Berlin - Der russische Angriff auf die Ukraine hat bei den Bundesbürgern offenbar grundlegende verteidigungspolitische Vorstellungen geändert. So unterstützt die Mehrheit der Deutschen den Plan der Bundesregierung, ihre jährlichen Verteidigungsausgaben deutlich zu erhöhen, ist das Ergebnis einer Infratest-Umfrage für den ARD-"Deutschlandtrend".

Die Anhebung auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes bezeichnen 69 Prozent als richtig, wobei etwa die Hälfte der Deutschen (47 Prozent) angibt, dass sich ihre Haltung zu einem höheren Verteidigungsbudget mit dem Einmarsch in die Ukraine verändert hat. 19 Prozent bezeichnen die Anhebung der Verteidigungsausgaben als falsch. Anders als 2014 nach der Krim-Situation (21 Prozent) wird auch die kurzfristige Verlegung zusätzlicher Bundeswehreinheiten an die NATO-Ostflanke mehrheitlich unterstützt (68 Prozent). Die Schaffung eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bezeichnen 65 Prozent als richtig. Die Antwort der Bundesregierung auf den russischen Angriff bewertet gut die Hälfte der Deutschen (53 Prozent) als angemessen. Für knapp drei von zehn Wahlberechtigten (27 Prozent), geht die bisherige Reaktion Berlins sogar nicht weit genug. Für jeden Siebten (14 Prozent) ist sie dagegen zu weitgehend. Auch im Einzelnen werden die beschlossenen Maßnahmen mehrheitlich unterstützt. Den Ausschluss wichtiger russischer Banken aus dem Zahlungssystem SWIFT halten 82 Prozent für richtig, den Stopp des Genehmigungsverfahrens für die russische Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 unterstützen 67 Prozent. Uneins sind sich die Deutschen darüber, ob Berlin militärische Hilfen für Kiew zu lange hinausgezögert hat: 45 Prozent stimmen dem zu, 46 Prozent nicht. Zweifel an einer militärischen Unterstützung dominierten bis zuletzt auch in der deutschen Bevölkerung und sind offenbar erst mit dem Angriff mehrheitlich gewichen: Nach 20 Prozent vor einem Monat finden die von der Bundesregierung letztlich genehmigten deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine nunmehr bei 61 Prozent Zuspruch. Jeder Zweite (52 Prozent) glaubt zwar nicht, dass Sanktionen des Westens an der Politik Russlands etwas ändern werden. Dennoch werden Sanktionen aktuell auch dann mehrheitlich von den Bundesbürgern unterstützt, wenn sie von Engpässen in der Energieversorgung (68 Prozent), steigenden Energiepreisen und Lebenshaltungskosten (66 Prozent) oder Nachteilen für deutsche Firmen (65 Prozent) begleitet sein sollten. Dies gilt für die Anhänger aller Parteien. Die Mehrheit der AfD-Anhänger kündigt allerdings Widerspruch gegen Maßnahmen an, sollten sie mit derartigen Nachteilen verbunden sein. Insgesamt blickt die Mehrheit der Bundesbürger sorgenvoll auf die Entwicklungen im Osten Europas: Neun von zehn (89 Prozent) sind in Sorge um die Menschen in der Ukraine. Drei von vier Wahlberechtigten (77 Prozent) äußern Sorgen, dass die Ukraine vollständig besetzt wird, sieben von zehn (69 Prozent), dass weitere Länder von Russland angegriffen werden könnten. Äußerten im Sommer 2014 zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs drei von zehn Deutschen Ängste vor einem neuen großen Krieg auf dem Kontinent, sind es nunmehr sieben von zehn (69 Prozent). Vielen ist bewusst, dass der Konflikt auch in der Bundesrepublik Konsequenzen haben wird. 66 Prozent fürchten Einschränkungen in der Gas- und Energieversorgung, 64 Prozent eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation Deutschlands.

Eine Aufnahme von Flüchtlingen durch die Bundesrepublik wird faktisch von niemandem in Frage gestellt, neun von zehn Deutschen (91 Prozent) halten die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge grundsätzlich für richtig. In den Reihen der AfD fällt der Zuspruch weniger einhellig aus, aber auch hier überwiegt aktuell eine positive Haltung in dieser Frage. Gut sechs von zehn Deutschen meinen, die Ukraine sollte langfristig in die Europäische Union aufgenommen werden. 63 Prozent stimmen dieser Aussage zu, jeder Vierte (26 Prozent) stimmt ihr nicht zu.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte Anfang der Woche einen sofortigen EU-Beitritt seines Landes gefordert. Die Wahrnehmung der Ukraine hat sich bei den Deutschen in der aktuellen Krise schlagartig geändert. Mit 63 Prozent versteht erstmals eine Mehrheit die Ukraine als Partner, dem man vertrauen kann. Das sind 33 Prozentpunkte mehr als noch im Januar. Zugleich fällt das Ansehen Russlands bei den Deutschen auf einen Tiefstand. Gerade einmal sechs Prozent sehen Russland derzeit als vertrauenswürdigen Partner Deutschlands (-11). Gefestigt präsentiert sich in der aktuellen sicherheitspolitischen Krise die Beziehung der Deutschen zur NATO. 83 Prozent unterstreichen in diesen Tagen die Bedeutung des Militärbündnisses für den Frieden in Europa. Der Einmarsch in die Ukraine lässt rückblickend viele an der bisherigen deutschen Russland-Politik zweifeln.

Zwei Drittel (68 Prozent) sind der Meinung, die Bundesrepublik sei in den vergangenen Jahren zu nachsichtig gegenüber Wladimir Putin gewesen. Für die Erhebung befragte Infratest insgesamt 1.320 Personen vom 28. Februar bis 2. März 2022.

Foto: Bundeswehr-Soldaten (über dts Nachrichtenagentur)

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