16. April

17. April

18. April

19. April

20. April

Liebe Lesende, Lesenderinnen und alle divers diversen Geschlechtsleser*innen.
Normalerweise sollte ein Verlag oder wie hier, ein Lektor sich niemals persönlich zu Wort melden. Doch dies ist nun unumgänglich geworden. Wir vom Verlag fanden die Idee, ein Tagebuch zu veröffentlichen, die ein Schizophrener für uns aufschreiben sollte, einfach toll, spannend und gesellschaftlich relevant. Schnell fanden wir auch einen, in unseren eigenen Reihen, der offensichtlich schizophrene Tendenzen erkennen lässt. Auf diskrete Nachfrage bei ihm, bestätigten uns Beide dies auch freiwillig, ohne das ein ranghoher Dienstvorgesetzter Druck ausüben musste.
Wir kamen überein, das Lektorat stellt die Rahmenbedingungen und der oder die schizophrene Persönlichkeit füllt den Rahmen mit spannenden Details aus seinem/ihrem Alltag in unserem Verlag.
Dazu stellten wir eigens eine qualifizierte Fachkraft ein, die den gut dotierten Job gerne übernahm, da er auch übertariflich vergütet wurde, was seinen Ehrgeiz beflügeln sollte. Binnen drei Wochen legte er uns sein Konzept vor, was er akribisch für ein ganzes Jahr ausgearbeitet hatte. Beginnend mit dem 16. April hatte er alle Daten für ein ganzes Jahr zusammengetragen.
Und selbst so problembehaftete diffizile Daten wie den 20. April, Führers Geburtstag, wurde nicht ausgespart. Alles fein säuberlich und gewissenhaft brachte er die Daten in eine logische chronologische Reihenfolge, trug sie in ein neutrales leeres Buch ein und ließ zwischen jedem Datum genügend Platz, damit dort die schizophrenen Erlebnisse, Geschichten, Anekdoten oder erotische Vorkommnisse, ihren Platz finden konnten. Die weitere Ausgestaltung des Inhalts lag ab da in den Händen unseres schizophrenen Mitarbeiters, der bislang sich mehr im sanitären Bereich unseres Verlages aufhielt und dort eine Vertrauensstellung genoss.
Als Sanitärfachangestellter war er verantwortlich für den reibungslosen Ablauf der betriebseigenen Toiletten, inklusive der stark frequentierten Kantinen-WCs.
Diese sind, besonders an den Freitagen, am sogenannten Bohneneintopftag, eine große Herausforderung.
Sowie den besonders geschützten Sicherheitsbereich, der nur dem Vorstandsvorsitzenden vorbehaltenden ist. Diese speziell gesicherte Toilettenanlage, die plattgoldverkleidet, eine wahre Zierde ist, kann nur mit einem Code geöffnet werden. Nur mit einer niedrigen zweistelligen geheimen Zahl lässt sich die Tür öffnen. Nur drei Leuten ist die Kombination bekannt. Dem Vorstandsvorsitzendem und dem schizophrenen Mitarbeiter. Inzwischen musste der Zahlencode geändert werden, da der allseits beliebte Vorstandsvorsitzende, den zweistelligen Code zufällig öffentlich sichtbar vorfand, als er einmal versehentlich die Toilette der Betriebskantine in Augenschein nahm, wo er sich zu einer internen Dringlichkeitssitzung zurückzog.
Aber das nur am Rande.
Intern wurde bereits davon gesprochen, das erwartete Tagebuch könnte sich zu einem Weltbestseller entwickeln. Doch als unser Lektorat eine Leseprobe anforderte und den kompletten Monat April erhielt, war die Enttäuschung groß. Obwohl gerade dieser Monat, der ohnehin nur dreißig Tage besitzt und ja auch erst ab dem 16. April begann, war das Ergebnis, ja man kann es nicht anders sagen, niederschmetternd.
Die ersten fünf Tage haben wir diesem Bericht ja bereits vorgestellt, damit Sie sich ein Bild machen können. Ich versichere an eidesstatt, auch die restlichen Tage des Monats sehen nicht anders aus. Keinerlei Eintragungen wurden gemacht. Nur die vorbereiteten Tage lagen vor, doch was an denen geschah, eine einzige literarische Leere. Wir besprachen die offensichtliche Schreibblockade unseres ausgesuchten Schizophrenen und ich wurde beauftragt, direkt mit ihm ins Gespräch zu kommen. Um nicht zu konfrontativ aufzutreten und auch um keine Unruhe im Verlag aufkommen zu lassen, ging ich, mit einer Bildzeitung unter dem Arm, als einfacher Besucher zu ihm an seine Arbeitsstelle. Zunächst verrichtete ich, was man eben so verrichtet und in einem Moment, wo wir alleine waren, lud ich ihn in meine Kabine ein