Der Ukrainekrieg zieht westliche Staaten immer weiter hinein. Waren die Lieferungen von schweren Waffen noch vor wenigen Wochen absolut ausgeschlossen, so schicken EU-Staaten nun offen Panzer an die ukrainischen Truppen. Baltische Staaten diskutieren sogar eine mögliche Blockade von Kaliningrad.

Ein direktes militärisches Eingreifen des Westens in den Ukrainekrieg ist für die NATO und die EU weiterhin ein absolutes Tabu. Umso intensiver werden stattdessen wirtschaftliche und politische Maßnahmen ergriffen, um Russland zu schwächen und die Kampfhandlungen für Moskau untragbar zu machen.

Eine besonders drastische Maßnahme wurde Ende März von Kiew vorgeschlagen – die komplette Sperrung der Grenzen zwischen Weißrussland, Polen, den baltischen Staaten und Kaliningrad. Die Maßnahme wäre eine de facto Landblockade der russischen Exklave Kaliningrad, die über diese Grenzen versorgt wird.

Noch vor kurzem schien diese Maßnahme unvorstellbar, doch seit Anfang April wird dieses Szenario in den baltischen Staaten offen diskutiert. Anfang der Woche erklärten lettische und litauische Vertreter, dass sie die von Kiew vorgeschlagenen Grenzsperrungen zu Kaliningrad derzeit überprüfen. Konkrete Zeiträume für den Schritt wurden zunächst nicht genannt. Auch müsste die NATO und die EU diese Entscheidung auf jeden Fall mittragen, betonen Vertreter der baltischen Staaten.

Die EU widersetzt sich bislang dieser Option. Gerade erst wurden erhebliche Einschränkungen für russische Warentransporte im EU-Gebiet ausgerufen, die Exklave Kaliningrad wurde aber aus dieser Regelung ausgelassen. Brüssel scheint sich bewusst zu sein, wie gefährlich eine solche Entscheidung sein könnte. In dem Fall einer Komplettsperrung der Grenzen wäre nicht nur der Personenverkehr, sondern auch der Warentransit betroffen. Die Region würde höchstwahrscheinlich vor einer de facto Versorgungsblockade stehen, die zu einer Versorgungskrise führen könnte… was unkalkulierbare Folgen auf der politischen Bühne mit sich bringt.

Moskau warnte scharf vor diesen Schritten.

Der russische Vize-Außenminister Alexander Gruschko rief den Westen zur Abkehr von der Blockade-Idee auf. Man hoffe, dass Europa „mit dem Feuer nicht spielen und eine Blockade der Oblast Kaliningrad nicht durchführen wird“, so der Politiker.

„Ich hoffe, dass der gesunde Menschenverstand in Europa nicht zulassen wird, irgendwelche Spielchen rund um Kaliningrad zu spielen. Ich denke, Viele verstehen, dass es ein Spiel mit dem Feuer ist“, erklärte der Politiker.

Drei mögliche Szenarien

Genau genommen, hätte Moskau im Falle einer solchen de facto Blockade drei Szenarien zur Verfügung.

Selbstversorgung der Exklave

Im besten Fall könnte sich Kaliningrad weitgehend selbst mit den notwendigsten Waren versorgen. Örtliche Behörden erklärten im Zusammenhang mit den Blockade-Gerüchten, dass die Provinz sich bereits seit Jahren auf solche Szenarien vorbereitet und eine weitgehend autarke Versorgung aufbaut. Manche Waren würden mittlerweile zu 100% vor Ort hergestellt. Auch die Energieversorgung sei gesichert. Die Gasspeicher seien bis zum Anschlag gefüllt, zudem könne man mit Hilfe von LNG-Tankern große Mengen über den Seeweg bringen. Bereits Ende Januar hatte Russland die Versorgung der Exklave mit Flüssiggas geprobt für den Fall, dass russische Öl- und Gaslieferungen in die Provinz komplett blockiert werden. Der Test sei damals recht erfolgreich verlaufen und habe gezeigt, dass die Energieversorgung der Exklave auch über den Seeweg möglich sei, so russische Medien. Eine Energieblockade seitens des Baltikums und Polens könne daher abgefedert werden.

