Der australische Psychologe Steven Taylor hat kurz vor Beginn der Pandemie ein Buch veröffentlicht, das sich als geradezu visionär herausstellen sollte. Im Interview verrät der Forscher, wie die Realität sich im Buch wiederfindet und was uns vermutlich noch bevorsteht.
„Die Pandemie als psychologische Herausforderung“ – das Buch des australischen Psychologen Steven Taylor wurde zu einer Art Leitfaden der Pandemie. Dabei veröffentlichte Taylor das Buch einen Monat, bevor Covid-19 sich in der chinesischen Stadt Wuhan ausbreitete. In dem geradezu prophetischen Werk untersucht der Australier die psychologischen Folgen – die der Krankheiten wie auch die der Restriktionen. Seitdem wiederholt sich die Geschichte scheinbar. Doch es gibt auch Abweichungen. Im Interview zieht Taylor nach über eineinhalb Jahren Pandemie Bilanz.
Sie haben sich anfangs schwer getan, für Ihr Buch einen Verlag zu finden und jetzt ist es ein absoluter Bestseller…
Steven Taylor: Im Jahr 2018, dem hundertjährigen Jubiläum der Spanischen Grippe, habe ich viele Interviews mit Medizinhistorikern, Virologen und Epidemiologen über die Möglichkeit einer weiteren Pandemie gehört und alle sagten, dass so etwas kein seltenes Ereignis sei, sondern alle paar Jahre oder Jahrzehnte passieren könne. Das hat mich interessiert und je mehr ich mich mit Pandemien befasste, desto mehr wurde mir klar, dass sie etliche psychologische Phänomene mit sich bringen und wie sehr die Überzeugungen der Menschen beeinflussen, was sie tun oder nicht tun. Die Anti-Lockdown-Proteste sind ein großartiges Beispiel dafür. Anfang 2019 schickte ich mein Buch dann an meinen Verleger, der meine anderen Bücher veröffentlicht hat, doch der sagte: „Das ist ja schon eine interessante Idee, aber niemand wird das lesen wollen.“ Also lehnte er es ab und ich war ernsthaft niedergeschlagen, weil ich mir so sicher war, dass dies ein wirklich wichtiges Thema ist. Letztlich habe ich dann einen anderen Verlag gefunden und das Buch kam einen Monat, bevor der Ausbruch in Wuhan bekannt wurde, raus. ‘And the rest is history‘, wie man so schön sagt...
Inzwischen sind über eineinhalb Jahre vergangen, seitdem Covid-19 offiziell eine Pandemie ist. Wo sehen Sie uns in Bezug auf Ihr Buch?
Steven Taylor: Menschen an verschiedenen Orten befinden sich in unterschiedlichen Stadien der Pandemie. Pandemien sind chaotisch und enden nicht ordentlich. Während die Menschen in Vancouver derzeit Lockerungen der Beschränkungen genießen und sich so verhalten, als ob es keine Pandemie gäbe, gibt es in Australien Ausgangssperren. Aber im Allgemeinen erleben die Menschen in vielen Gesellschaften gerade eine Pandemie-Müdigkeit, quasi ein langsamer Burnout. Die Menschen sind reizbar, sie fühlen sich depressiv und ängstlich. Viele sind ungeduldig und leicht reizbar. Mit dieser Pandemie-Müdigkeit geht einher, dass die Menschen sich weniger gut an soziale Distanzierung halten. Lockdown ist ein notwendiges Übel, aber es ist sehr ungesund für die geistige Gesundheit, da wir von Natur aus soziale Wesen sind. Anfang 2021 wurde den Leuten gesagt, dass wir Ende dieses Jahr mit dem Ende der Pandemie rechnen können, aber je mehr wir uns dem Ende des Jahres nähern, desto offensichtlicher wird es, dass dies aufgrund der Delta-Variante nicht der Fall sein wird. Stattdessen wurden wir aus dem Lockdown entlassen, um schließlich wieder in den Lockdown gesteckt zu werden (Anm: zumindest in manchen Ländern), was im besten Fall sehr frustrierend ist. Spielen dann aber noch Verschwörungstheorien mit, so denke ich, dass wir – je länger es dauert – umso mehr Proteste sehen werden und leider auch mehr schlechtes Benehmen.
Ist das neu oder wiederholt sich in dieser Pandemie die Geschichte?