und besprach mit ihm über die Schreibblockade. Doch dabei kam Erstaunliches heraus. Beide erklärten mir ihre Sicht der Dinge und ich erfuhr, sie waren gegensätzlicher Auffassungen, was Stil, Inhalt und Interpunktion betraf. Schnell stellte ich fest, der eine war mehr der Künstler und der andere mehr der grammatikalische Pedant, der jedes Komma, jeden Apostroph und nicht zuletzt ein Feind des Bindestrichs war. Hier prallten zwei schwierige und unversöhnliche Charaktere aufeinander, die sich, was alles nicht leichter machte, auch noch einen Körper teilen mussten. Ein Körper, das muss ich zugeben, den kein anderer geschenkt haben will.
Sie hatten sich privat schon lange nichts mehr zu sagen und beruflich nur das Nötigste. Ich saß da und hörte mir die jeweilige Sichtweise an und war am Ende zwar ratlos, aber wenigstens wegen des Toilettengangs erleichtert. Ich bot ihnen an, einfach abwechselnd zu schreiben. Einer an den geraden, einer an den ungeraden Tagen.
Damit waren sie zunächst einverstanden, bis wir zur Verteilung des 20. April kamen. Beide weigerten sich, den Tag von Hitlers Geburtstag zu übernehmen. Auch mein Hinweis, es hätten ja noch andere Leute an diesem Tag Geburtstag, änderten ihrer beider Meinung jedoch nicht.
Nur langsam rückten sie mit der Sprache heraus und ich erfuhr eine ganz tragische Geschichte, die mir die Tränen in die Augen trieb.
Unter dem absoluten Siegel der Verschwiegenheit öffneten sie mir ihr Doppelherz und ich konnte hineinsehen in ein erschütterndes Seelenleben.
Es war ein Ort der Trostlosigkeit. Aber auch der Ort eines dunklen Geheimnisses. Beide und ich bitte Sie, behalten sie es für sich, haben am 20. April Geburtstag.
Und das jedes Jahr.
Es war für mich eine bedrückende Offenbarung und spontan nahm ich beide tröstend in den Arm.
Schweigend nahmen sie meinen Gefühlsausbruch nicht nur zur Kenntnis, nein sie wehrten mich auch ab, mit dem nachvollziehbaren Hinweis, kein Mitleid des Lektorats zu wünschen. Ich nahm diesen Wunsch ernst und erzählte später nur engsten Vertrauten davon. Auch der gesamte Vorstand wirkte betroffen oder war es vielleicht wirklich. Wie die Lokalpresse davon Wind bekam, ist mir heute noch schleierhaft. Ich versprach den beiden, abends einmal mit ihnen um die Häuser zu ziehen, was beide unisono dankbar annahmen. Selten bis fast nie waren sie sich einmal einig, was ich mir positiv ankreidete.
Ich holte noch am selben Abend beide ab und musste etwas warten, weil der eine oder war es nun der andere, noch nicht fertig angezogen war. Sie heißen ja beide gleich, da weiß man eben nicht so leicht, wer wer ist. Ich saß in ihrer Küche und hörte ihnen zu, wie sie im Schlafzimmer stritten. Sie konnten sich nicht auf einen einheitlichen Dresscode einigen. Gegen zwölf, als mir bereits die Augen zufielen, schrieb ich ein paar Zeilen der Erklärung und verließ lautlos ihre Wohnung.
In der allmorgendlich stattfindenden Lektoratskonferenz begruben wir die Idee eines schizophrenen Tagebuchs und entschieden uns dafür einen lyrischen Adventskalender, gestaltet von Fleischereifachangestellten, weiblichen oder zumindest irgend eines Geschlechtes.
Den beiden Schizophrenen ging ich geflissentlich aus dem Weg, was mir ein Höchstmaß an Disziplin abverlangte, da ich fortan über acht Stunden einhalten musste.
Danks einer transzentralen Meditationstechnik, die ich an der Volkshochschule erlernte, gelang es mir, jedenfalls meistens, bis abends durchzuhalten und die heimische Porzellanschüssel rechtzeitig zu erreichen. Nur selten war der Druck so groß, dass ich den Busfahrer antrieb, schneller zu fahren und rote Ampeln zu ignorieren.
Inzwischen konzentriere ich mich ganz auf unseren Adventskalender. Erstaunlich viele Einsendungen sind bereits eingegangen. Man glaubt nicht, wie viele versteckte Talente in Fleischereifachverkäuferinnen schlummern. Besonders ein Gedicht hat mich zu Tränen gerührt.
Eine gewisse Martha M., die an der Fleischtheke einer Berliner Supermarktkette beschäftigt ist, sandte uns eine gereimte Ode an den Weihnachtsbaum, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte, sozusagen als Amuse-Gueule.

