Wie durch politisches Versagen Infektionsschutz gegen Kindeswohl ausgespielt wird.
Aktualisiert am 17.03.2021
Vor Inkrafttreten des Lockdowns light sagte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey am 1. November in der ARD: „Die Schließung von Kitas und Schulen sind nicht das erste Mittel, sondern die sind das letzte Mittel, wenn es um Einschränkungen geht.“ In einer gründlichen Abwägung zwischen Gesundheits- und Arbeitsschutz auf der einen, Kindeswohl auf der anderen Seite, sei man zu dem Entschluss gekommen, „bevor wir Kitas und Schulen schließen, sind alle anderen Dinge dran. […] Wenn es gar nicht mehr geht, dann ist das auch ein Weg, aber nicht der erste.“ Wenige Tage vorher sagte auch Bayerns Ministerpräsident Söder: „Die Schulen werden als letztes geschlossen. Schulen und Kitas werden im schlimmsten Fall als erstes wieder geöffnet.“ Auch die Kanzlerin beteuerte auf ihren regelmäßigen Pressekonferenzen während des Lockdowns light immer wieder, dass sie diesen Weg mitgehe.
Seit dem 16. Dezember befinden wir uns nun in einem etwas härteren Lockdown, der zunächst unter dem Deckmantel der verlängerten Weihnachtsferien, die Schließung von Schulen und Kitas beinhaltet. Seit dieser Woche ist klar: Schulen und Kitas sollen, so zumindest der Beschluss des Bund-Länder-Treffens am 5. Januar, noch den gesamten Januar zu bleiben. Blickt man auf das Infektionsgeschehen, scheint das auch sinnvoll. Durch Kompromisse und kleinteilige Regelungen mit vielen Ausnahmen von der Ausnahme wurde im November und im Dezember die Chance verspielt, die zweite Corona-Welle frühzeitig und effektiv in den Griff zu bekommen. Es scheint, als würde die Politik in dieser Pandemie für jede kleine Teilentscheidung immer zunächst ein großes gesellschaftliches Aufbäumen benötigen, ein Röhren, das durch die öffentliche Debatte geht und damit erst die Legitimität für eine politische Entscheidung schafft. Nichts ist zu sehen von Führungsverantwortung. Davon, dass einfach mal etwas entschieden werden muss, weil es notwendig ist auch wenn der gesellschaftliche Konsens für diese Entscheidung – und sei sie noch so Kleinteilig – vielleicht (noch) nicht da ist.
Im Ergebnis stolpert die Politik immer einem Stimmungsbild der vermeintlichen Mehrheit hinterher, anstatt Verantwortung zu übernehmen und das Land durch die Krise zu führen. Resultat sind Inzidenzwerte von bis zu 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen im Bundesdurchschnitt. Dabei gibt es aber auch Krisenregionen mit Zahlen jenseits einer Sieben-Tage-Inzidenz (7TI) von 500, wie beispielsweise in Sachsen oder Thüringen. Das eigentliche Ziel, das lautet, dass die 7TI keinesfalls die 50er Marke überschreiten darf, da ab diesem Wert die Gesundheitsämter nicht mehr in er Lage sind, eine lückenlose Kontaktnachverfolgung zu gewährleisten, und so das Infektionsgeschehen außer Kontrolle gerät, ist längst verfehlt und liegt auch nicht in greifbarer Nähe. Für Schulen und Kindergärten bedeutet das, dass es unter den aktuellen Umständen schon fast grob fahrlässig wäre, sie weiterhin aufzuhalten.
