“, gab ich zu bedenken.
„Da kommst du zu spät. Claudines Eltern haben sie von der Schule genommen, wegen ihrer schlechten Noten. Die ist jetzt in einem Internat in Bayern.“
„Oh.“, sagte ich, mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung.
„Keine Sorge, die Nächste wird schon irgendwann kommen.“, tröstete Josch mit.
„Genau. Und dann zieh ich die Sache gnadenlos durch.“

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