		*

Du stehst im Zimmer – grün und kahl.
Und wirst geschmückt nach meiner Wahl.
Ohne Lametta und Kerzen hell,
ich mag es lieber individuell.
Mag hier der Reim auch etwas hinken,
bei mir wird nichts elektrisch blinken.
Ich werde heut – nach all den Jahren,
ihn schmücken – nur mit Wurstwaren.
Ein paar Wiener an die Äste.
Statt Sternen gibt es Aufschnittreste.
Und Zapfen – so wie es Brauch,
schnitz ich aus einem Schweinebauch.

Aus Leberwurst und frischem Mett,
das Jesulein in seinem Bett.
Verkündungsengel wird aus Kassler dann gebaut.
Sein güldnes Haar aus Sauerkraut.
Und auf des Baumes höchster Spitze,
sitzt ein Stern aus Schweineschnitzel.

Vanille, Zimt, das lass ich weg.
Bei mir da duftet dann der Speck.
Dann steht er da – mein Metzgerbaum.
Lukullisch und ein wahrer Traum.
Und für den Schnee nehm ich dann,
frisch geriebenen Parmesan.

So feiere ich – vom Mann getrennt,
weil der sich nicht zu mir bekennt.
Ich hatte mich bei ihm vertan,
denn er lebt lieber ganz vegan.
Und muss der Baum dann aus dem Haus,
wird aus Deko noch ne Suppe draus.

