Wenn ein Mann krank ist ... 
			oder 
	Rette sich, wer da kann!

Meine alte Sandkastenliebe Gerlinde rief mich nach Jahren urplötzlich an und klang vollkommen verzweifelt. Sie hat, wie ich erst nach der Trauung zufällig erfuhr, ihre alte Schaukelliebe, meinen ärgsten Widersacher Elmar geheiratet. Doch schon, als wir aus dem Sandkastenalter herausgewachsen waren, ebbte unsere Freundschaft ab. Wir gingen auf getrennte Schulen und von da an hatten wir keinen Kontakt mehr. Sie hatte mich zwar noch zu einem Kindergeburtstag eingeladen, doch ich war so sehr gekränkt wegen dem Schaukelheini, dass ich bis heute nicht abgesagt habe. Deshalb vermutete ich auch, ihr Anruf wäre Deswegen, weil es ihr einfach keine Ruhe lässt. Doch in Wahrheit war ihr Beweggrund noch weit dramatischer.
„Hallo Jürgen, ich bin es, Gerlinde!“
„Wer?“, fragte ich überrascht, denn inzwischen war ja doch etwas Zeit vergangen und zurzeit war mir keine Gerlinde geläufig.
„Gerlinde! Wir kennen uns aus dem Sandkasten. Du hast mich doch nicht etwa vergessen?“
Und „Sandkasten“ war das Stichwort. Sofort kamen bei mir wieder die Bilder hoch, wie sie mich im Sandkasten sitzen ließ, obwohl ich ihr mein Förmchen und auch die kleine Schaufel angeboten hatte. Sie ignorierte damals mein Weinen und lief zur Schaukel, wo sie den ganzen Mittag mit diesem Elmar geschaukelt hat. Das habe ich ihr nie verziehen. Den Spielplatz habe ich danach nie wieder besucht, denn für mich war er „Elmarverseucht“.
„Gerlinde, ja natürlich erinnere ich mich an dich. Na du hast dich ja lange nicht mehr gemeldet. Das müssen ja so knapp vierzig Jahre sein. Wie geht es dir denn?“, rief ich, mit gespielter Freude in den Hörer.
„Na ja, es geht so!“, sagte sie nur knapp.
„Ach das freut mich. Schön das du dich gemeldet hast. Kannst ja Wiedereinmal anrufen!“, antwortete ich, um das Gespräch möglichst schnell zu beenden, denn ich ahnte, weshalb sie anrief.
Vermutlich hat ihr Elmar sie verlassen und nun besinnt sie sich wieder auf mich und will reumütig zurückkehren.
„Bist du verheiratet?“, war dann auch gleich die nächste Frage, die Gerlinde stellte.
„Aha!“, dachte ich, jetzt fällt sie gleich mit der Tür ins Haus.
Sie will doch nur wissen, ob ich noch frei bin. Vermutlich ist Elmar Alkoholiker geworden. Schon damals hat er sein Milchfläschchen immer auf einen Zug ausgetrunken. Da war das Ende ja schon abzusehen.
„Nein ich bin nicht verheiratet!“, antwortete ich wahrheitsgemäß, war mir aber nicht sicher, ob ich nicht besser gelogen hätte.
„Und Kinder, hast du Kinder?“, bohrte sie weiter.
„Nein, ich bin katholischer Pfarrer!“, log ich, in der Hoffnung, sie würde nun alle Hoffnungen begraben.
„Das ist ja wunderbar!“, rief sie begeistert.
Dieser plötzliche Stimmungswechsel gefiel mir gar nicht. Immerhin hatte ich, indem ich sie anlog, eine Todsünde begangen und damit das Ticket direkt in die Hölle gezogen. Was, wenn sie jetzt unbedingt einmal in meinen Gottesdienst kommen will oder, was noch verheerender wäre, ich soll Elmar beerdigen. Nichts würde ich zwar lieber machen, jedoch mangelt es mir an der entsprechenden Zulassung. Denn bislang arbeite ich als freiberuflicher Erfinder. Jedenfalls habe ich diese Berufsbezeichnung dem Arbeitsamt angegeben. Die finanzieren momentan meine Bemühungen, etwas zu erfinden, was es noch nicht gibt, aber unbedingt geben sollte. Es muss etwas sein, was genügend Leute haben wollen und mir genug einbringt, damit ich genug Geld habe um noch mehr zu erfinden, was mich noch reicher macht. Momentan befinde ich mich noch in der Findungsphase, was Menschen wohl haben möchten und wie viel ich dafür verlangen kann. Einen Weinflaschenleerstandsableser habe ich schon entwickelt, doch noch hat er sich nicht durchgesetzt. Ich bin auch der stolze Besitzer eines Patents für eine formschöne Wechselunterhose, zum zweimaligen Gebrauch. Oder eben für Werktags und einmal umgedreht, Schwupps, schon ist das Wochenende gerettet. Den Prototyp habe ich noch selbst genäht. Außen in einem blauen Jeansmaterial und innen, etwas festlicher, in einem ansprechenden Glitzerstoff. Bislang ist die einzige Trägerin meine Mutter. Damit überraschte ich sie zu Weihnachten. Nur die Wechselwirkung hat sie noch nicht ganz begriffen. Sie ist dann eben doch nicht so die Zielgruppe. Gegenüber neumodischen Dingen ist sie nicht so aufgeschlossen. Aber auch wenn Sie sie nicht öffentlich trägt, habe ich sie doch lieb. Also meine Mutter jetzt!
