Dass durch die Maßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie nicht „die Wirtschaft“ vor die Wand gefahren wird, sondern nur Teile davon, dürfte sich mittlerweile rumgesprochen haben, denn schließlich ist ja offensichtlich, dass die Vermögen der Reichsten dieser Welt gerade im Rekordtempo anwachsen, Digitalkonzerne und Pharmafirmen große Gewinne machen und die Börsen im Dauerpartyzustand sind. Das ist nicht nur sehr erfreulich für diese Krisengewinnler, sondern hilft auch, das immer mehr aus dem Ruder gelaufene und immer offensichtlichere Verwerfungen produzierende neoliberal-kapitalistische Wirtschaftssystem am Leben zu erhalten.
Die neoliberale Wirtschaftspolitik hat sich nämlich in eine Sackgasse manövriert mit ihrer „Sparpolitik“, in deren Zuge die „Schuldenbremse“ sogar Verfassungsrang bekommen hat. Diese rein ideologische Ausrichtung, dass nämlich der Staat sich aus der Wirtschaft möglichst weitgehend raushalten und stets einen ausgeglichenen Haushalt präsentieren muss, steht im Widerspruch zur Saldenmechanik.
Die Saldenmechanik ist ein Begriff aus der Ökonomie und beschreibt, vereinfacht gesagt, Folgendes: Einnahmen auf einer Seite stehen immer Ausgaben auf der anderen Seite gegenüber. Klingt logisch, bedeutet dann aber, auf Schulden angewendet, dass das Sparen auf einer Seite immer auch mit der Verschuldung einer anderen Seite korrespondieren muss.
Wir haben nun drei Sektoren in der Wirtschaft: die Unternehmen, die privaten Haushalte und die öffentliche Hand. Das Problem seit der Finanzkrise 2008 (und teilweise schon zuvor): Die Unternehmen sparen, es gibt dort einen Investitionsstau. Die privaten Haushalte sparen ebenfalls, da immer mehr Menschen weniger Geld zur Verfügung steht und die Löhne mit Preisentwicklungen bei Mieten und Energie nicht mithalten können. Und dank der Schuldenbremse spart nun auch die öffentliche Hand, was uns dann stolz als „schwarze Null“ verkauft wird.
Blöderweise läuft dann die Wirtschaft nicht mehr rund, da eben aufgrund der Saldenmechanik mindestens einer der Sektoren Schulden aufnehmen muss, um das Sparen der anderen auszugleichen. In einer Boom-Phase sind das die Firmen, die neue Investitionen tätigen, um der durch Lohnsteigerungen erhöhten Nachfrage der Privathaushalte gerecht werden zu können. Dann kann die öffentliche Hand sparen und die Schuldenlast reduzieren. Bei einem wirtschaftlichen Abschwung oder gar einer Rezession hingegen sparen die privaten Haushalte, da sie weniger Geld zur Verfügung haben aufgrund von Arbeitslosigkeit und stagnierenden/sinkenden Löhnen, und die Unternehmen, da die Nachfrage einbricht. Hier muss dann die öffentliche Hand einspringen und Geld investieren, um diesem Abwärtstrend entgegenzuwirken.
Tja, und genau das geht jetzt nicht mehr – dank der großartigen Idee einer „Schuldenbremse“.
Jetzt kann man sich natürlich fragen, ob unsere Wirtschaftspolitiker einfach nur ein bisschen dämlich sind und solche elementaren wirtschaftlichen Grundkenntnisse nicht besitzen. Oder aber ignorieren sie diese einfach aus ideologischen Gründen? Das scheint mir wahrscheinlicher.
In jedem Fall bietet sich nun gerade eine wunderbare Gelegenheit, aus diesem Dilemma herauszukommen. Denn der Lockdown bringt nicht nur viele private Haushalte aufgrund von, beispielsweise durch Kurzarbeit, weniger Einkommen oder gar bei vielen Selbstständigen, Studenten und Kleinunternehmen nahezu komplett wegfallenden Einnahmen in finanzielle Nöte, die nur durch Kreditaufnahmen gemildert werden können. Und auch der Staat nimmt in großem Maße neue Schulden auf, um Unternehmen zu unterstützen.
Es gibt nun also einen realpolitischen Anlass, um aus der ideologiebedingten und selbst verursachten Klemme herauszukommen. Und damit einen weiteren Aufschub für den Kollaps des ansonsten schon reichlich aus den Fugen geratene neoliberale Wirtschaftssystems zu bekommen. Wie praktisch!
Mal abgesehen davon, dass diese ganzen Kreditaufnahmen natürlich auch die von den Neoliberalen eh immer gern gepäppelte Finanzwirtschaft freuen. Na ja, und an den Börsen herrscht zurzeit aufgrund der großen Mengen an öffentlichen Geldern, die nun in den Privatsektor gepumpt werden, ohnehin Partystimmung …
Ein weiterer Aspekt betrifft eine dem Kapitalismus innewohnende Tendenz, die von Thomas Piketty in seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ empirisch belegt und beschrieben wurde (eine gute Zusammenfassung davon gibt der Autor selbst in einem Artikel in den Blättern für deutsche und internationale Politik): Die Rendite, also die Erträge aus Kapital oder auch Grund und Boden, sind auf lange Sicht gesehen immer höher als das Wachstum der Realwirtschaft.
Das kann man zurzeit auch in verstärktem Maße beobachten, wenn man sieht, dass die Vermögen der reichsten Menschen immer absurdere Größenordnungen annehmen. Und dass Jahr für Jahr immer weniger Superreiche notwendig sind, um genauso viel Vermögen zu besitzen wie die ärmere Hälfte der gesamten Weltbevölkerung. Auch eine Grafik auf statista, welche die Verteilung des Reichtums auf der Welt im Jahr 2019 darstellt, verdeutlicht, dass hier ein massives Ungleichgewicht besteht.
