Ich sitze einmal mehr, wie allmorgendlich, bei der Arbeit.
Ein Tag, so wie jeder andere auch.
Die Sonne scheint sich heute besondere Mühe zu geben, großflächigen Sonnenbrand unter die Menschheit bringen zu wollen, damit die Sonnenmilchindustrie, am Jahresende mit positiven Zahlen bei ihren Aktionären aufwarten kann. Der Wind bläst sanft von vorne Erfrischendes. Der Baum, unter dem ich sitze, steht im vollen Saft seiner noch jungen Jahre. Sein Blätterkleid in leuchtendem Grün. Noch sind keine Kastanien an ihm zu entdecken, denn erstens ist erst Frühling und zweitens der Baum ein Flieder. Irgend ein Unhold hat ihn in der Nacht genagelt, zum Zwecke, an dem Eindringling ein Vogelhäuschen anzubringen. Da hängt es nun und wird ignoriert. Kein Spatz, kein hochmusikalischer Star nimmt von dem Haus Besitz. Dies ist erstaunlich, herrscht doch in unseren Städten Wohnungsmangel. Dabei wäre sie mietfrei zu beziehen. Ich würde ja sofort einziehen, doch hat sie leider keine Außenterrasse. Neben dem Fliederbaum hat sich ein kleines Dattelbäumchen gesellt, was nach Höherem strebt und kleine Datteln hat, die noch im Reifungsprozess sich befinden. Die Blätter der Dattel, wie ich sie liebevoll nenne, sind überproportional zu den Ästen, handtellergroß. Und hier sind nicht dessert- sondern Pizzateller gemeint. Der Flieder, wesentlich bescheidener in seinem Charakter, trägt zwar mehr, aber auch viel kleinere Blätter. Während sie eher zurückhaltend, ja fast schüchtern sind, drängen sich die Dattelblätter an seinen Stamm und kitzeln seine Rinde. Doch die Fliederrinde schweigt und gibt keinen Ton von sich. Vermutlich ist sie gefühlskalt oder aber sie hat sich sehr gut im Griff. Sie nimmt die Belästigung, wenn es nicht sogar eine sexuelle Übergriffigkeit ist, einfach stoisch hin. Das lockere Dattelbäumchen hingegen, schamlos in seiner körperlichen Annäherung, sucht eindeutig Kontakt. Es scheint dabei ein gesteigertes Lustempfinden zu verspüren und es ist ihm wohl egal, dass der Flieder ihr die kalte Schulter zeigt.
Zu Flüchten ist ihm indes unmöglich. Wie angewurzelt steht er da und lässt das Dattelbäumchen sein erotisches Vorspiel weiter treiben. Dabei könnte es der Vater von dem kleinen Racker sein, wie die Ringe seines Stammes vermuten lassen. Sein genaues Alter lässt sich jedoch nur schätzen. Erst wenn man ihn aufsägt, könnte man die Ringe zählen und sein wahres Alter erfahren. Aber das wäre dann auch zugleich sein Tod, denn ein gefällter Flieder ist lebensuntauglich. Dies ist in seinen Genen so vorgesehen.
Das, was beide gemeinsam haben und es ist für eine tragfähige Beziehung einfach zu wenig, sie sind gefangene ihres Standortes. Geradeeinmal vier Quadratmeter Grundfläche, mehr hat das städtische Grünamt ihnen nicht zugebilligt. Umzingelt und vor dem Weglaufen geschützt, sind sie von Steinen, Beton und abgekühltem heißen Teer.
Ihnen gegenüber, ein ähnliches Bild. Auch dort steht, von Steinen eingefasst, ein Baum, von mir unbekannter Sorte und schielt ab und an herüber. Man kann ihm seine Einsamkeit förmlich ansehen. Während das Fliederbäumchen lieber alleine wäre, sehnt sich das andere Bäumchen nach Gesellschaft. Doch weil eine große Straße zwischen ihnen liegt, ist ein Gegenseitiger Besuch ausgeschlossen, vor allem wegen des hohen Verkehrsaufkommens und dem Fehlen eines naheliegenden Zebrastreifens. Aber Naheliegendes und städtische Behörden sind so gegensätzlich und passen einfach nicht zusammen.