Steven Taylor: Alle Phänomene, die wir während Covid-19 erleben, sind schon einmal aufgetreten: Der Anstieg der Angst, Panikkäufe und zunehmende Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Das ist auch in der Vergangenheit passiert und es ist bei praktisch jeder Pandemie passiert, die ich untersucht habe. Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind wie eine primitive Abwehrreaktion. Wir sind im Grunde tribalistische Kreaturen – wir haben eine „Wir-gegen-Sie-Mentalität“. Anfang 2020 gab es einen Anstieg des Rassismus, der von Leuten wie Donald Trump angeheizt wurde, die das Coronavirus als Wuhan-Grippe bezeichneten. Das hat wirklich nicht geholfen! Ein weiteres Phänomen, das es zuvor schon gab, sind all die Quacksalber, das Hydroxychloroquin, das Bandwurmheilmittel etc. All das ist nicht neu: Es gab Leute, die während der Spanischen Grippe Peroxid tranken und dachten: „Nun, Peroxid tötet Keime auf Tischplatten und Toiletten ab, vielleicht schützt es mich, wenn ich es trinke.“ Keine gute Idee, aber sehr ähnlich wie die Leute, die in den vergangenen Monaten Bleichmittel und Händedesinfektionsmittel getrunken haben. Die meisten Menschen sind also in gewisser Weise vorhersehbar und sie wiederholen Dinge, die die Menschen auch schon vor 100 Jahren taten.
Aber gab es zwischenzeitlich auch Überraschungen, die Sie nicht vorhergesehen haben?
Steven Taylor: Ich habe mit Verschwörungstheorien und Anti-Bewegungen wie Anti-Masken- oder Anti-Lockdown-Protesten gerechnet, aber ich war überrascht, wie prominent sie geworden sind. Verschwörungstheoretiker gab es schon immer und viele der Verschwörungstheorien wurden aus vergangenen Pandemien recycelt, aber derzeit scheint es, als wären Verschwörungstheoretiker aus allen ihren Höhlen herausgekrochen. Ein Grund dafür ist, dass sie von Leuten wie Trump oder Bolsonaro politische Aufmerksamkeit bekommen haben, die Covid als eine kleine Grippe bezeichnen. Und natürlich ist dies die erste Pandemie im Zeitalter der sozialen Medien, und dies erhöht die Geschwindigkeit, mit der sich Informationen und Fehlinformationen über den Planeten verbreiten.
Welche weiteren Parallelen und Unterschiede haben Sie beispielsweise zur Spanischen Grippe oder der Beulenpest im Mittelalter festgestellt?
Steven Taylor: Wenn wir von schweren Pandemien sprechen, deren Letalität höher ist als die der saisonalen Grippe, wie die Spanische Grippe 1918, die Russische Grippe von 1889, die Beulenpest im Mittelalter oder sogar die Pest von Athen 500 v. Chr. – das sind Pandemien die bei den Menschen extreme Reaktionen hervorgerufen haben. Sie bekommen eine Gruppe von Leuten, die sehr ängstlich werden, und dann gibt es das andere Extrem: Die, die denken, dass die ganze Sache ein Witz ist und man damit gut umgehen könne, solange man körperlich gesund sei. Eine weitere Ähnlichkeit besteht darin, dass sich in solchen Zeiten Frömmigkeit wie auch Gesetzlosigkeit mehren. Diese extremen Bedrohungen bringen alle Arten von unterschiedlichen Verhaltensweisen im Menschen hervor: Das Beste wie auch das Schlimmste.
Wie die Klopapier-Saga, die sich in mehreren Ländern abgespielt hat…
Steven Taylor: Ja, es gab mehrere Wellen von Panikkäufen beim Toilettenpapier und ein Teil davon wird durch die Erwartungen der Mitkäufer getrieben. Unabhängig davon, warum Toilettenpapier zu einem begehrten Artikel mit Seltenheitswert wurde – sobald es diesen „Titel“ verliehen bekommen hatte, blieb es dabei und wir werden während dieser Pandemie weiterhin immer wieder Panikkäufe von Toilettenpapier erleben. Was es definitiv schlimmer machte, war die Art und Weise, wie unsere Politiker damit umgingen. Wenn Sie vor einer Fernsehkamera stehen und den Bürgen sagen: „Keine Panik“ – dann bleibt das Wort „Panik“ bei den Leuten im Bewusstsein. Das ist ein psychologischer Effekt, der als Innuendo Effekt bezeichnet wird. Wenn ich dir sage: „John ist nicht schuldig“, wirst du in deinem Kopf „John“ und „schuldig“ bilden, und wenn Politiker aufstehen und den Leuten sagen: „Keine Panik wegen Klopapier“, dann denken die Leute, dass es da doch etwas geben müsse, warum sie in Panik geraten müssten, und sie rennen los in den Laden. Dabei wäre die Lösung abzuwarten und drei Tage später zu gehen, wenn der Supermarkt wieder leerer ist.
Warum passiert das alles?