Die aktuelle Pandemie-Situation und der erneute Lockdown stellen für Familien eine besondere Belastung dar. Am Meisten leiden dabei die Kinder. Es geht dabei nicht nur um die verlorenen Bildungschancen, es geht auch darum, einen geregelten Alltag zu erleben oder Gleichaltrige treffen zu dürfen. Für manche Kinder geht es aber auch um ein warmes Mittagessen, wenn sie nicht mehr an der Schulspeisung teilnehmen können. Nicht jede Familie bekommt Kinderbetreuung und Arbeit gut unter einen Hut, für viele Familien geht es gar ums finanzielle Überleben. Eltern, die tagsüber ihre Kinder durch das Homeschooling begleiten und nachts ihrem Job im Homeoffice nachgehen, waren während des ersten Lockdowns im Frühjahr keine Seltenheit. Durch die Zunahme von Stress und Spannungen innerhalb vieler Familien, kam es auch zu einer Zunahme von häuslicher Gewalt, das zeigen Studien und Erfahrungsberichte. Gleichzeitig berichteten die Jugendämter über einen Rückgang der Meldungen von Kindswohlgefährdungen. Sozialpädagogen und Betreuer von benachteiligten Kindern verloren den Kontakt zu ihren Schützlingen. Wo keine Betreuer und Pädagogen mehr hinsahen, wurden auch keine Vorfälle mehr gemeldet. Viele Kinder wurden schlichtweg alleingelassen. Wie insgesamt in dieser Pandemie, sind es auch unter den Kindern die sozial benachteiligten, deren Eltern die Verluste, die durch fehlende Bildungsangebote und Kontaktbeschränkungen entstehen, nicht ausreichend kompensieren können, und die dadurch noch mehr ins gesellschaftliche Hintertreffen geraten. Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr hatte die Politik große Pläne geschmiedet, Familien und Kinder in der Pandemie nicht mehr sich selbst zu überlassen. Man habe aus den Fehlern gelernt. Das, was Kindern durch die Isolation während eines Lockdowns zugemutet wird, darf so nicht noch einmal passieren, so der Tenor. In einer Veröffentlichung der Kinderkommission des Bundestages vom 9. September heißt es deshalb: „Handlungsleitend für die Politik müsse hingegen die Kinderrechtskonvention sein, wonach ‚bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist‘.“
Und hier zeigt sich das Dilemma der Kinder, welches sich gerade in der öffentlichen Debatte durch das Auseinanderdriften von Eltern in zwei sich fast schon feindlich gegenüberstehende Lager zeigt. Das Dilemma nennt sich Infektionsschutz vs. Kinderrechte. Gesundheit gegen Kindeswohl. Einerseits hatte man beschlossen, Kinderrechte in der Pandemie von nun an erstrangig zu berücksichtigen, auf der anderen Seite hatte man bei der Aufgabe versagt, das Infektionsgeschehen so weit unter Kontrolle zu halten, dass es möglich wäre, Kinder weiterhin guten Gewissens in Einrichtungen zu schicken, in denen sie täglich mit vielen weiteren Personen Kontakt haben.
Das eine Lager der Eltern formiert sich unter dem Schlagwort „Bildung aber sicher“ und setzt sich in der aktuellen Diskussion dafür ein, dass die Präsenzpflicht an Schulen ausgesetzt wird, dass Schulen und Kitas zu bleiben. Zu groß ist die Gefahr vor Ansteckung von Schülern, Lehrern, Eltern – unter Umständen mit Risiko-Hintergrund. Immer häufiger hört man von Fällen, in denen Schulen Mittelpunkt von Infektionsausbrüchen wurden, in Hamburg gab es sogar eine Masseninfektion. Auch die psychologische Gefahr für die Kinder wird thematisiert, wenn sie in ständiger Angst leben müssen, dass sie ihre Eltern oder Großeltern anstecken könnten. Innerhalb dieses Lagers lassen sich zwei Diskurse identifizieren. Zum einen geht es um die individuelle Ansteckungsgefahr von Kindern, Pädagogen und Eltern, welche das häufig erkennbare Motiv persönlicher Ängste ist. Zum anderen steht natürlich auch der gemeinsam zu erzielende Effekt möglichst geringer Neuinfektionen zur Disposition, wenn Schulen und Kitas weiter offen bleiben. Hier wird die Schließung von Schulen und Kitas als Beitrag zum Erreichen des kollektiven Ziels eingefordert – hier greift das Deutungsmuster der Solidarität. Zum Team #BildungAberSicher – diesen Hashtag nutzen die Befürworter von Schulschließungen auf Twitter – gehören oft Familien, die die Möglichkeit haben, auch mal einige Wochen mit den Kindern zu Hause bleiben zu können.
Der Vorwurf gegenüber diesem Lager lautet, dass sie blind seien für benachteiligte Familien, deren Kinder durch den Lockdown weit größeren Schaden nehmen, da sie zu Hause nicht gut betreut und beschooled werden können. In zahlreichen Äußerungen unter diesem #Hashtag wird schweigend vorausgesetzt, dass alle Kinder im Lockdown so gut versorgt sind, wie die eigenen. Dass dem nicht so ist, zeigt die Realität von Jugendämtern und auch Krankenhäusern, die seit Beginn der Pandemie über die Zunahme von Kindern berichten, die auf Grund von häuslicher Gewalt eingeliefert werden.