		*

Es sind beeindruckende Worte, die einen ergriffen und sprachlos zurücklassen. So viel Menschlichkeit in sanften Versen verpackt. Ein sprachlicher Hochgenuss. Wärmende und doch zugleich auch aufrüttelnde Zeilen, die dort aus der Feder tropften. Die Gedankenvielfalt ist geradezu berauschend. Und doch spart die Autorin nicht mit einer fein dosierter Gesellschaftskritik. Herz und Kopf wird gleichermaßen angeregt und inspiriert. Sie könnte Goethes Tochter, als auch die kleine Schwester von Hesse sein. Morgensterns Mutter oder Rilkes Nachbarin. Sie vereint alles in sich.
Eben eine Akrobatin, die mit Wörtern und Buchstaben fulminant jongliert und sie zu Höchstleistungen führt. Jedes Wort genau an der Stelle, wo es voll zur Geltung erstrahlen kann. Gereift und gut abgehangen, in der Blüte ihrer Zeit. Ein biografisch verstörender Blick, deren Mut und Kraft sich langsam bedrohlich aufbaut, hoch hinauf zur höchsten Spitze. Ein subkulturelles Erleben, eine wahre Offenbarung. Meine Tränen, die das Werk beträufelten, zeugen von der Wahrhaftigkeit, die dieses Kleinod verströmt. Ich war und bin bis heute zutiefst berührt und werde fortan Aufschnitt und Schweinebraten mit ganz anderen Augen wahrnehmen. Jedes Schnitzel wird fortan untrennbar mit den Zeilen verbunden sein.
Tagelang war ich nicht fähig meine Gefühle, die aufgewühlt waren und noch heute sind, auch vor meinen Kollegen zum Ausdruck bringen.
Nur durch die subtile psychologische Unterstützung eines hausinternen Praktikanten, war es uns möglich überhaupt erst in einen, von ihm massiv eingeforderten Stuhlkreis, einzutreten.
Ohne die kollektive und kollegiale Unterstützung meiner Mitlektoren, wäre ich wohl bis heute nicht aus dem lyrischen Sog, der mich unbarmherzig in seinen Klauen hielt, wieder herausgekommen.
Zwar aus dem seelischen Gleichgewicht geraten, doch langsam wieder auf dem Weg der Besserung, schreibe ich werte Leserschaft diese Erklärung, damit sie verstehen und begreifen mögen, wie es letztlich zu der Absage des „Tagebuch eines Schizophrenen“ kam. Wir hatten sogar den unlauteren Versuch unternommen, einen Ghostwriter zu gewinnen, der unter falscher Identität das Buch verfassen sollte, doch keiner war bereit dazu. Der eine war nicht bereit sich zu spalten, und ein anderer geriet mit sich so in die Haare, dass er sich von sich trennte und beide in unterschiedliche geschlossene Anstalten sich zurückzogen und den Beruf aufgaben.
Aber es gibt auch eine gute Nachricht, die ich keinesfalls verschweigen will.
Wir konnten die Fleischereifachverkäuferin überreden, einen epischen Roman zu schreiben, der nun, noch vor Weihnachten erscheinen soll. Er soll den Titel tragen, der schon jetzt vielversprechend ist, „Schwein muss man haben“.
Da steht uns ein großes Werk ins Haus, wenngleich ich bisher nur den Titel kenne.
Es soll sich dabei um eine über vier Generationen umfassende Familiengeschichte handeln, die von der Weimarer Republik bis heute, einen großen politischen Bogen umspannen soll, anhand einer Dynastie von Fleischereifachverkäuferinnen.
Das verspricht Spannung pur.
Ich empfehle jetzt schon vorbestellen, damit es rechtzeitig unter ihrem Baum liegen kann. Es wird sicherlich ein großes Vergnügen, auch für die Kleinsten. Denn wir vom Lektorat werden penibel darauf achten, dass keine schweinischen Begriffe verwendet werden, die ihre Kinder in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit beeinträchtigen sollen.
Passend zu dem Buch entwickelte unsere schreibende Fleischfachverkäuferin einen originellen Adventskalender, den es beim Kauf des Buches gratis dazu geben wird.
Vierundzwanzig kleine Türchen, mit von der Autorin ausgesuchten Spezialitäten. Von kleinen Mini-Wienern, bis hin zu Leberwurstmakronen und gepökeltem Spekulatius.
Salamikugeln, in Streifen geschnittene Kutteln und ein Leberkässtern, als Dekoration für den heimischen Weihnachtsbaum. Ein Adventskalender, der die Großen und Kleinen staunen lässt. Und das Türchen zum Vierundzwanzigsten bietet zusätzlich noch eine besondere Überraschung. Eine imposante naturgetreue Nachbildung des berühmten Verkündigungsengels, geformt aus kleinen Kalbsbäckchen.
Im Namen aller namentlich Beteiligten dieses Berichts, wünsche ich stellvertretend: frohe und besinnungslose Weihnachten.

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