„Gerlinde, was hast du gerade gesagt? Ich war für einen Moment abgelenkt. Nein du störst nicht, nur eben kam der Küster herein und wollte wissen, worüber ich am Sonntag predige, wegen der passenden Musikauswahl.“
„Ich sagte, dass es wundervoll ist, das du Pfarrer bist.“
„Und ich lebe im Zölibat!“, log ich weiterhin, denn nun konnte ich das von mir aufgerichtete Lügengebäude nicht mehr einreißen, denn sonst würde ich ja als Lügner dastehen.
„Dann hilfst du ja Menschen in Not. Und genau so jemanden brauche ich jetzt. Du bist meine Rettung Jürgen. Dich schickt mir der Himmel. Mein Engel in Menschengestalt!“
Diese Lobpreisung meiner Person erschien mir doch etwas übertrieben, wenngleich auch schmeichelhaft. Ich lauschte und erwartete noch ein stimmungsvolles „Halleluja“, was jedoch unterblieb. Stattdessen machte sie einen Vorschlag, der mich erst so richtig in die Bredouille bringen sollte.
„Wir müssen uns treffen! Wann hast du Zeit?“, meinte sie bestimmt und es klang nicht nach einer Bitte, sondern sehr fordernd.
In diesem Moment fiel mir jedoch ein, dass eine persönliche Begegnung nicht so einfach ist, denn ich habe ja keine adäquate Kleidung. Und woher sollte ich auf die Schnelle einen Talar herbekommen? Zwar habe ich einen schwarzen Anzug, der jedoch ohne fehlenden Priesterkragen aussieht, wie eben ein hundsgewöhnlicher schwarzer Anzug.
„Oh das tut mir leid, Gerlinde. Zur Zeit habe ich, wegen der jährlichen Grippewelle, leider sehr viel zu tun. Beerdigungen haben derzeit Hochkonjunktur. Außerdem stecke ich mitten in der Restaurierung der Weihnachtskrippe. Kerzen müssen noch gezogen werden, dass Weihwasserbecken muss ausgetauscht werden, die jährliche Orgelpfeifeninspektion steht an und nicht zuletzt muss ich noch die Münzen des Opferstocks zählen, Rollen und zur Bank bringen. Du siehst, ich habe alle Hände voll zutun.“
Noch während ich mir eine Ausrede nach der anderen einfallen ließ, spürte ich, wie mir dabei immer wärmer wurde. Vermutlich begann das Fegefeuer von mir Besitz zu ergreifen. Und ich könnte es ihm auch nicht verübeln. Ich begann den Tag zu verfluchen, wo meine Mutter mich in diesen blöden Sandkasten gesetzt hat. Wenn sie mir zum Geburtstag nicht dieses blöde Förmchen geschenkt hätte, dann wäre mir Gerlinde erspart geblieben. Am liebsten würde ich Mutter sofort anrufen und sie zur Rede stellen. Doch leider ist sie letztes Jahr verstorben. Typisch! Sie ist schon immer Problemen aus dem Weg gegangen.
„Soll ich zu dir in die Kirche kommen?“, drängte Gerlinde.
„Nein!“, rief ich.
Wo in Dreiteufelsnamen sollte ich denn auf die Schnelle eine Kirche herbekommen, die ich als mein Zuhause ausgeben könnte. Frauen waren ja schon immer ein schwieriges Thema für mich, doch Gerlinde brachte mich an den Rand eines allumfassenden Nervenzusammenbruchs. Genau wegen Frauen wie Gerlinde sterben Männer früher als Frauen. Es ist vermutlich der einzige Weg ihnen dauerhaft zu entkommen.
„Morgen nach der Frühmesse am Bahnhof! Ich muss da sowieso einen Hausbesuch, wegen einer letzten Ölung machen. Bist du überhaupt katholisch Gerlinde?“
Es entstand eine kleine Pause. Ich konnte förmlich hören, wie sie nachdachte. Jetzt hatte ich sie auf dem falschen Fuß erwischt. Wenn sie nun Nein sagt, dann kann ich das Treffen aus Gewissensgründen ablehnen. Ich kann mich ja nicht einfach mit einer Evangelischen oder noch schlimmer, sich mit einer Konfessionslosen treffen. Ich habe schließlich auf meinen Ruf zu achten. Eine atheistische verlassene Frau, trifft sich mit einem sehr beliebten Seelsorger, sowas wäre unschicklich und würde meine Glaubwürdigkeit in meiner Gemeinde nachhaltig in Zweifel ziehen. Was, wenn mein Bischof davon erfährt. Die Wahrscheinlichkeit, jemals als Kardinal berufen zu werden, wären dann gleich null. Ich kenne doch meine Glaubensbrüder! Wenn es um Beförderungen geht, da ist sich jeder selbst der Nächste!
„Ich bin getauft!“, sagt Gerlinde dann doch noch.
„Mist!“, denke ich.
Wir verabredeten uns für den nächsten morgen und machte mich auf, um im hiesigen Theater nach einem Talar zu fragen, und kehrte mit einer Richterrobe zurück. Die Frau im Kostümfundus hatte keine Priesterkostüme, weil der Intendant Atheist ist und keine Geistlichen auf seiner Bühne haben will. Zur Auswahl hatte sie nur noch eine Mönchskutte aus Robin Hood und eine Nonnentracht, allerdings nicht in meiner Größe. Notgedrungen nahm ich dann das Kostüm von Dorfrichter Adam aus dem zerbrochenen Krug, der gerade abgespielt war. Allerdings war die Robe noch nicht gereinigt und so befanden sich noch einige Flecken von Kunstblut darauf. Auf dem Nachhauseweg überlegte ich schonmal, wie ich das Blut erklären könnte. Letztlich entschied ich mich für die schlüssigste Variante, bei der ich in aller Früh, noch vor der Frühmesse, beim Zahnarzt war, um mir alle vier Weisheitszähne ziehen zu lassen. Unterwegs besorgte ich mir noch rasch in einer Drogerie einige Wattepads, um sie mir, kurz vor dem Treffen mit Gerlinde in die Mundbacken zu schieben, damit ich noch glaubwürdiger wirke.