Doch wer nun glaubt, dies wäre eine Idylle, den muss ich schwer enttäuschen. Denn ein brutaler Mord ist hier geschehen. Alles unter den fliedrigen und datteligen Augen, die hilflos Mitansehen mussten, wie die schändliche Tat geschah. Es muss ein blutrünstiges Massaker gewesen sein, denn als ich am nächsten morgen kam, offenbarte sich mir das Grauen. Ich kann heute noch kaum über das Geschehnis sprechen, so sehr hat es mich getroffen. Wie mag es erst da meinen beiden Bäumen gehen, denn es nicht vergönnt ist, einen Psychiater aufzusuchen, wegen fehlender Mitgliedschaft einer Krankenkasse. Baumtherapeuten sind eben rar gesät. Nur wenige Spezialisten sind es, die sich der hölzernen Gewächse annehmen. Aber Termine zu bekommen ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, da diese fast ausschließlich mit Stammbäumen arbeiten. Einmal, ich erinnere mich noch gut, bot mein Café Baumkuchen an. Da lief das Harz nur so von meinen beiden Lieblingsbäumen, so sehr waren sie angewidert von der Unsensibilität des Caféhausbetreibers, den sie fortan mit Missachtung straften. Ihrer beiden Seelen war zutiefst verletzt. Für sie muss es nach Kanibalismus ausgesehen haben. Ich entschied mich damals für Käsekuchen, da ich damit keine ethnische Minderheit in ihren Gefühlen verletzen konnte. Doch zurück zu der Gräueltat, die auch mich, in den Grundfesten menschlichen Miteinanders, erschüttert hatte. Denn im Schatten der beiden Bäume wuchs, fast unbemerkt, eine freundliche kleine Stachelbeere heran, die weit friedvoller war, als es ihr Name zu suggerieren versuchte. Dieses junge unschuldig aufstrebende Pflänzchen, kam auf tragische Weise zu Tode, fast unbemerkt von ihrem persönlichen Umfeld. Eigentlich lebte sie wohlbehütet im grünen Untergrund, zu Füßen ihrer Mitbewohner, in einer Art pflanzlicher Untervermietung. Sie drängte es mehr zur Seite, denn nach oben und so blieb sie von Fressfeinden für lange Zeit unbehelligt.
Trotz vielfacher Hilfe, der auch ich mich anschloss, kam sie nicht dazu, den Sommer zu genießen. Denn bereits im Frühling war ihr Schicksal besiegelt. Täglich opferte ich, weil es für die Jahreszeit ungewöhnlich trocken war, mein Glas Wasser. Welches, beim Kauf meines täglichen Milchkaffees, als kostenfreie Zugabe, mir jeden Morgen auf einem braunen Tablett, seitens der Caféhausbedienung, dargereicht wurde. Diese täglich ritualisierte Handlung erfolgt wortlos. Eine explizierte Bestellung ist nicht vonnöten, denn in dieser Beziehung bin durchschaubar. Ich ändere Gewohnheiten und nur ungern. Das hat auch für die Bedienung den zeitsparenden Vorteil, nicht täglich mich mit der lästigen Frage zu behelligen, die sie in ihrer Ausbildung eingebläut bekam: „Kann ich was bringen?“
Normalerweise würde sie dann von mir die passende Antwort bekommen.
„Ob Sie können weiß ich nicht, aber sie dürfen mich gerne fragen.“
Daraufhin würde sie mich wohl nur merkwürdig, mit einem Blick ansehen, der von Unverständnis geprägt ist.
Dann käme es höchstwahrscheinlich zu einer Gegenfrage ihrerseits, wie: „Wie?“ Oder schlimmstenfalls, zu einem „Hä!“
Ich sähe mach dann natürlich gezwungen, ihre sprachliche Untat offenzulegen und zu einem rhetorischen Gegenschlag ausholen.
„Wie was?“ Oder eben ihr „Hä?“, mit einem gegen „Hä was?“, zu erwidern.
Damit würde ich sie selbstverständlich komplett verunsichern und auch ihre mäßige Laune kaum heben.
Diesen Gesprächsverlauf, diesen täglichen Kampf, der mühsam und lästig ist, habe ich von vornherein einen Riegel vorgeschoben. Als ich das Café zum ersten Mal betrat und es zu meinem Stammcafé auserkor, habe ich von vornherein die Fronten geklärt.