Steven Taylor: Wenn Sie in einer Paniksituation sind und Angst haben, möchten Sie etwas tun. Es gibt Ihnen dieses Gefühl der Kontrolle. Das ähnelt dem Konzept des „Hygiene-Theaters“. Darunter versteht man den Putz- und Desinfektions-Hype, um sich vor Covid zu schützen wie Touchscreens zu desinfizieren. Das schützt Sie nicht wirklich, es vermittelt Ihnen aber die Illusion der Kontrolle. Gleiches gilt für Panikkäufe: Die Menschen haben einfach das Bedürfnis, etwas zu tun.
Wie wird sich das Ihrer Meinung nach in den kommenden Monaten noch entwickeln?
Steven Taylor: Es gibt eine Menge Unsicherheiten, aber eine Sache, die wahrscheinlich passieren wird, ist: Je länger sich das hinzieht, desto wütender und frustrierter werden die Leute und desto mehr Proteste werden wir sehen. Und wenn Sie eine Pandemie nehmen und in diese Mischung dann auch noch Waldbrände, Überschwemmungen oder ähnliches werfen, dann werden diese Dinge den Stress der Menschen erhöhen und Sie werden immer mehr Reizbarkeit und schlechtes Benehmen erleben. Meine große Sorge ist, was passiert, wenn es weitere Varianten gibt und wir Booster benötigen und es zu Verzögerungen bei der Öffnung kommt. Logischerweise könnten wir das alle aussitzen, wir können uns anpassen und Wege finden, mit den Dingen umzugehen, aber auf emotionaler Ebene werden die Menschen immer erschöpfter und fangen beispielsweise an, soziale Distanzierung zu missachten. In einer wirklich schlimmen Pandemie hat dies zu Zusammenbrüchen der Gesellschaft geführt. Die Spanische Grippe ist ein Beispiel dafür, wie die Infrastruktur zusammenbrach, es keine Müllabfuhr mehr gab, niemand mehr die Leichen begrub, es wegen all der Todesfälle nicht genug medizinisches Personal gab. Wenn sich dies also immer länger hinzieht, kann das Gefüge der Gesellschaft zerreißen und das gibt dann Anlass zur Sorge.
Könnte die Menschheit im schlimmsten Fall sogar ausgelöscht werden?
Steven Taylor: Nein, die meisten Menschen sind widerstandsfähig und erholen sich und ein Beweis ist, wie wir frühere Pandemien überlebt haben. Wir haben als Spezies drei Jahrhunderte wiederkehrender Beulenpestwellen im mittelalterlichen Europa überlebt. Gerade letzte Woche habe ich mittelalterliche Tagebucheinträge gelesen und wenn man das liest – damals war die Situation wirklich schrecklich. Ich habe eine Beschreibung von einem Missionar in Bagdad im 17. Jahrhundert gelesen, als die Beulenpest dort ausbrach und er beschrieb, wie die Basare alle leer waren, alle Händler und Ärzte geflohen waren, es kein Wasser und kein Brot mehr gab und die Gesellschaft zusammenbrach. Aber Menschen sind ähnlich wie Kakerlaken. Wir sind wirklich gut im Überleben, und es wird keine Seuche sein, die die Menschheit auslöscht, sondern die Menschheit selbst.
Glauben Sie, dass wir aus dem Erlebten lernen und damit besser auf die nächste Pandemie vorbereitet sein werden?
Steven Taylor: Im Großen und Ganzen sind wir Menschen nicht sehr gut darin, aus Pandemien zu lernen. Wir neigen dazu, kurzsichtig zu sein und uns auf das zu konzentrieren, was direkt vor uns liegt.
Das klingt deprimierend…
Steven Taylor: Ja, aber es gibt auch ein Licht am Ende des Tunnels und dieses Phänomen wird als posttraumatisches Wachstum bezeichnet. Es wurde in der Katastrophenforschung identifiziert und passiert, wenn Sie Stress oder ein Trauma durchmachen und sich nicht nur erholen, sondern tatsächlich als Mensch wachsen – also ein besserer Mensch werden. Dies ist möglicherweise nicht der Fall, wenn Sie selbst krank waren, aber als wir Menschen befragten, die nicht selbst betroffen waren, da stellten wir fest, dass 75 Prozent von ihnen angaben, dass sie sich widerstandsfähiger fühlten und sie Freunde und Familie mehr schätzten und auch Altruismus in der Gesellschaft. Einige Leute berichteten auch, dass sich ihre spirituelle Überzeugungen vertiefte. Das heißt also, dass zumindest einige Menschen die Chance haben, stärker aus der Pandemie hervorzugehen, ähnlich wie es in dem alten Sprichwort heißt: „Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.“
Das Interview führte Barbara Barkhausen.
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