09.04.1944, Ostersonntag, Königsberg
„Ostern ist der Tag der Hoffnung gegen den Augenschein“. So stand es auf dem heutigen Kalenderblatt, und wie es schien, traf das Motto genau auf sie zu. Der Winter war endlich vorbei, die Front noch 700 Kilometer entfernt. Ruth strahlte vor Glück. Hans ging an ihrer Seite und plauderte. Sie hörte ihm aufmerksam zu und antwortete ab und an mit einem Lächeln. Die Morgensonne schien, sie hatte einen freien Tag und einen schönen Mann an ihrer Seite. Hoffentlich bekommt er nie heraus, warum gerade er Arm in Arm mit mir, der Sekretärin der Gaupropagandaleitung, durch Königsberg spazieren geht.
Anna und Luise erwarteten sie bereits am Domplatz und nahmen Ruth zur Begrüßung kurz in den Arm. Hans wartete einen kleinen Moment und gab dann versehentlich zuerst Luise und erst danach Ruths Mutter die Hand.
„Guten Morgen und bitte verzeihen Sie“, er lächelte Anna Paktimas spitzbübisch an und ließ sein linkes Grübchen zucken. „Ich dachte, Sie seien die jüngere Schwester der beiden Damen.“ „Charmeur! Sie können sich nur nicht zwischen meiner kleinen Schwester und meiner Tochter entscheiden. Sehr entschlossen scheinen Sie nicht zu sein, Herr Doktor. Aber mutig! Welcher
Mann traut sich schon, allein mit drei Frauen in die Kirche zu gehen!“
Anna lachte und ging zusammen mit Hans in Richtung Dom. Ruth und Luise folgten den beiden. Luise fror. Ihre Schuhe waren viel zu leicht für einen Vormittag im April.
„Luise, du siehst toll aus in dem neu geschneiderten Mantel“, schmeichelte Ruth ihrer Tante, „und die Schuhe sind uns doch wirklich gut gelungen?“
Ja, kein Mensch wird merken, dass wir sie nicht in Paris gekauft haben.“ Sie blieb kurz stehen, drehte sich elegant im Kreis, ließ den Mantel schwingen und hakte sich bei Ruth ein. „Also, ich denke, wir beide werden die hübschesten Frauen in der ganzen Kirche sein.“
Ruth nickte traurig. „Ja, nur Hans hat noch nicht bemerkt. Kein Blick, kein Wort. Weder zum Mantel noch zu den Schuhen. Er hat die ganze Zeit nur von seinen entarteten Bildern gesprochen, und dass er sie schon morgen in die Schweiz bringen wird.“
Na, dann kann es mit der großen Liebe ja nicht so weit her sein, dachte Luise. Sie lächelte Ruth beschwichtigend an. „Die Kunst ist nun einmal sein Beruf, sei doch froh, dass er dir von Bildern erzählt und in die Schweiz fährt. Andere Männer erzählen vom Krieg, berichten von Tod und Elend, und wenn sie tatsächlich mal nach Hause kommen, fahren sie im Anschluss zurück an die Front. Sei froh, dass dein Doktor in die Schweiz fahren kann. Meine Doktoren in der Chirurgischen Klinik können das nicht. Die müssen hier bleiben und Soldaten zusammenflicken.“
Hans und Anna hielten bereits ihre brennenden Osterkerzen in den Händen, als Ruth und Luise das Portal der Domkirche erreichten. Die beiden jungen Frauen zündeten ihre Kerzen an und trugen, wie alle anderen, das Licht Christi in die Kirche. Anna rutschte in eine der hinteren Bänke und Hans folgte ihr. Als er sich setzen wollte, quetschte sich plötzlich Luise zwischen ihn und Anna. Auf der anderen Seite rutschte Ruth ganz dicht an ihn heran und als Pfarrer Bronisch seine Predigt begann, saß Hans fest eingeklemmt zwischen Nichte und Tante.
„Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden. Ostern ist der Sieg der Hoffnung gegen den Augenschein.“
Micha H. Echt schreibt in „MI-SIX Operation Bernsteinzimmer“ nicht nur über das Geheimnis des Bernsteinzimmers und die Machenschaften des Kunstraubes im Dritten Reich, sondern auch über die Menschen, welche diese dunkle Zeit durchleben mussten.
Micha H. Echt, Unternehmer und Autor
MI-SIX Operation Bernsteinzimmer
Taschenbuch: 640 Seiten
Verlag: SPICA-Verlag 2018
ISBN: 978-3-946732-45-7