„Fräulein, von heute an komme ich täglich und ich bin ein gewohnheitsmensch, der vor allem allergisch auf Belästigungen jeder Art reagiert. Deshalb nun, zum Mitschreiben, meine Bestellung, die mir fortan wortlos hingestellt wird, sobald ich meinen angestammten Tisch besetzt habe. Dies wären: Ein Milchkaffee, möglichst heiß, dazu ein kostenbefreites Glas Wasser, sowie, wenn nicht zuvor bereits eingedeckt, einen Aschenbecher. Das erspart uns viel Zeit und unnötige Worte.“
Dies waren die ersten und auch zugleich letzten Worte, die ich mit der Bedienung gewechselt habe und ist die Basis für unsere friedliche Koexistenz. Lediglich einmal im Jahr, genauer am dreiundzwanzigsten Dezember, weiche ich etwas von meiner Gewohnheit ab und erlaube ihr, mir fröhliche Weihnachten zu wünschen. Ich nicke ihr dann höflich zu, was ihr signalisiert, ich schließe mich ihrem Wunsche an und sie kann ihn auch auf sich anwenden.
Soweit zu meiner Gesprächskultur, die ich pflege. Getreu dem Motto: „Weniger ist mehr!“ Schließlich will ich sie ja nicht heiraten, schon alleine aus optischen Gründen. Sie ist zwar körperlich ansehnlich, aber bedauerlicherweise, mir sprachlich nicht gewachsen. Daraus zog ich recht rasch die Schlussfolgerung, eine Verehelichung sei auszuschließen, wegen unüberbrückbarer sozialer Unterschiede.
Dies nur kurz als Erklärung und zum besseren Verständnis, die zudem der Geschichte eine noch größere Tiefe verleiht.
Doch zurück zu dem nahenden Stachelbeerdrama, was sich ja bereits angebahnt hat. Anfangs war es nur ein mickriges Etwas, was versuchte, zwischen meinen Lieblingsbäumen und diversen Unkräutern, die sich zudem ungefragt angesiedelt hatten und sich zügellos vermehren. In diesem Dickicht kämpfte das kleine Stachelbeerchen ums Überleben. Mein Herz blutete, als ich es bewusst das erste Mal wahrnahm und ich beschloss selbstlos, es zu adoptieren, da mir eigene Kinder versagt geblieben waren, wofür ich mehr als dankbar bin. Es schont Nerven, als auch das Konto. Schweren Herzens entschloss ich mich kurz entschlossen, ihm mein tägliches Glas frisches Nass unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Ich übergoss es nun täglich und langsam erholte sich das kleine Stachelbeerchen. Jeden morgen wartete es bereits ungeduldig auf mich. Besonders an den Montagen, da das Café, aus rein egoistischen Gründen sich weigerte, Sonntags zu öffnen. An dem Tag musste, sowohl das Stachelbeerchen als auch ich darben. Mit der Zeit entwickelte sich eine richtige Freundschaft zwischen uns, nachdem es vertrauen gefasst hatte. Ich überlegte sogar, es in einer Nacht und Nebelaktion, es zu entführen und ihm auf meinem Balkon ein weitaus glücklicheres Leben zu ermöglichen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen, denn das Schicksal hatte andere Pläne, die nicht mit mir abgestimmt waren, sonst hätte ich Protest eingelegt.
Es war an einem gewöhnlichen Dienstag, wie eben Dienstage so sind. Nichtsahnend kam ich pünktlich zur Eröffnung des Cafés, setzte mich, wie gewöhnlich, im Außenbereich, an den mir vertrauten Tisch und grüßte meinen kleinen Freund. Da fuhr mir aber ein Schreck in die Glieder. Da erst wurde mir das Ausmaß der Tragödie deutlich vor Augen geführt. Es war ein Massaker, was da in meiner Abwesenheit stattgefunden hatte. Sofort rief ich, entgegen meiner Gewohnheit, die Bedienung herbei und stellte sie zur Rede. Sofort ging sie in eine inakzeptable Verteidigungshandlung, die ich ihr natürlich nicht durchgehen ließ. Auch ihre uneidliche Aussage, gestern ihren freien Tag gehabt zu haben, überzeugte mich nicht. Für mich nur eine fadenscheinige Ausrede. Der herbeizitierte Chef zeigte sich hingegen zerknirscht, bestätigte jedoch ihre Abwesenheit. Dies musste ich nun akzeptieren und mein ganzer Groll traf nun ihn. Ich entließ sie aus dem Zeugenstand und ihn stellte ich stattdessen an den Pranger.