Dennoch scheint dieses Szenario zu positiv ausgelegt zu werden. Auch wenn die notwendigsten Waren autark produziert werden können, wäre die Region von Importen abgeschnitten. Elektronik, viele Kategorien von Nahrungsmitteln, Technik und weitere Güter wären in der Exklave kaum mehr zu bekommen. Angesichts der Blockade-Gerüchte steigen jetzt schon die Preise auf viele Waren. Der Gouverneur von Kaliningrad, Anton Alichanow, erklärte in diesem Sinne, dass eine Blockade die „versorgungstechnische und wirtschaftliche Sicherheit der Region gefährden“ würde.

Versorgung über den See- und Luftweg

Das wahrscheinlichere Szenario wäre daher, dass der Kreml die Versorgung von Kaliningrad über die Ostsee versuchen wird.

Sollte die gesamte polnisch-weißrussische-litauische Grenze dicht gemacht werden, müsste die Warenversorgung über den internationalen Luftraum und die internationalen Gewässer der Ostsee laufen…ob dies logistisch zu stemmen wäre, ist allerdings unklar.

Moskau müsste in diesem Fall in kürzester Zeit die Komplettversorgung einer Region mit rund einer Million Menschen auf die Beine stellen. Eine ununterbrochene Luft- und Seebrücke müsste tagtäglich alle Arten von Waren für eine Million Menschen in die Exklave liefern. Kurzfristig ließe sich auf diese Weise eine Blockade vermutlich abfedern, auf Dauer könnte die Logistik aber kompliziert und teuer werden. Der Exklave würde eine Versorgungskrise mit zahlreichen Warenengpässen und rasant steigenden Preisen drohen.

Genau darauf wollen die Ukraine und das Baltikum offensichtlich setzen. Kiew hofft, dass Moskau durch die Versorgungskrise einknickt und die Kampfhandlungen nach ukrainischen Bedingungen beendet. Angesichts der aktuellen politischen Stimmung im Kreml scheint dies allerdings keineswegs sicher zu sein, was uns zum pessimistischen Szenario bringt.

„Militärische Deblockade“

Statt Moskau durch die Kaliningrad-Blockade an den Verhandlungstisch zu zwingen, könnte diese Maßnahme zu einer endgültigen Eskalation führen.

Russische Politiker diskutieren immer offener, dass eine „militärische Deblockade“ der Exklave auf Dauer die einzige Möglichkeit bleiben wird, falls die erwogenen Grenzsperrungen in aller Härte durchgezogen werden. Sollte das Baltikum und Polen die Grenzen zu Kaliningrad schließen und die Region dadurch in eine Versorgungskrise stürzen, wäre die Errichtung eines Landkorridors über die Territorien dieser Länder unumgänglich, so die politische Stimmung in Moskau.

Der Abgeordnete des russischen Föderationsrats Vladimir Dschabarow erklärte, dass Russland in diesem Fall „die Blockade aufbrechen“ werde. Dafür habe man „genug Kraft“.

Politologe aus Kaliningrad Andrej Vypolzov erklärte, Moskau müsste in dem Fall eine militärische Intervention durchführen, um „eine humanitäre Katastrophe in Kaliningrad zu verhindern.“

Im Klartext würde es bedeuten, dass das russische Militär einen Korridor über NATO-Gebiet schlagen soll.

Die Perspektiven eines solchen Zusammenstoßes wären absolut unkalkulierbar und würden zu einem direkten Konflikt zwischen Russland und der NATO führen. Genau aus diesen Gründen scheut Brüssel derzeit offensichtlich harte Statements und Entscheidungen in dieser Frage. Der Warentransit nach Kaliningrad bleibt von westlichen Sanktionen bislang verschont.

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