In der Nacht schlief ich unruhig. Vermutlich war es der Phantomschmerz von den Weisheitszähnen. Dieses Phänomen kennt man ja von Leuten, denen man irgendwelche Gliedmaßen amputiert hat und denken, sie hätten sie noch. Die kratzen sich dann an Stellen, die sie überhaupt nicht mehr haben. Völlig gerädert setzte ich mich auf mein Rad und fuhr zum Bahnhof, wo ich in einem systemgastronomischen Speiselokal, amerikanischen Ursprungs, bei chicken McNuggets auf sie wartete. Eine halbe Stunde verging und von Gerlinde noch keine Spur. Unterdessen sprachen mich gleich drei Kunden an und baten mich um rechtliche Hilfe. Nur mit größter Mühe konnte ich ihnen klarmachen, dass ich Pfarrer bin. Gerade als ich einem die Beichte abnahm, erschien eine Frau, die direkt auf mich zukam. Unmöglich konnte das Gerlinde sein, denn sie hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit der Gerlinde, mit der ich im Sandkasten gespielt hatte. Diese Frau, die da auf mich zusteuerte, würde den Sandkasten alleine schon ausfüllen. Wenn das aus Gerlinde geworden ist, dann danke ich meinem Gott auf Knien, dass Elmar damals am Schaukeln war und sie mir abgenommen hat.
„Hallo Jürgen! Oder muss ich Herr Pfarrer sagen?“, bellte mich eine whiskytiefe Stimme an.
„Früher klang die Stimme irgendwie niedlicher!“, dachte ich und überhaupt war früher ihre Figur ansehnlicher.
Ich sah sie an und schlug das Kreuz über ihr, so wie ich mir vorstelle, ein Pfarrer es machen würde.
„Sag einfach Hochwürden!“, bot ich gönnerhaft an.
Sie blickte auf mein Tablett, auf dem sich ein kleiner Müllberg angesammelt hat, was sie offenbar inspirierte.
„Ich hole mir nur rasch eine Kleinigkeit. Bin gleich wieder da.“, sagte sie und war schon auf dem Weg zum Verkaufstresen. Wenig später kehrte sie zurück, mit einer Kleinigkeit, wie sie es formulierte. Für mich wäre das eine Wochenration gewesen, die sich da auf dem Tablett türmte.
„Da hat wohl jemand tierisch Hunger!“, konnte ich mir eine feine dezente Spitze nicht verkneifen.
Doch sie schien es nicht mitbekommen zu haben, denn sie war bereits vollauf damit beschäftigt, sich eine Pommes nach der anderen einzuverleiben, als gäbe es kein Morgen. Doch dann fand sie doch noch Zeit, auf meine Bemerkung zu reagieren.
„Nur etwas Appetit!“, meinte sie, ohne mich dabei anzusehen.
Mehr sagte sie nicht und widmete sich der Kalorienzufuhr, die nach Vorgaben der Welternährungsgesellschaft, einer Wochenration entspricht. Überflüssiges Frittierfett wurde elegant über die Mundwinkel entsorgt und von ihrer Bluse aufgefangen. Leicht angewidert sah ich ihr beim Vertilgen der vitaminreduzierten Kost zu und konnt es nicht fassen, dass ich diese Frau einst geliebt hatte. Richtig widerlich wurde es aber erst, als sie einen dreistöckigen Burger auspackte. Ich rückte mit meinem Stuhl etwas vom Tisch weg, denn ich befürchtete, wenn sie versucht, auf der einen Seite in diesen Burger hineinzubeißen, flutscht auf der anderen Seite Einiges in meine Richtung. Wenn ich vorher geahnt hätte, was da auf mich zukommt, ich wäre besser vorbereitet. Nichteinmal einen Regenschirm zur Abwehr hatte ich zur Hand.
Ein Königreich für ein Regencape!
Nicht ohne Grund nennt es sich ja Fastfood! Was
Übersetzt so viel wie „fasst Essen“ heißt.
Unter Vernachlässigung der „Leer-Mund-Sprechettikette“, begann Gerlinde damit, mir ihr Problem zu erläutern, in fester Absicht, es zu meinem machen zu wollen.
„Jürgen, ich bin am Ende! Mein Leben ist ein Scherbenhaufen. Du kannst dir das ja nicht vorstellen!“
„Nein!“, antwortete ich knapp und entfernte einen Zwiebelring von meiner Jacke.
„Möchtest du sie noch essen?“
„Nein, iss nur!“, meinte Gerlinde großzügig.
Dankbar nickte ich ihr zu und in einem Moment des unbeobachtet Fühlens, warf ich sie rasch unter den Tisch, wo sie sich mit zwei Gurken und einer Tomatenscheibe anfreunden konnte.
„Elmar will mich verlassen, hat er mir gestern gestanden!“, entfuhr es ihr und dicke Tränen kullerten ihre Wangen hinab und durchweichten das trockene Sesambrötchen.
„Hat er eine andere?“
Sie wischte sich, mit den fettigen Fingern, die Tränen aus dem Gesicht.
„Na, das sollte er sich mal unterstehen! Nein, er denkt, er muss sterben.“
„Oh!“, sagte ich, so pastoral wie es mir möglich war.
