Ich bin seit 20 Jahren beruflich tätig – und so lange schon  beschäftige ich mich mit Mobilität, Logistik – Bewegung von Menschen und  Gütern. Denn von Beginn an (ich habe nie ein eigenes Auto besessen) war  da dieses Gefühl: „Hier stimmt doch was nicht?!“ Was als diffuses  Bauchgrummeln begann, hat sich in den letzten Jahren immer mehr  manifestiert: Die Raumverteilung in unseren Städten ist in höchstem Maße  ungerecht und schränkt mehr Menschen ein, als dass sie ihnen Freiheit  schenkt. Dabei bin ich in den siebziger Jahren geboren und qua Geburt  daran gewöhnt, dass an allen Straßen, die ich mit dem Rad befahre, zu  Fuß begehe, mindestens eine Reihe geparktem Blech gehört. Dinge, die für  unsere passive Bewegung gebaut werden, statistisch aber nur 45 Minuten  am Tag wirklich gefahren werden. Meistens von nur einer Person.

Die ursprünglichste Mobilität, die es in der Stadt gibt, ist die der zu Fuß Gehenden, sie hat jedoch am wenigsten Lobby.

Ich wohne in Hamburg. Zunächst an der Sternschanze, jetzt im eher  ruhigen Wohngebiet Eimsbüttel. Wenn ich von meinem Balkon blicke, blicke  ich auf die von mir genannte Ungerechtigkeit: Ich sehe wie aus einem  Helikopter heraus im direkten Vergleich, wieviel Platz wir an geparkte  Autos kostenfrei vergeben. Eine gute Bekannte von mir sagte: „Das muss  sich ändern, ich darf mein Sofa ja auch nicht einfach tagelang an die  Straße stellen!“ Solche Bilder brauchen wir, um deutlich zu machen, wie  groß die Ungerechtigkeit ist. Denn: Wir sind an diese gewöhnt, wir  akzeptieren sie. Wir sind dazu erzogen, sie nicht zu hinterfragen.  Kinder aus Hamburg kennen mittlerweile die „Ameise“. Das Wort ruft  fröhlich die vorne mit der Kindergruppe laufende Betreuerin, die in  Zweierreihen gehenden Kinder fassen sich alle an den Händen, um dann in  einer Reihe gehend die Wegestücke zu überbrücken, wo sie nicht mehr zu  zweit nebeneinander passen. Dort, wo riesige SUV-Schnauzen in ihren Weg  ragen, weil die Parklücken in den fünfziger Jahren gebaut wurden, wo  Autos noch sehr viel kleiner waren.

Große Aufregung um den Cybertruck von Elon  Musk.

Tesla stellte ein Fahrzeug vor, das vollelektrisch als Konkurrenz  zu amerikanischen Pick-Ups darstellen soll. In Deutschland machten sich  viele über dieses brachial aussehende Ungetüm lustig – aber soll ich  Ihnen etwas verraten? Der Cybertruck ist optisch das, was ich fühle, während ich auf dem Rad sitzend von einem großen PKW in der Stadt  überholt werde. Ich teile mir als Radfahrende den Platz mit Fahrzeugen,  in denen zwar oft auch nur eine Person sitzt, die aber jede Menge Stahl  dabeihat, der sie schützt. Ich habe davon nichts. Und ich möchte mich  als Radfahrende nicht aufrüsten mit Sicherheitsweste, Abstandhalter und  Fahrradhelm. Es gibt sehr viel mehr Kopfverletzungen bei Autofahrenden, wir jedoch sollen eine subjektive Sicherheit durch Helme erzeugen. Denn  mal ehrlich: Wenn mich ein Auto überrollt, dann hilft mir auch kein  Helm.

Sollen sich Kinder SO durch ihre Stadt bewegen?

Leben rettet nur, wer Radfahrenden eigene Spuren gibt.