Diese systemimmanente Entwicklung muss früher oder später zum Scheitern des Kapitalismus führen – und das wäre vermutlich auch schon längst geschehen, wenn nicht im 20. Jahrhundert zweimal quasi eine Art „Reset-Knopf“ gedrückt worden wäre, und zwar in Form der beiden Weltkriege. Danach war nämlich so viel kaputt, dass die Produktivitätszuwächse der Realwirtschaft im Zuge der Wiederaufbauarbeit stark anstiegen und so das Auseinanderklaffen mit den Renditen ein Stück weit nivellierten. Was natürlich immer nur von begrenzter Dauer war.
Und nun erweist sich die Corona-Pandemie als ein ähnlich gravierendes globales Ereignis mit enormen wirtschaftlichen Schäden für viele, und es ist ja schon immer wieder zu hören, dass die Wirtschaft nach Beendigung der Pandemie (wann immer das sein wird) wieder ordentlich wachsen würde. Eben genauso wie nach den beiden Weltkriegen.
Das Problem dabei: Der Neoliberalismus basiert nicht nur auf einem vollkommen absurden Modell (Ulrike Herrmann beschreibt dies sehr anschaulich und gut verständlich in ihrem Buch „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“ oder auch, etwas kompakter, in einem Artikel in den Blättern für deutsche und internationale Politik), das sich zudem in der Realität schon längst als falsch erwiesen hat, sondern hängt auch noch an wirtschaftspolitischen Vorstellungen aus dem letzten Jahrtausend.
Der US-amerikanische Ökonom James K. Galbraith schildert in einem Artikel in den Blättern für deutschen und internationale Politik, warum die Idee, nun genauso wie nach den Weltkriegen im 20. Jahrhundert einfach Geld in die Wirtschaft zu kippen, und dann würde schon wieder alles so laufen wie vor der Krise, in einer Dienstleistungsgesellschaft nicht so einfach funktioniert wie in einer Produktionsgesellschaft. Da viele der Dienstleistungen, die wir alltäglich außerhalb der Lockdowns nutzten, nicht lebensnotwendig sind (Friseure, Kosmetikstudios, Gastronomie usw.), diese also unserem materiellen Überfluss entspringen, werden sie auch nicht so ohne Weiteres wieder in Anspruch genommen werden. Viele Menschen arbeiten nämlich in genau diesem Dienstleistungssektor und haben nun wesentlich weniger Geld zur Verfügung, sodass sie eben keine Dienstleistungen von anderen bezahlen können. Hier droht, wie Gailbrath beschreibt, eine Abwärtsspirale.
Sollte also der „Reset“ nicht wie gewünscht funktionieren, drohen weitere soziale Verwerfungen und damit auch mehr Menschen unzufrieden zu werden. Sollten diese dann anfangen, den neoliberalen Kapitalismus infrage zu stellen, ist aber auch schon vorgesorgt worden, und auch hier erweist sich die Corona-Pandemie als hilfreich.
Der Großteil der Bürger ist nämlich zurzeit sehr verunsichert und verängstigt, sodass man ihnen mehr Überwachung aufs Auge drücken kann, die dann zukünftig hilft, systemkritische Proteste der zunehmend größeren Anzahl von Verlierern des Neoliberalismus zu unterdrücken. Das Ansinnen auf EU-Ebene, die Verschlüsselung von Internetkommunikation quasi aufzuheben, fällt beispielsweise unter diese Maßnahmen, genauso wie ja diskutiert wird, Impfnachweise zu etablieren, die ja nichts anderes sind als ein Schritt dazu, die Gesundheitsdaten der Bürger gläsern zu machen. Und auch die Verstetigung der nach 9/11 immer nur temporär gültigen Terrorismusbekämpfungsnormen in Gesetzesform weisen in diese Richtung.
Na ja, und dann kommt ja noch hinzu, dass die aktuell praktizierten Lockdown-Maßnahmen vor allem die Ärmeren hart treffen, wie gerade vonseiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgestellt wurde (eine Meldung dazu habe ich im deutschsprachigen Raum nicht gefunden, sondern nur auf msn.com auf Englisch), sodass deswegen appelliert wird, Lockdowns nicht als hauptsächliche Maßnahme gegen Covid-19 zu verwenden. Und gleichzeitig profitieren die Reichsten in großem Maße von exorbitanten Vermögenszuwächsen.
Die Cui-bono-Frage ist also mehr als angebracht. Und dabei geht es nicht darum, abstruse Mythen in die Welt zu setzen, dass die Profiteure der Pandemie diese auch verursacht haben, so wie beispielsweise simple Geister dann immer wieder gern pseudoironisch anmerken, dass dann ja wohl die Wall Street das Corona-Virus in die Welt gesetzt hätte.
Wenn jemand ein Portemonnaie auf der Straße findet, dann hat er das ja auch nicht dem Besitzer entwendet. Er fällt dann nur die Entscheidung, was er damit macht: zurückgeben oder behalten. Also die Situation, die sich zufällig so ergeben hat, zum Schaden eines anderen auszunutzen oder nicht.
Und es so wird m. E. immer offensichtlicher, dass die Pandemie ausgenutzt wird, um neoliberale Interessen zu bedienen und das marode System aufrechtzuerhalten. Auf diese Weise wird Zeit gewonnen, um systematische Änderungen zu verhindern – was uns vor allem in Hinblick auf den Klimawandel alle noch sehr teuer zu stehen kommen wird.
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