Jedenfalls hoffte ich, dass es entsprechend rüberkommen würde.
„Danke, deine Anteilnahme tröstet mich. Man merkt doch gleich, dass du das beruflich machst. Du hast da wirklich den richtigen Ton getroffen.“, schluchzte sie laut und zog sogleich die Blicke aller Vitaminkostverächter auf sich. Einige böse Blicke, die mir nicht verborgen blieben, galten offensichtlich mir. Dies nötigte mich zu einer Stellungnahme, denn ich befürchtete, womöglich als Frauenschläger gehalten zu werden.
„Sie weint nicht etwa, weil ich sie geschlagen habe, sondern ausschließlich wegen der Zwiebeln! Zudem bin ich ein Geistlicher. Ein Mann Gottes. Ich verehre Frauen und wäre ich nicht mit dem Zölibat gegeißelt, so würde ich sie sogar lieben.“, verteidigte ich mich.
Mit dieser Brandrede konnte ich das Schlimmste verhindern. Ich war heilfroh, dass in diesem Restaurant, aus ökologischen Gründen, kein Besteck bereitgehalten wird, sonst wäre mir das ein oder andere Messer längst sicher gewesen.
„Bravo! Du bist ein Meister des Wortes.“, rief Gerlinde und klatschte begeistert in ihre fettigen Hände.
„Jetzt putz dir erstmal die Nase und dann erzähl mir, warum Elmar sterben will.“, dämpfte ich ihre Begeisterung für mich.
„Wollen will er ja nicht, aber müssen muss er, glaubt er jedenfalls!“
„Was sagt der Arzt?“
„Ärzte lehnt er prinzipiell ab. Er ist ein sehr misstrauischer Mensch und vertraut nur seiner eigenen Meinung.“
„Ja aber will er denn gar nicht wissen, woran er stirbt?“
„Nein. Elmar war noch nie neugierig. Mein Tagebuch liegt immer offen rum und er hat noch nie darin gelesen, obwohl ich es extra offen hinlege, damit er liest, was mir an ihm missfällt. Das würdest du doch nie tun, oder?“
„Was werde ich nicht tun?“, fragte ich nach.
„Du würdest doch bestimmt niemals mein Tagebuch nicht lesen!“
„Natürlich nicht!“, sagte ich, um Gerlinde etwas aufzuheitern.
„Warum habe ich nur dich nicht geheiratet!“, seufzte sie.
„Du bist ein Mann, der sich für die geheimsten und intimsten Gedanken einer Frau interessiert. Was für eine Verschwendung, dass du diesen frauenfeindlichen Beruf ergriffen hast.“
Während ich aus ihren Worten Bewunderung für mich heraushören konnte, war ich überglücklich, für die von mir getroffene vorgeschobene Berufswahl.
„Wenn es dir helfen sollte, dann lese ich gerne dein Tagebuch!“, bot ich ihr an.
Sofort veränderte sich ihr Ausdruck und sie beäugte mich misstrauisch.
„Du willst doch nur wissen, ob und wenn ja, was ich über dich geschrieben habe. Das geht nur meinen Mann und mich was an. Bloß weil du ein professioneller Beichtenabnehmer bist, glaubst du wohl, deine Nase überall reinstecken zu dürfen. Dein nichtvorhandener Priesterrock erlaubt dir noch lange nicht, in die Untiefen meiner Gedankenwelt einzutauchen. Ich soll wohl vor dir emotional blankziehen, bloß weil du mich nie ins Bett bekommen hast?“
Ehe ich auch nur ansatzweise mich gegen die Beschuldigungen zur Wehr setzen konnte, bekam ich eine schallende Ohrfeige. Unter dem tosenden Applaus des Freundeskreises: „Nahrungsergänzender Speisen in Altöl frittiert“, ließ sich Gerlinde es nicht nehmen, mir eine Zugabe zu verpassen und verließ wutschnaubend die schottisch klingende Spitzengastronomie.
Ich tat hingegen das, was wohl jeder andere „Geistliche in Teilzeit“ auch getan hätte! Ich begann hemmungslos zu weinen.
Unter hämischem Gejohle verließ ich den Ort meiner bis dato größten Schande.
All dies geschah gestern und zum Ersten mal in meinem Leben betete ich inständig, bevor ich zu Bett ging.

„Lieber Gott! Wir kennen uns ja noch nicht so gut. Und da dachte ich, ich mach mal den Anfang. Du sollst ja immer ein offenes Ohr haben, wie ich so höre. Dann hör mal zu! Hallo! Bist du da oder hast du noch ein anderes Gespräch?“
Da von der anderen Seite nur Schweigen zu hören war, entschloss ich mich, ihm etwas Zeit zu lassen. Doch auch nach dem akademischen Viertel, was ich ihm eingeräumt hatte, bekam ich keine Antwort. Auch empfand ich das Knien nicht nur lästig, sondern auch sehr schmerzhaft. Letzteres tat ich nur, um ihm meinen guten Willen zu zeigen, da es wohl bei ihm üblich ist, Gespräche knieend zu führen. Wobei mir nie klargeworden ist, ob das einseitig so ist oder ob er sich dabei auch hinkniet. Man sieht ihn ja nicht. Das macht eine Überprüfung äußerst schwierig. Skypen wäre da sicher eine nette Alternative. Aber soweit scheint der Herr noch nicht zu sein. Selbst mit meiner Mutter kann ich inzwischen skypen. Wobei sie ihre eigene Variante benutzt. Sie hat einfach ein Foto von mir neben dem Telefon stehen. Für alte Menschen ist es eben nicht so einfach, mit der neusten technologischen Entwicklung Schritt zu halten. Dafür muss man Verständnis haben. Und Gott ist ja noch älter als meine Mutter.
