Man kann auf Franz Kafka nicht ohne Schauer blicken. Er war eine sybillinische Natur, die weit in die Abgründe des menschlichen Bewusstseins hinabstieg, sich tief in die Dantesken Höllenkreise hinunterwagte. Trotz des konkreten Realismus seiner Romane und Erzählungen, die die historische und persönliche Erfahrungswelt Kafkas abbilden, hat man bei Kafka das Gefühl durch eine mythische alternative Wirklichkeit zu wandeln.
In dieser Traumwelt wurde Kafka von schrecklichen Visionen heimgesucht, die von einer unheilvollen Zukunft kündeten. Dabei ging es ihm gar nicht darum, die Zeitläufe vorherzusagen. Er war vollkommen mit sich selbst und seinen Beklemmungen im Hier und Jetzt beschäftigt. Doch in der nervösen Hypersensibilität, mit der er seine Neurosen, Manien und Obsessionen erforschte, entwickelte er einen seismographischen Sinn für all die Friktionen, und die sich dahinter verbergenden Dämonen, die die spätbürgerliche Epoche heimsuchten - und schließlich überwältigen würden.
Während Thomas Mann in seinem „Zauberberg“, der im selben Jahr 1924 herauskam als Franz Kafka an Tuberkulose starb, noch nostalgisch im neurasthenischen fin de siècle des überständigen 19. Jahrhunderts schwelgte, hatte Kafka bereits eine Ahnung von den dunklen Wolken, die sich am Horizont abzeichneten. Erst viele Jahre später wird Thomas Mann in seinem „Doktor Faustus“, in seiner ihm eigenen künstlerischen Rolle als humanistischer Chronist und intellektueller Ästhet, retrospektiv zu ganz ähnlichen Diagnosen kommen. Auch er erkannte im Rückblick auf das deutsche Schicksal jene faustisch-mephistophelische Doppelgesichtigkeit. Jenen Zwiespalt, dass jede Epoche gleichzeitig geborgen und gefangen in seinen Paradigmen ist.
Dass eben jene Werte der Weisheit und Ordnung, die die bürgerliche Epoche gekennzeichnet hatten, nur so lange sinnspendend und vereinigend produktiv waren, so lange sie idealistisch im „alle Menschen werden Brüder“ verklärt und synthetisiert wurden, jedoch, einmal in Frage gestellt, negative und selbstzerstörerische Unwuchten erzeugen. Die Erfahrungen des K. in „Der Prozess“ und „Das Schloss“ stehen unter eben jener Prämisse, wie der Sinn der bürgerlichen Ordnung mit seinen Gesetzen und Idealen fragil wird und einen beklemmenden Taumel von Orientierungslosigkeit und sich öffnenden Abgründen erzeugt.
Die Alpträume des Immanuel Kant
Wenige Wochen nach dem Kant-Jubiläum erscheint einem offensichtlicher denn je, dass die Alpträume des K. nicht nur die Franz Kafkas sind, sondern kulturmythologisch auch die von Immanuel Kant. Dass jenes „Gesetz“, vor dem Kafka steht, in einem unheilvoll dialektischen Verhältnis zu Kants „Gesetz in uns“ steht.
Schon Kant ahnte, was die Achillesferse des kategorischen Imperativs ist, als er ihn gegen das Recht zur „Notlüge“ (etwa um einen Menschen vor seinen Verfolgern zu schützen) verteidigte und verabsolutierte. Wenn einmal das Siegel des Gesetzes gebrochen ist und Risse bekommt, ist es nur eine Frage der Zeit bis das gesamte Gebilde zersplittert. Aus ähnlichen Motiven scheute sich Kant, der selbst kaum religiös war, den jüdisch-christlichen Gott zu suspendieren, und schuf ihm ein intellektuell fabriziertes Schutzschild der negativen Unbeweisbarkeit.
Doch half das allenfalls, die Jünger Zarathustras ein wenig aufzuhalten. Friedrich Nietzsches metaphysisches Zerstörungswerk und die in dessen Schneißen um die Jahrhundertwende aufblühenden kreativen theosophischen und anthroposophischen Bewegungen, von denen auch der Vegetarier und eifrige Turner und Schwimmer Franz Kafka infiziert war, stießen mit neuen idealistischen Vervollkommnungskonzepten in eben jene Leerstellen vor.