Und die Lebensqualität in Städten steigert nur, wer dem Auto Raum  wegnimmt, denn woher soll dieser kommen, wenn nicht vom Auto? Obwohl wir  dieses in der Stadt zumeist nicht benutzen, sondern parken, bekommt es  kostenlos den Raum zur Verfügung, der allen gehören sollte. Autofreie  Innenstädte in Metropolen wie Madrid und Barcelona finden wir klasse,  Radstädte wie Kopenhagen bewundern wir und wenn wir dort sind, genießen  wir die Freiheit, die wir hier ohne Auto im wahrsten Sinne erfahren –  aber vor der eigenen Haustür empfinden wir die Vision einer autofreien  Stadt als Einschränkung. Ich betrachte diesen Verzicht als Gewinn – für  alle, für Gesundheit, Gemüt und Mensch sein. Seitdem ich geboren wurde,  atme ich die Abgase von Menschen ein, die in der Stadt nicht auf ihr  Auto verzichten. Meine Gesundheit wird von einem Verkehrssystem in  Mitleidenschaft gezogen, das Umwelt zerstört, Menschenleben gefährdet  und Stadtraum an Stehzeuge verschleudert.

Mein Bild hier ist der Blickwinkel eines Kindes.

Wie nimmt eine  Dreijährige Eimsbüttel wahr? Sie blickt, ihrer Körperhöhe geschuldet,  nur auf Stahl. Sie muss sich vom Gehweg aus durch Autolücken an die  Straße herantasten, weil sie diese nicht überblicken kann – auch im  Wohnviertel nicht. Sie lernt, dass jedes Mal, wenn sie aus dem Auto  ihrer Eltern steigt, sie an die Hand genommen und vor der gefährlichen  Straße gewarnt wird.

Wollen wir, dass unsere Kinder in Angst aufwachsen und mit dem Auto  zum Kindergarten und zur Schule gebracht werden müssen? Oder wollen wir  sie selbstbewusst erziehen, ihnen ermöglichen, dass sie selbst frei  entscheiden, wie sie sich durch Hamburg bewegen?

Lassen Sie uns den Status Quo hinterfragen, das wird allen mehr  Lebensqualität ermöglichen. Denn schon heute, das weiß ich aus  Gesprächen, sind Autobesitz und -fahrten nicht mehr die Freiheit, die  die Autoindustrie in Werbeanzeigen verspricht.

Es wird sich am Status Quo geradezu sklavisch festgehalten.

Er wird  nicht hinterfragt, obwohl wir aktuell enorm viele gute Gründe haben, das zu tun. Und hier fängt das Thema “Haltung” meiner Meinung nach an.  Wir scheinen uns nicht wohl damit zu fühlen, gestalten zu können oder es  gar zu müssen. Wir strapazieren den Begriff der enkeltauglichen  Zukunft, treiben aber weiter das Hamsterrad von Wachstum und Gewinnen  an. Na klar, das ist uns über Jahrzehnte so vorgelebt und eingetrichtert  worden. Aber genau das brachte uns ja in die Klimakrise. Wir müssen  hinterfragen, was wir tun

Wir MÜSSEN unser vertrautes Koordinatensystem zum Teil neu justieren, sonst verlieren wir nicht nur den Überblick, sondern gehen im  schlimmsten Fall sogar in die falsche Richtung – nämlich rückwärts. Und  genau das gibt auch mein Gefühl von 2020 in Sachen Mobilitätswandel  wieder. Es ist nicht so, dass nichts passiert wäre, aber viel wurde  wieder verzagter. Große Player haben den Markt wieder verlassen oder  sich mehrjährige Expansionpausen verordnet, um “Verluste zu vermeiden”.

Aber wird der Mobilitätswandel ohne geldwerte Verluste zu starten  sein? Sollten in Sachen klimarettende Verkehrswende nicht andere  Währungen zählen wie z. B. der ökologische Gewinn für die Gemeinschaft?

Ich habe mit vielen Menschen über “mein Jahr” gesprochen. Wurde gefragt, wie anstrengend es eigentlich ist, sich für das Thema  Verkehrswende einzusetzen und dabei auch immer die Thema Diversität und  neue Arbeitsformen anzubringen. Ob das nicht ein paar Baustellen zuviel  seien?