Nachdem die fünfzehn Minuten vorbei waren, startete ich einen letzten Versuch, um mit Gott ins Gespräch zu kommen.
„Hallo! Jemand zuhause?“
Ich lauschte, doch mein Ruf blieb ungehört. Da hatte ich dann die Schnauze voll. Wer nicht will, der hat schon. Ich legte mich ins Bett, rieb mir meine Knie mit einer Hornhautcreme ein und bildete mir meine eigene Meinung und verzichtete auf das Einholen einer Zweitmeinung.
Äußerst aggressiv wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Ich öffnete noch verschlafen die Augen und was ich da sah, überraschte mich. Ich sah nämlich nichts. Folglich wagte mein Smartphone, sich mitten in der Nacht ungebeten zu melden, wohlwissend, das ich um diese Uhrzeit gewöhnlich schlafe. Entsprechend ungehalten meldete ich mich.
„Was?“, schrie ich.
„Ich bring ihn um!“, flüsterte eine aufgeregte Stimme.
„Nett das sie mir Bescheid sagen!“, flüsterte ich, in einem sarkastischen Unterton zurück.
„Viel Erfolg und gute Nacht!“
Dann drückte ich das Gespräch weg und drehte mich wieder um, zog die Decke über den Kopf und begann Schäfchen zu zählen, für den Fall das ich nicht wiedereinschlafen kann.
Bevor das dritte Schaf mir erschien, klingelte es abermals.
„Aber ich bin es doch, Gerlinde! Hilf mir oder ich bring ihn um.“
Jetzt erst erkannte ich die Stimme der Ohrfeigenausteilerin.
„Was willst du?“
„Ich brauche deinen seelischen Beistand. Oder willst du, dass ein Mensch wegen unterlassener Hilfeleistung stirbt? Du bist Pfarrer und ich bin eine arme Seele, die gerettet werden muss!“
Ich weiß nicht warum, aber eine halbe Stunde später saß ich in demselben Fastfoodrestaurant, wo ich gestern war, und wartete auf Gerlinde, die gerade dabei war ihre Bestellung aufzugeben.
„Sechs Uhr am morgen und ich sitze in der Systemgastronomie, deren Erfolgsrezept es ist, die Verfettung der Menschheit voranzubringen. Und das Konzept funktioniert beispielhaft. Die sind wirklich dick im Geschäft. Ihr Kundenstamm wächst von Tag zu Tag.“
Ich plapperte so vor mich hin, bis Gerlinde mit ihrem Pommes-Frühstück an den Tisch kam.
„Ich brauche morgens immer eine Kleinigkeit, sonst rebelliert mein Magen.“, erklärte sie die drei doppelstöckigen Burger, die Pommes und die zwei Apfeltaschen, die wohl als Dessert gedacht waren. Dazu eine große Cola, die unverzichtbar ist, um den ganzen Kram überhaupt herunterzubekommen. Mir brachte sie einen Kaffee mit, den ich ihr auch sogleich bezahlte. Ich legte ihr einen Fünfeuroschein hin, den sie wortlos einsteckte. Ich probierte ihn und so wie er schmeckte, müsste ich eigentlich wenigstens vier Euro zurückbekommen. Doch Gerlinde machte keinerlei Anstalten in dieser Hinsicht, was mich vermuten ließ, sie hatte großzügig Trinkgeld gegeben.
„Also, was ist los oder willst du mir gleich eine Ohrfeige geben, damit wir nahtlos da anfangen können, wo wir gestern aufgehört haben?“, eröffnete ich die Debatte.
Gerlinde ging erst gar nicht auf den diskret vorgebrachten Vorwurf ein. Sie ging ohne Umschweife auf ihr seelisches Problem ein, was sie jedoch nicht daran hinderte, Pommes im Sekundentakt in sich hineinzustopfen.
„Das war gestern sehr unschön. Sei froh, dass ich nicht nachtragend bin, sonst hätte ich dich nicht angerufen.“
Innerlich blieb mir der Mund, weit offen stehen, bei so viel unverfrorener Dreistigkeit.
„Ja, es tut mir unendlich leid und ich entschuldige mich vollumfänglich!“, hörte ich mich sagen und war kurz davor mir selbst eine zu scheuern.
„Gut das du das einsiehst! Mein Glauben in die Kirche war schon fast erschüttert. Ich habe sogar die Aussetzung der Kirchensteuer ernsthaft erwogen. Aber ich habe mich dagegen entschieden, denn ich möchte nicht Schuld daran sein, wenn der Petersdom verfällt, weil sie kein Geld mehr für die Restaurierung haben.“
„Und mein Gehalt nicht zu vergessen!“, warf ich ein.
„Eben! Deshalb erwarte ich auch, dass du mir hilfst.“
„Ja natürlich!“, antwortete ich und nahm einen Schluck von der schwarzen Brühe, die vorgibt Kaffee zu sein.
Damit war das Gespräch vorerst beendet, denn Gerlindes Frühstück drohte zu erkalten. Sie verdoppelte ihre Essgeschwindigkeit, um dem Erfrierungstod ihrer Pommes entgegenzuwirken.
„Ja ja“, sagte ich gedankenverloren und ging dem schlechten Geschmack in meinem Mund nach, „die Sixtinische Kapelle bräuchte auch mal einen neuen Anstrich.“
„Bist du in einem Musikverein?“, fragte sie plötzlich.
Ich dachte einen Augenblick über die Frage nach. Mir war nicht ganz klar, wie sie auf diese Frage kam und ich war auch nicht besonders daran interessiert, ihr intime Einblicke in mein Leben zu gestatten.