Schnell zeigte sich, er war ein unwürdiger Chef. Weich und ohne Rückgrat, so wie seine Käsesahnetorte. Unter Tränen gestand er sein Versäumnis ein, untätig mitangesehen zu haben, wie die Vandalen vom Grünamt gegen das Unkraut vorgingen. Seine schwache Entschuldigung, es sei ja ein städtisches grundstück, überzeugte mich nicht und ich hielt ihm vor, feige weggeschaut zu haben. Mit zittriger Stimme berichtete er von den Schandtaten, unter denen auch unschuldige zivile Opfer zu beklagen seien. Darunter eben auch die kleine Stachelbeere, die ihr Leben noch vor sich hatte. Ich entließ ihn und warf stattdessen der Bedienung, die gerade mit meinem Milchkaffee kam, pietätlos zu sein. In einer solchen Stunde, die so viel schmerz und Leid zu Tage führt, hätte sie wissen müssen, dass ein milchschaumiges Getränk nicht angebracht war.
„Kaffee – schwarz.“, sagte ich nur und meine Stimme versagte fast.
Ich gab das erschütternde Bild eines gebrochenen Mannes ab, der alles verloren hatte.
Das Bild marodierender Horten von Grünamtsverbrechern und Mörder, die mordend ganze Landstriche vernichten, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Und ich hatte nur noch einen einzigen Gedanken, der fortan mein Leben bestimmen sollte – Hass! Abgrundtiefer Hass. Waren es sonst nur Gummibärchen, so kamen nun noch Gelüste nach, die nach Rache schrien. Es war eine offene Kriegserklärung und ich war bereit, selbst wenn es mich mein Leben kosten sollte, dem Aggressor die sonnengebräunte Stirn zu bieten.
Sie hatten den Fehdehandschuh mir vor die Füße geworfen, wenn auch in Abwesenheit und ich war, trotz Rückenbeschwerden, bereit ihn aufzuheben und ihnen ins Gesicht zu schleudern.
Immer und immer wieder sah ich zu der Stelle, wo das kleine Stachelbeerchen einmal war und jetzt war nur noch ein Rest der amtlich angeordneten Amputation zu sehen.
Doch bevor ich dem Grünamt eine Protestnote schickte, mit der unmissverständlichen Forderung, sie mögen dem Amtsleiter mitteilen, ich würde am kommenden Tag, wenn der Nebeldunst wabert, im frühen Morgengrauen, auf einer nahe liegenden Kuhweide, auf ihn zum Duell warten. Mann gegen Grünamtsmann. Um bei einem fairen Kuhfladenwerfen, Satisfaktion zu verlangen. Es war eine Respektvolle, eine wohlfeil formulierte Mail, die ich, in Anwesenheit der zu Tode gekommenen Abwesenden, verfasste. Zwar hart in der Sache, jedoch milde im Ton. Niemand sollte mir nachsagen können, ich würde es zu einem persönlichen Feldzug gegen die Behörde nutzen. Ich sah mich lediglich als ein Bindeglied zwischen Opfer und Täter. Als Wahrer der Schöpfung. Als Vorsitzenden der von mir gegründeten Vereinigung zum Schutze von Stachelbeeren in öffentlichen Raum. Noch das einzige Vereinsmitglied, doch schon bald eine weltweit operierende Hilfsorganisation, deren Ziele sich streng an die Richtlinien hält, die von mir noch zu formulieren sind und sobald ich darüber abgestimmt habe, in die Präambel der Vereinssatzung aufgenommen wird. Nach Beendigung der knapp zwölfseitigen Hassmail ließ ich sie ausdrucken und brachte sie persönlich zum Amt, um so die horrenden Portokosten einzusparen. Danach ging es mir körperlich und geistig wieder besser. Der kleine Spaziergang hatte mir gutgetan und ich kehrte an den Schauplatz des unfassbaren Mordens zurück, legte Blumen, Plüschtiere und Kerzen ab. In meiner Abwesenheit hatte ein gern gesehener Hund bereits seine Aufwartung gemacht und für de Stachelbeere etwas hinterlassen. Ein gutes Gefühl, zu wissen, ich war mit meiner Trauer nicht alleine.