Sie sehen mich nicken: Ja. Es ist enorm anstrengend.
Aber ich sehe einfach keine Chance, diese Themen voneinander zu trennen.

Und ja: Gerade das Thema der neuen Mobilität jenseits des privat  besessenen PKW ist ein völliges Filterblasen-Thema, das sehe ich aktuell  bei Besuchen meiner Eltern, die im Emsland wohnen. Hier gibt es keinen  gut ausgebauten ÖPNV, es gibt aber auch kaum Menschen, die diesen  fordern, weil vor jedem Eigenheim gleich mehrere Autos stehen. Also: Ad  hoc Mobilität ist vorhanden. Immer. Und hier ist weder Parkdruck noch  Stau ein Thema.

Dennoch muss sich auch die Mobilität in Mittelzentren und kleineren  Städten sich verändern.

Und hier kommen wir wieder zum Thema Haltung.  Da, wo die Änderung stattfinden muss, wird sich stets zunächst  Widerstand regen. Weil Verbote und Verzicht bei uns negativ belegt sind.  Unsere Freiheit ein hohes Gut ist. Wir unsere Privilegien nicht  gefährdet sehen wollen, auch, weil wir diese zum Teil als gegeben  wahrnehmen – und nicht als “ungerecht, aber vor allem an uns verteilt”.  Es müssten also sehr viele Fragen gestellt werden, von möglichst vielen,  um möglichst viele in unserer Gesellschaft in der Zukunft, die wir ab  heute bauen müssen, zu berücksichtigen. Und das beginnt bei den  Unternehmen, die Auto- und andere Mobilität gestalten.

Was heißt dies für bestehende Gesetzgebung?

Die Veränderung braucht definitiv neue regulatorische  Rahmenbedingungen. So sind in der neuen Straßenverkehrsordnung und – so  deutet es sich zumindest an – auch in der Novelle des  Personenbeförderungsgesetzes Anker gesetzt, die zum einen die  „schwächeren“ Verkehrsteilnehmer schützen, und mehr Raum für Versuche  schaffen. Das klingt zunächst sehr diffus, heißt aber, dass ausprobiert  werden darf, was heutige Autofahrer:innen letztlich zum Ausstieg bewegen  könnte. So zum Beispiel neue Konzepte wie On-Demand-Ridepooling  (integriert in den Nahverkehr) nicht mehr als temporär limitierten  Versuch auszulegen, sondern fest zu verankern und je nach Resonanz der  Kund:innen auszubauen.

Das Berliner Mobilitätsgesetz ist zudem das erste  seiner Art in Deutschland, wird von Forschenden, Behörden und der  Politik begleitet, hat seinen Ursprung aber in der Zivilgesellschaft.  Die hat über den ersten Radentscheid „von unten“ entschieden, dass die  Berliner Mobilität sich ändern muss.

Auch in Europa setzen sich Politiker:innen durch, die „nach Corona“  nicht mehr zurück zum vorherigen Zustand wollen, sondern die Krise nutzen, um Mobilität anders zu gestalten. Brüssel ist hier überraschend  deutlich und sperrt Autos aus, in Paris gestaltet Bürgermeisterin Anne  Hidalgo diesen Umbau schon seit längerem. Straßen werden autofrei  gestaltet, Ufer der Seine zu aufenthaltsattraktiven Stränden. Die Stadt  wird dem Menschen zurückgegeben – und genau darum geht es. Denn seien  wir ehrlich: Schon jetzt bemerken wir, dass die Temperaturen seit langem  über dem Normalniveau liegen. Die Wiener Vizebürgermeisterin Birgit  Hebein schafft hier die so genannten „coolen Straßen“, die durch  Begrünung und Schaffen von Raum helfen sollen, dass sich Menschen  draußen aufhalten können, die nicht über Balkone und viel Platz  verfügen, aber auch die Stadt an sich zu kühlen. Spannende Zeiten, in  denen es mutigen Politiker:innen gelingen kann, echten Mehrwert für den  mobilen Wandel zu schaffen.

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