Um sie auf eine falsche Fährte zu locken, sagte ich einfach: „Ja!“
Das entsprach zwar der Wahrheit, aber ich sagte es mit einem unglaubwürdigen Unterton, den man sofort als Lüge erkennen kann. Diese, von mir entwickelte „Wahrheit als Lüge Taktik“ ging auf. Ich erkannte es daran, wie Gerlinde ihr „Aha!“ Rhetorisch gestaltete, was keinen Zweifel zuließ, hier lügt mich gerade jemand ganz unverschämt an.
„Jürgen, jetzt frage ich dich einfach mal ganz spontan und erwarte das du „ja“ sagst!“
Sie sah mich an, mit einem Blick, der nicht gerade darauf schließen ließ, es gäbe noch Diskussionsspielraum.
Zum Zweiten mal, binnen vierundzwanzig Stunden, war ich in der Defensive. Schon damals war sie so hinterlistig und ich wurde von ihr um meinen Platz auf der Wippe gebracht. Sie hat sich bis heute nicht verändert. Diese Frau ist der personifizierte Untergang aller anständiger Männer. Wenn sie nur einmal gefragt hätte, ob ich ihr den Wippenplatz abtrete oder gar mit ihr zusammen wippe, wer weiß, was aus uns geworden wäre. Vielleicht wären wir heute glücklich verheiratet. Na ja, verheiratet vielleicht, glücklich wohl eher nicht. Wahrscheinlich würden Ohrfeigen unseren Ehealltag bestimmen.
„Ich will, dass Elmar bei dir wohnt!“, sagte sie so geradeheraus und traf mich so unvorbereitet, dass ich die braune Brühe über den Tisch spie.
Panisch sah ich sie an. Gerlinde erwartet doch nicht ernsthaft, ich würde meinen ärgsten Widersacher bei mir wohnen lassen. Sofort begann ich, mir eine Antithese zuzulegen, die mich wieder aus dieser Gefahrenzone entlassen könnte. Doch der frühe morgen, die widerliche Brühe und ein knurrender Magen verhinderten, einen entsprechenden Denkprozess zum Erfolg zu führen. Ich war, in dieser bedrohlichen Situation, meiner ausgeprägten Morgenmuffeligkeit hilflos ausgesetzt. Und das nutzte sie schamlos aus. Eine Frau, die über Leichen geht, nur um sich den Mann untertan zu machen. Spätestens jetzt hasste ich sie aus ganzem Herzen. Ob ich nun Pfarrer war oder eben nicht. Darauf nahm ich keine Rücksicht mehr. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und mit einem letzten Funken von männlicher Würde, sagte ich, was wohl jeder andere Mann auch gesagt hätte: „Na ja, wenn du meinst.“
„Du hast doch im Pfarrhaus genug Platz! Und wie steht schon in der Bibel: Klopfet, so wird euch aufgetan!“
Damit hatte sie mich final niedergerungen. Gegen die Bibel kommt man einfach nicht an.
„Ich gewähre Elmar Kirchenasyl, in Gottes Namen!“
Mit diesen spontan zusammengesetzten Worten hatte ich einen Satz kreiert, der ein Zurückrudern unmöglich machte. Führerlos trieb ich ungebremst auf die Niagarafälle zu.
Gerlinde stand auf, kam um den Tisch herum. In der einen Hand ein angebissener Burger, in der anderen die Cola. Schützend hielt ich sicherheitshalber meine Hände vor mein Gesicht. Sie stand hinter mir. Deutlich konnte ich ihren Atem spüren, der nach rohen Zwiebeln und altem Fett rochen. Dann drückte sie mir ihren ehemaligen flachen Bauch ins Kreuz und umarmte mich. Gott war mir schlecht!
„Es ist auch höchstens für ein bis zwei Wochen, bis er wieder gesund ist.“, flüsterte sie mir ins Ohr.
Ich hielt den Atem an, denn noch war die Gefahr nicht gebannt. Noch war ich in ihren Armen gefangen. Doch langsam lockerte sie die Umklammerung und ich bekam die nötige Luftzufuhr, die mir ein uneingeschränktes Weiterleben ermöglichen sollte. Es war auch allerhöchste Zeit, denn mein Reservoir war bereits im roten Bereich. Ich hechelte gierig nach frischer Luft und musste mit der Einschränkung leben, dass sie fettdurchtränkt war. Und obwohl ich keinen Alkohol trinke, werde ich vermutlich jetzt an einer Fettleber zugrunde gehen, wenn nicht ein zuvorkommender LKW-Fahrer, mich von meinem Leiden erlöst und freundlicherweise überfährt, weil er gerade durch eine erhaltende WhatsApp-Nachricht abgelenkt ist.
Nun konnte zwar meine Luftröhre wieder einwandfrei ihren Dienst verrichten, dafür hatte ich jetzt Elmar am Hals. Ich war fast geneigt Gerlinde darum zu bitten, mich bis zum finalen Höhepunkt zu würgen. Denn in meiner labilen Gutmütigkeit hatte ich vollkommen verdrängt, dass ich überhaupt nicht in einem Pfarrhaus wohne. Jam wie auch, ich bin ja nicht einmal Pfarrer, nicht einmal Pfarrpraktikant, falls es sowas überhaupt gibt. Aber wie sollte ich ihr das nur erklären, ohne als Lügner dazustehen? Womöglich denkt sie dann, ich hätte sie nur deshalb belogen, um sie ungeniert ins Bett zu kriegen. Plötzlich sah ich sie mit ganz anderen Augen. Ich drehte mich zu ihr um und sah in ihr Gesicht, was mich erleichtert anlächelte. Ja, jetzt sah man es ganz deutlich, sie ist eine Schlampe. Ein Flittchen, was es drauf anlegt einen ehrbaren Pfarrer zu verführen und in ihr Bett zu zerren, wo er widernatürliche Dinge über sich ergehen lassen muss, für die er nicht geboren ist. Und Elmar dient nur als ein Vorwand!