Wenn jedoch das Gesetz zum kreativen Akt wird, welches kollektive Bewusstsein kann dann noch entscheiden was richtig und falsch ist. Es war unvermeidlich, dass die mephistophelischen Stimmen immer lauter wurden, und das Gesetz allmählich den Demagogen des Faschismus anheimfiel. Denn es ist ja das niederschmetternd Furchtbare, dass in den Rasse- und Euthanasie-Gesetzen der Nazis in pervertierter Form noch jener bürgerliche Verbesserungs- und Vervollkommnungswille durchscheint, von dem auch Kant und Kafka vollkommen durchdrungen sind.
Von eben diesem monumentalen Zwiespalt hatte Kafka ein hellsichtiges Bewusstsein und hält stellvertretend für die Menschheit Gericht über die eigenen Befindlichkeiten. Im „Prozess“ und „Schloss“ wird implizit oder explizit immer wieder auf diese Doppelrolle des K. angespielt. Dass K. von allen Korruptionen, denen er im Laufe des Romans begegnet, auch selbst betroffen und befangen ist. Dass die grotesken Leerstellen der Anklage nicht nur externes Phänomen sind sondern auch Ausdruck einer manischen Selbstanklage.
Diese existentielle Verlorenheit hat Kafka auch mit dem häufig zitierten Wort von „Ende und Anfang“ in seinem Tagebuch adressiert: „Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang ...“. In Kafkas Selbstauslöschungs-Fantasien steht ähnlich wie bei Nietzsche der Impuls einer christlichen Mimesis der Opferung als Symbol eines transformativen Neuanfangs.
Kafkas Purgierungsobsession, die sich nicht zuletzt in seiner testamentarischen Verfügung, alles Unvollendete und Unsanktionierte seines literarischen Nachlasses zu zerstören, manifestiert, gehört zu seiner schicksalhafter Befangenheit. Kafka ist immer gleichermaßen Opfer wie Vollstrecker, und man verkennt die tragische Dimension der Künstlerfigur Kafka, wenn man ihn nur als Opfer betrachtet.
Übrigens hat auch Thomas Mann mit seiner Erzählung „Das Gesetz“ von 1944, die davon erzählt wie Moses den Juden die 10 Gebote Gottes verkündet, auf diesen Kontext Bezug genommen. Auch ihm war im Angesicht des Nazi-Terrors klarer denn je geworden, dass das moralische Gesetz das göttliche Schild der Unhinterfragbarkeit braucht, um die Bestie Mensch wirksam in Schach zu halten.
Patriarchat
Was Franz Kafka für sein spezifisches künstlerisches Schicksal prädestinierte, war gewiss sein eigenes zwiespältiges Verhältnis zu seinem Vater, und in einem größeren Kontext zur Idee des Patriarchats, das eines der Fundamente der bürgerlichen Ordnung bildete. Was das Patriarchat an ordnungsspendender und homogenisierender Wirkung nach innen ausstrahlte, hatte den Preis einer allergischen Negativität gegenüber allem jenseits dieser Ordnung, gegenüber allen kontaminierenden Minderheiten. Insbesondere die Rolle des Künstlers stand von je her unter einer merkwürdigen Spannung zwischen der des Außenseiters und der des kulturreligiösem Sinnstifters. Und eben jene Spannung spitzte sich zum Ende der bürgerlichen Epoche immer mehr zu.
Schon in der frühen Erzählung „Das Urteil“, die auch Kafka selbst als sein erstes originäres Werk bezeichnete, wird dieser Vaterkonflikt exponiert, bereits mit dem Tod des Protagonisten durch das Urteil das väterlichen Überich, das dann in weiteren Werken perpetuiert wird. Und als ob das nicht reichen würde, lieferte Kafka mit seinem „Brief an den Vater“ noch eine autobiographische Exegese dieses Verhältnisses, in der er sich selbst als „Ergebnis deiner Erziehung und meiner Folgsamkeit“ bezeichnet, und den Abscheu des Vaters vor dem Künstlervolk als „Hunde und Ungeziefer“ zitiert.
Dabei war die Liebe und Bewunderung Kafkas für seinen Vater durchaus echt, ebenso wie sein Respekt für die bürgerliche Ordnung. Nicht nur seinem Schreiben, sondern auch seinem Beruf und anderen Dingen des täglichen Lebens widmete sich Kafka mit metikulöser Beflissenheit. Doch wächst sich diese Spannung von radikaler künstlerischer Introspektion und gewaltsamer Anpassung an die normierte gesellschaftliche Realität allmählich zu alptraumhaften Dimensionen aus.