Am nächsten morgen, noch ehe der Hahn krähte, stand ich auf der mit Kühen bestückten Weide. Sie schliefen noch friedlich, denn der besitzergreifende Bespieler ihrer Euter, war noch abwesend. Ich nutzte die Tiefschlafphase der Milcherzeuger und ergriff eine mir zugängige Zitze und erleichterte sie um einen halben Liter des köstlichen weißen Saftes. An die Zitze hängte ich ein Zettelchen an einem Bändchen, an das ich einen Euro klebte, mit frischem Kuhdung, da ich kein Tesafilm, Uhu oder Pattex mit mir führte. Ich wollte mir nicht nachsagen lassen, eine Kuh missbraucht zu haben. Die Kuh öffnete nur kurz eines ihrer Augen, sah mich ganz cool an, lächelte freundlich und schlief wieder ein.
Vierzehn Tage lang, jeden verdammten Morgen, stand ich auf der Weide und mittlerweile kam mir die Milch schon zu den Ohren raus, doch von den Bastarden des Grünamtes zeigte sich keiner. Feige Bande! Entweder muss mein Schreiben sie so was von in Panik versetzt haben oder aber die interne Postverteilstelle kam mit dem hohen Aufkommen an Beschwerden, Drohbriefen und höflichen Duellanfragen, nicht mehr hinterher.
Dennoch gab ich die Hoffnung nicht auf. Die Mühlen von Behörden mahlen ja bekanntermaßen langsam. Nicht ohne Grund sind sie ja in öffentlicher Trägerschaft. Das sagt ja schon alles. Die Nachmittage verbrachte ich, bei Wind und regen, bei den Überresten der Verstorbenen und betrauerte sie. So war mein Tag ausgefüllt und erfüllt zugleich.
Enttäuscht war ich von meiner Umwelt. Weder Flieder noch Dattelbäumchen zeigten irgendwelche Anzeichen von Trauer. Doch vielleicht lag es auch daran, dass ihr Verhältnis zu der Stachelbeere nicht so ungetrübt war, wie es nach außen den Anschein hatte. Dabei haben auch Pflanzen ein Herz, wie beispielsweise die Artischocke eindrücklich beweist. Vielleicht bilden ja Harthölzer da eine Ausnahme. Aber wer kann schon hinter die harte Rinde schauen.
Wenigstens, als der herbst anklopfte, verloren die beiden ihre Blätter. Nun bin ich zwar nicht per se gehässig, aber ich muss gestehen, ich gönnte es ihnen aus vollem Herzen. Sie, so nackt öffentlich zur Schau gestellt, war Genugtuung für mich. Wer so gefühlskalt auf eine Tragödie reagiert, der verdient es auch nicht anders. Es war jedenfalls Balsam für meine Seele.
Aber jedes Trauerjahr geht einmal zu ende. Ich war froh, denn das ewige Tragen von schwarzer angemessener Kleidung deprimiert doch auf Dauer. Das Leben musste ja für die, die überlebt haben, weitergehen. Und ich gehörte zu dieser Gruppe. Ich besorgte mir, nach den farblosen Entbehrungen, einen farbigbunten Anzug in leuchtenden Regenbogenfarben und fühlte mich wie neugeboren. Schmerz und Trauer waren überwunden und ich sah wieder zuversichtlich in die Zukunft.
Ich ging, zur Präsentation meines neuen Outfits, in mein Café, setzte mich an meinen Stammtisch und setzte mich nicht nur, sondern setzte mich auch den bewundernden Blicken der anderen Gäste aus. Gelassen und dennoch mit leisem Stolz, nahm ich ihre „Ahs“ und „Ohs“ in aller Bescheidenheit entgegen. Doch die größte Freude stand mir noch bevor, die nichtsahnend über mich kam.
Längst hatte ich die Hoffnung auf eine Konfrontation mit dem Grünamt aufgegeben, denen berechtigte Bürgerliche Anfragen, im wahrsten Sinne des Wortes, scheißegal zu sein schien, als plötzlich ein latzhosengrüner Arbeiter auftauchte, der zielstrebig auf mich zusteuerte. Ausgerechnet jetzt, da ich keinen einzigen frischen Kuhfladen zur Hand hatte. Die lagen alle, im Backofen getrocknet, zuhause und warteten endlich darauf, ihre Frisbeeeigenschaften unter Beweis stellen zu können.