„Deine Pommes werden kalt!“, sagte ich eiskalt. Gefrierbrand lag in meinem Vibrato.
Ich erhob mich, wie ein Eisberg aus den arktischen Fluten. Mein kaltes Herz war zu einem einzigen Eisklumpen gefroren. Das einzige was mich jetzt noch daran hindern konnte, ihr ein „Schlampe“ in ihr Flittchengesicht zu schleudern, war ihre schlagkräftige Vorhand, deren Abdrücke sich noch nicht zurückgebildet hatten. Sie waren so deutlich sichtbar, dass man ohne Mühe Fingerabdrücke abnehmen könnte und Gerlinde damit zu identifizieren, falls man mich irgendwo tot auffinden sollte. Deshalb werde ich vorsichtshalber mein Gesicht nicht waschen, um nur ja keine Spuren zu verwischen. Womöglich würde ich mich damit sogar strafbar machen! (Vertuschung einer Straftat oder sowas Ähnliches.)
Ich muss ganz dringend einen Anwalt konsultieren, der mich, falls ich in Untersuchungshaft komme, wieder rauspauken kann. Am besten einen möglichst Zwielichtigen. Die sind erfolgreicher, weil sie alle Winkelzüge kennen! Ich brauche halt einen Skrupellosen, der auch vor Zeugenmanipulation nicht halt macht. Ich brauche einen der früher, als Türsteher auf der Reeperbahn, gearbeitet hat und nach wie vor Kontakte in das Milieu hat, falls ein Auftragsmord nötig sein sollte. Er muss unbedingt mit allen Wassern gewaschen sein, besonders mit sehr schmutzigem! Am besten einen, der täglich in Jauche und Gülle badet! Einen, dessen Taufpate ein richtiger Pate ist. Nein, besser einen Ungetauften, damit er nicht in einen Gewissenskonflikt gerät. Oder noch besser, gleich einen ohne Gewissen! Da ist die Auswahl auch wesentlich größer. Vorbestraft wäre ein großer Pluspunkt!
Unverhofft klingelte plötzlich das Smartphone und ich reagierte blitzschnell. Ich erkannte meine Chance, elegant aus meiner Misere herauszukommen und damit auch noch bei Gerlinde Eindruck zu schinden.
„Eminenz, welch eine große Ehre!“, rief ich freudig erregt.
Und es hatte die erhoffte Wirkung nicht verfehlt. Gerlinde unterbrach sofort die Pommeszufuhr.
„Der Bischof?“, fragte sie leise und sah mich ehrfürchtig an.
Ich deutete nur mit dem Finger nach oben.
„Oh mein Gott!“, stieß sie aus.
Ich senkte den Daumen.
„Nicht ganz so hoch!“, flüsterte ich.
„Der ... der Kardinal!“, stotterte sie und ihre Augen wurden immer größer.
Ich nickte zustimmend.
„Natürlich Eminenz. Welch eine Freude. Und Ehre. Ich bin doch nur ein kleiner Gärtner im Garten des Herrn. Oh danke. Ja ich warte.“
Gerlinde sah mich vielsagend an und rutschte aufgeregt auf dem Stuhl. Die Lust auf Essen war ihr vergangen. Sie wusste genau, sie wurde gerade Zeugin einer großen Sensation.
Ich spürte, auf dem richtigen Weg zu sein. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der Weg, den ich beschritten hatte, musste bedingungslos fortgesetzt werden. Nur so kam ich aus dem Schlamassel heraus.
„Ich werde nach Rom durchgestellt!“, erklärte ich und Gerlinde hielt es nicht mehr auf ihrem Platz.
Während ich noch auf meinen neuen Gesprächspartner wartete, lief Gerlinde von Tisch zu Tisch und erzählte in heller Aufregung, wer in wenigen Sekunden telefonisch hier zur Audienz einladen wird. Bis auf einen, vermutlich reaktionären Atheisten, strömten alle Gäste an unseren Tisch. Selbst sämtliche Bedienstete der Systemgastronomie unterbrachen ihre Auftau-, Aufback-, Frittier- Verpackungs- und Verkaufstationen und eilten herbei. Der Filialleiter schickte einen der Burgerazubis los, um Kerzen zu besorgen. Das Licht wurde gedimmt, damit eine, dem Anlass entsprechende Stimmung erzeugt werden konnte. Meditative Ruhe lag in der Luft. Niemand wagte zu sprechen, um nur ja nicht diesen großen Moment zu zerstören, der gerade hier vonstattenging. Ähnlich muss es damals gewesen sein, als Jesus auf seinem Esel in Jerusalem einzog. Selbst mich erfasste diese Stimmung. Und dann war es endlich soweit, worauf alle gewartet hatten. Der Azubi erschien mit den Kerzen. Rasch wurden sie unter den Gläubigen verteilt und entzündet. Die glockenhelle Stimme einer Sopranistin untermalte dieses andächtige Bild, indem sie leise das „Halleluja“ intonierte. Zwar etwas schüchtern, denn ohne ihre Chorgemeinschaft war ihr doch etwas unwohl. Auch in der Melodieführung wies sie einige Unsicherheiten auf, was zu einigen Dissonanzen führte. Aber der Gedanke zählt eben und so hörte ich darüber hinweg. Aber eine Nachschulung halte ich für dringend erforderlich. Einzig trübte etwas die feierliche Atmosphäre, durch das Fehlen von Weihrauch, was der beißende Geruch von ranzigem Frittenfett nicht aufwiegen konnte.