Auch Thomas Mann laborierte an diesem patriarchalischem inneren Konflikt zwischen dem Bürger und Künstler in sich. Doch während dieser nach einem Kompromiss, nach einem Equilibrium suchte, das beiden Aspekten gerecht wird, zwingt Kafka beide Aspekte gewaltsam zusammen und lässt die gegensätzlichen Pole sich solange aneinander reiben bis es zur Kernschmelze kommt. Was sich nicht zuletzt am Stil ablesen lässt. Hat Thomas Manns ironisch parlierende Prosa etwas von sorgfältig gewebtem Stoff, wirkt Kafkas Prosa dagegen wie schlackenlos gehämmertes Metall.
Frauen
Mit derselben Akribie, mit der sich Kafka seiner beruflichen Tätigkeit widmete obwohl er sie als seiner literarischen Tätigkeit nachrangig empfand, beschäftigte er sich auch mit seinen Beziehungen zu Frauen obwohl sie nicht seinen sexuellen Präferenzen entsprachen. Kafkas Beziehungen zu Frauen folgten dem bürgerlich sanktionierten Ehemodell von überkreuzten homosexuellen Konstellationen (wie sie auch Thomas Mann mit Katja Pringsheim eingegangen war). Was nicht heißt, dass er nicht tatsächlich tiefe Pandora-hafte emotionale Bindungen mit diesen Frauen einging. Die Briefe an Felice Bauer und Milena Jesenská haben in ihrer Gesamtheit etwas Quälendes und Peinigendes. Trotz der Zuneigung und auch Ironie, die immer wieder durchscheint, können sie einen zwanghaften Zug nie gänzlich verbergen.
Ähnlich wie die Vaterbeziehung durchdringen auch Kafkas erotische Beziehungen sein Werk vollkommen, wenn auch auf eine stark camouflierte, subkutane Weise. Die typischen Dreierkonstellationen, etwa mit Felice Bauer und Grete Bloch bzw. Milena Jesenská und Ernst Polak (die man auch aus den Komödien Shakespeares oder von Marcel Proust kennt), finden sich auch in seinem literarischen Werk, wo die Geliebten von K. immer auch die Geliebten von jemand anderem sind. Vor allem sind es jedoch die sado-masochistischen Züge, die bereits in „Amerika“ auftauchen, besonders aber in „In der Strafkolonie“ eklatant zu Tage treten, die kennzeichnend für Kafkas erotische Befindlichkeiten sind.
Die Welt als Torso
Trotz des Torso-haften Charakters seines Werkes ist auch bei Kafka ein bürgerlicher Ehrgeiz spürbar, ein weltumspannendes Panorama seiner Zeit in seinem Werk abzubilden. Dieser Ehrgeiz, der vor allem von Goethe herrührte, der in Kafkas ästhetischem Kosmos gewissermaßen die zwiespältige Vaterfigur ist, während Kleist und Dostojewski die Geschwister waren, ist vor allem in den drei Romanfragmenten erkennbar.
Bildet „Amerika“ (in neueren Ausgaben „Der Verschollene“ genannt) die westliche amerikanische Zukunft ab, mit allen seinen Merkmalen des radikalen Kapitalismus und undeutlichen Freiheitsverheißungen, und repräsentiert „Der Prozess“ am stärksten Kafkas eigene Lebenswelt in der spätbürgerlichen kulturdeutschen Achse zwischen Berlin, Prag und Wien samt italienischer Reise, scheint „Das Schloss“ wie ein ängstlicher Blick in den Osten mit seinen überständigen feudalen Strukturen, das nach dem ersten Weltkrieg als Kafka an diesem Roman schrieb im Begriff war, von den Bolschewiken in einem epochalem Kataklysmus umgewälzt zu werden.
Doch gerade im Spannungsverhältnis zu Thomas Mann, der im Geiste Goethes ein letztes Mal, wenn auch mit viel ironischem Bühnenzauber, ein monumentales abgerundetes Werk vollendet hatte, ahnt man bei Kafka doch immer mehr, dass das Merkmal des Fragmentarischen und Torso-haften seiner Romane nicht nur das Ergebnis ungünstiger oder unglücklicher Umstände ist, sondern vielmehr Teil von Kafkas künstlerischem Schicksal. Kafkas sybillinisches Krisenbewusstsein war sich gewahr, dass die Welt, in der er lebte, nicht mehr heil und rund werden würde. Und dass sein Werk offen bleiben musste, als offene Wunde seiner Epoche.