„Wag dich mein grüner Freund und leg Hand an dieses Grün inmitten grauen Betons!“, drohte ich ihm unverhohlen zur Begrüßung.
Er sah mich nur fragend an, als wisse er nicht, was ich meine. Alleine schon dafür hätte er es verdient gehabt, einen Kuhfladen ins Gesicht gedrückt zu bekommen.
Doch diese ungeheuerliche Provokation ließ mich äußerlich völlig kalt, innerlich kochte ich jedoch auf höchster Backstufe.
„Sieh dort hin!“, mahnte ich und wies auf die Stelle, wo einst die hoffnungsvolle und lebensfrohe Stachelbeere stand.
Sein Blick folgte meinem ausgestreckten Arm und des verlängerten drohenden Zeigefingers.
„Da ist nix.“, stellte er nüchtern sachlich fest.
„Ja genau. Da ist nix.“, warf ich ihm vor, vor allen Gästen.
„Wo nix ist, da gibts auch nix zu kucken.“, erklärte er stoisch, als ob damit alles wieder in Ordnung wäre.
Aber damit war er bei mir an den Falsche geraten. Entweder war er so dumm oder aber er machte auf dumm. Dumm nur, dass er damit bei mir nicht durch kam.
„Aber da war mal was.“, feuerte ich eine Verbalrakete ab.
„Na sowas.“, Meinte er, in einer ungesunden Mischung aus Ignoranz und Arroganz.
Das forderte geradezu eine prompte Reaktion heraus, die sich gewaschen hat.
„Ja sowas!“, gab ich zurück, in ungewöhnlich scharfer Form und Inhalt.
Nachdem wir nun gegenseitig unsere gegenteiligen Argumente ausgetauscht hatten, stellte sich etwas ein, was man gemeinhin als eine Pause bezeichnen würde.
Auge in Auge, Bs an die Zähne bewaffnet, ohne jedoch dies zu bemerken.
Er, der Vernichter allen Lebens, mit der Harke in der Hand, bereit, diese gegen jegliches Unkraut ins Feld zu führen.
Sein Kontrahent, Ich. Mit geballter Faust, in der mein Kaffeelöffel in der Sonne blitzte. Die Augen zu kleinen Schlitzen geformt, wie die Vertreter hochangesehener fernöstlicher Samurai. Die Körper angespannt, jederzeit auf dem Sprung, um einer gegnerischen Attacke ausweichen zu können. Gladiatoren, die nur eine Sprache kannten, Sieg oder Sterben und eventuell noch etwas Latein.
Längst hatten die Gäste, Kaffeetanten und die übergewichtigen Käsesahnefanatiker ihre Arbeiten eingestellt und bildeten einen geschlossenen Kreis um uns, der schwache Versuch, eine Arena im alten Rom nachzustellen.
Ihnen ging es nur um ihr Vergnügen. „Brot und Spiele“, so war es bei Caligula, Nero und Caesar. Hier und heute ging es nur um Vergeltung. Um Rache für ein verlorenes Leben.
Ausgelöscht durch de frevelhafte Entwurzelung, Enthauptung und schmerzhaft gehäckselten Stachelbeere, de niemandem Böses angetan hat. Ihren qualvollen Tod zu rächen, gegen den Rechen, den das Grünamt gegen mich in Stellung gebracht hat. Erste Forderungen aus der Menge wurden laut, die Spiele zu beginnen. Doch noch waren wir in der Phase der psychologischen Kriegsführung, bei der es darum geht, den Gegner zu zermürben.
Dann endlich, die Sonne hatte sich schon mit Abscheu abgewendet, weil sie wohl kein Blut sehen kann, wagte de grüne Latzhose einen letzten kläglichen Versuch, mit heiler Haut noch einmal davonzukommen.
„Entschuldgen Sie vielmals.“, begann er eine, für mich überflüssige Ansprache an mich, die wohl nur einem Zwecke diente, mich zu verwirren und dann daraus einen Vorteil zu ziehen. Doch mit einem Beherzten: „Ich entschuldige nichts und niemanden!“, durchkreuzte ich seinen perfiden Plan einer strategischen Überrumpelungstaktik.