Mit „Bongiorno Exzellenz!!“, durchbrach ich die andächtige Stille, der im Gebet vereinten Gäste und Mitarbeiter.
„Si! Si! Si!“
Nur drei einfache Worte die ich in gebührendem Abstand aussprach und die versammelte Gemeinde ging auf die Knie.
Mit einer huldvollen Geste „Erhebt euch wieder, denn es ist noch verfrüht“, zeigte ich ihnen an, sich noch zu entspannen, bevor es ernst wird. Kaum das sie sich alle erhoben, sprach ich die Worte in mein Smartphone, die sie sofort wieder veranlasste, in den Staub hinabzugleiten. Dort waren sie für den Moment auch gut aufgehoben, bis zu dem Augenblick, indem ich ihnen gestatte, ihre unwürdigen Körper wieder zu erheben. Ich genoss diese Machtperspektive, die sich mir bot. Von einem Niemand zu einem Jemand, durch die suggestive Kraft eines Anrufs, den wohl keiner je erwartet haben dürfte. Am wenigsten ich. Und ich ließ sie zappeln. Denn noch war ER nicht am anderen Ende der Leitung. Was wohl auch daran lag, dass ER, in seinem Alter nicht mehr so gut zu Fuß war. Aber die Vorfreude ist ja bekanntlich die größte Freude. Und meine Geduld war grenzenlos, zumal ich es auch weitaus bequemer auf meinem Stuhl hatte, als meine bodenknieenden Jünger. Mein Stuhl war sozusagen der Esel, der einst Jesus von Erfolg zu Erfolg trug.
„Santo Padre!“, rief ich in die Stille des Augenblicks.
Man hätte in diesem Moment eine Pommes auf dem Boden aufschlagen hören können. So viel Andacht war wohl noch nie in einem Fastfoodrestaurant.
„Si! - Io? - Molte Grazie! – ciao!“
Behutsam und sehr vorsichtig legte ich mein Smartphone, als wäre es eine der heiligen sakralen Insignien auf den Tisch.
„Il Papa hat mit mir gesprochen!“, flüsterte ich nur leise mit gebrochener Stimme.
Voller Ehrfurcht sahen mich alle an. Niemand wagte es, durch eine unqualifizierte Äußerung, diesen würdevollen und einzigartigen Augenblick zu zerstören. Man hatte das Gefühl, die ganze Welt hält den Atem an. Selbst das die Erde für einen Moment angehalten hat sich zu drehen, war nicht auszuschließen, aber nicht beweisbar.
Dann endlich kam die erlösende Antwort, die ich sorgsam zelebrierte.
„Der Stellvertreter Christi hat mich nach Rom, an seine Seite berufen!“
Ich blickte in ein Meer offener Münder, in die unzählige Tränen flossen.
„Purpur gewandet soll ich werden und mit dem Papst die göttliche Botschaft zu verkünden. Gehet nun hin und verbreitet die frohe Kunde. Einer aus eurem Kreis ist der Auserwählte und die Wahl fiel auf mich.“
Dann spendete ich ihnen noch den Segen, für den ich, in Ermangelung eines Weihrauchgefäßes, den Salzstreuer verwandte.
Wenige Minuten später war ich alleine. Nur Gerlinde kniete noch da.
„Erhebe dich Sünderin!“, gestattete ich ihr.
Schwerfällig tat sie es, denn es war ihr ein Leichtes gewesen zu Boden zu sinken, doch die Schwere ihres Gewichtes wieder aufzurichten, war ungleich anstrengender. „Dann kann Elmar wohl nicht zu dir ... zu euch ... Eminenz ... Hochwürden ... oder wie darf ich euch nun ansprechen?“
„Solange ich noch nicht die Insignien der Macht erhalten habe, darfst du weiter Jürgen sagen.“, gestattete ich ihr, in alter Verbundenheit.
Man sah ihr an, wie dankbar sie war und als ich ihr erlaubte, sich zu mir an den Tisch zu setzen, da kullerten Tränen des Glücks über ihre hängenden Wangen.
„Dann muss ich wohl Elmar bei mir behalten. Vielleicht bessert sich ja alles wieder, wenn er erst diese Grippe wieder los ist.“
„So sei es Gerlinde! Und nun geh und bedenke, was in der Heiligen Schrift steht: Das Weibe sei dem Manne untertan!“
Mit einer eleganten Handbewegung deutete ich ihr an, sie könne sich nun entfernen.
„Geh hin und mache deinem Mann eine Hühnersuppe. Das wird alle deine Probleme lösen. Halt, noch eins Gerlinde!“
Sie drehte sich noch ein letztes Mal zu mir um und ich hielt ihr meine Hand entgegen. Sie küsste meinen Siegelring und ging tiefverbeugt rückwärts zur Tür.
„Ein letzter Rat sei mir noch gewährt, bevor ich in die Heilige Stadt reise, nimm ab!“
Sie versprach es hoch und heilig. Doch da ich weiß, dass der Geist willig, aber das Fleisch schwach ist, wies ich den Restaurantmanager an, ihr Hausverbot zu erteilen.
Bevor ich den laden verließ, schenkte er mir noch einen Burger, den ich genüsslich aß. Noch am selben Tag verließ ich die Stadt und zog zu meiner Mutter, bei der ich mich erst einmal entschuldigte, weil ich sie am Telefon weggedrückt hatte.

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