„Das Gold des Schweigens, ist dem Silbergerede stets vorzuziehen.“, zitierte ich eine alte Weisheit aus der Erinnerung.
Damit hatte er nicht gerechnet, dass ich die Auseinandersetzung auf eine Metaebene hob, an die er nicht im Geringsten heranreichte. Und genau darauf zielte ich ab, ihn geistig zu demoralisieren. Ihm seine literarischen Defizite aufzuzeigen. Oder um es auf den Punkt zu bringen, ihm Sein Leben infrage zu stellen, deren Berechtigung auf tönernen Füßen stand. Seine Schwäche nutzte ich schamlos aus und machte sie zu meiner Stärke. Ich griff mit dem scharfen Schwert der Worte an. Ein wahrlich ungleicher Kampf, denn er hatte dem nichts entgegenzusetzen. Geistig Blank stand er da und was noch viel schlimmer für ihn war, er wusste es. Zwar wusste er sehr wenig, doch das war ihm bekannt. Gute Freunde werden es ihm wohl immer und immer wieder gesagt haben, bis er es endlich verstand und annahm. Fast tat er mir schon leid, doch ich ließ es nicht zu, dass dieses Gefühl von mir Besitz ergriff.
„Wer weiß, das er nichts weiß, weiß mehr als der, der nicht weiß, was er weiß.“, schleuderte ich ihm einen letzten finalen Dolchstoß in die Rippen.
Da fiel ihm, zum Beweis seiner Unfähigkeit mir Paroli zu bieten, lautstark die Kinnlade runter und veränderte so seinen Gesichtsausdruck, der zur allgemeinen Heiterkeit einlud. Touche! Eins zu Null für den Mann, der Sühne für die Stachelbeere einfordert. Der Rächer, rächt und richtet.
Das Haupt gesenkt, die Demütigung entgegengenommen, von allen verlacht, kapituliert und gedemütigt, zog die Latzhose von dannen, unter den Schmährufen eines begeisterten Publikums. Es war das jähe Ende eines zum Jäten gekommenen. Venit, vidit, et perdidit. – Er kam, sah und verlor. Kaum waren die Schmährufe für ihn verklungen, begannen die Jubelgesänge für einen, der den Sieg hochverdient hatte, den Stachelbeermann, wie ich fortan respektvoll genannt wurde. Und in den Chor all derer, die den neuen Heiland in mir erkannten, reihte sich auch der Caféhausbesitzer, der im Nebenerwerb auch Konditormeister war, sich ein und verkündete die Frohe Botschaft, die mich für alle Zeiten unvergessen machen sollte.
„Höret! Ihr die ihr hier Zeuge wurdet, von dem mutigem Kampfe eines Mannes, der fälschlicherweise bislang nur als „der Stammgast“ bekannt war. Doch eines Tages war ihm das nicht mehr genug und er erhob sich, um dem Recht zu seinem Recht zu verhelfen. Ohne Rücksicht auf seine Person stieg er auf zu dem Freiheitskämpfer, wie er nun vor uns steht. Held und Vorbild für uns alle. Der Unerschrockene. Symbol der Hoffnung. König des literarischen Fabulierens. Anbetungswürdiger und unerreichbarer Verfechter subtiler Kriegsführung. Duellant der Worte. Euch zu Ehren, so sei es beschlossen und verkündet, kreiere ich, in aller mir möglichen untertänigen Hochachtung, eine neue Torte, die fortan euren Namen tragen soll: Die Stachelbeermanntorte.“
Ein unermesslicher Jubel brandete daraufhin aus. Kräftige Männer und schwache Frauen, hoben mich auf ihre Schultern und trugen mich, in einer ergreifenden Prozession um meinen Tisch herum. Ganze dreimal, wie es guter Brauch ist, wenn einem die Ehre einer eigenen Torte zuteilwird.
Doch ich erhielt noch ein weitaus wertvolleres Privileg, die unbezahlbar war. Ein lebenslanges verbrieftes Recht, jederzeit und so viel ich möchte, kostenlose Stachelbeermanntorte zu bestellen.
Und wenn ich nicht gestorben bin, dann esse ich noch heute.
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