Das andere Eltern-Lager wird u.a. durch Organisationen, wie „Familien in der Krise“ (FidK) oder „Kinder brauchen Kinder" vertreten. Entstanden durch einen Zusammenschluss von Eltern, die sich während des Lockdowns im Frühjahr gemeinsam für die Rechte von Kindern und gegen die Schließung von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen engagierten, geht es FidK laut deren Internet-Auftritt darum, dass Familien gut durch die Krise kommen, ohne verpasster Bildungschancen, ohne soziale Isolation von Kindern und Jugendlichen, ohne die Zerrissenheit von Eltern, die Existenzsicherung und Kinderbetreuung nicht langfristig unter einen Hut bekommen können, wenn die Betreuungsmöglichkeiten wegfallen. Man setzt hier weiterhin auf die Narration aus dem Frühjahr, Kinder spielen beim Infektionsgeschehen eine untergeordnete Rolle. Auch manche Infektionsschutzmaßnahme ist ihnen ein Dorn im Auge, so setzen sie sich beispielswiese gegen das Tragen von Masken in Betreuungseinrichtungen ein. Sie sehen sich durch das gegnerische Lager mit dem Vorwurf konfrontiert, sie wollen um jeden Preis ihre Kinder wegorganisieren, um weiterhin ungestört arbeiten zu gehen. Auf Kosten des Infektionsgeschehens und damit der Allgemeinheit. Laut Hamburger Abendblatt, wird ihnen von der Gegenseite vorgeworfen, „hier würde eine gut vernetzte und nicht demokratisch legitimierte Kleingruppe den Eindruck erwecken, sie spreche für alle Eltern“. Die Vorwürfe gehen soweit, dass die Initiative beschuldigt wird, sie würde Kinderrechte als Deckmantel nutzen, um die Interessen der Wirtschaft durchzusetzen.
Beide Lager sind in ihren Anliegen verzweifelt, fühlen sich von der Politik allein gelassen. Die einen rufen per Twitter zu zivilem Ungehorsam auf, und raten Eltern, ihre Kinder trotz Kontaktbeschränkungen nicht zu isolieren. Die anderen appellieren an Ihresgleichen, die Kinder trotz drohenden Bußgeldern vom angekündigten Präsenzunterricht zu Hause zu behalten.
Wie so oft in dieser Pandemie geht es bei diesem Konflikt um eine ethische Frage. Sie lautet, was wiegt schwerer, die Einschränkung von Kinderrechten, die schutzlose Auslieferung von sowieso schon strukturell benachteiligten Kindern und Familien, das weitere Abschütteln der Bildungsverlierer, so dass eine noch größere Kluft zwischen den besser situierten Familien und den Abgehängten entsteht, oder der Infektionsschutz und das Leben derer, die durch die Schließung von Bildungseinrichtungen gerettet werden?
Die tiefe Kluft, die sich zwischen den Eltern auftut ist das Resultat einer halbherzigen und unausgegorenen Politik während des Lockdowns light im November und Dezember, die dazu geführt hat, dass sich die Bevölkerung an zwei Fragen entzweit, die unter normalen Umständen beide von den meisten vernünftigen Menschen mit „Ja“ beantwortet werden würden.
1. Sollen Kinderrechte unter allen Umständen gewahrt werden und das Kindeswohl vor allen anderen Belangen Vorrang haben?
2. Soll der Schutz von Leben und Gesundheit das oberste Ziel im Umgang mit dieser Pandemie sein?
Psychische Belastungen durch soziale Isolation, der Verlust von Bildungschancen und sozialer Teilhabe sind eine der Facetten dieser Pandemie, überlaufene Kliniken und überlastetes medizinisches Personal eine andere. Und in der öffentlichen Debatte werden diese beiden Facetten nun so diskutiert, als ob sie ursächlich zusammenhängen. Als ob die Kinder in den Schulen schuld daran seien, dass in den Pflegeheimen die betagten sterben. Als ob es keine Lösung für die Pandemie gäbe, bei der die Kinder nicht verhältnismäßig stark leiden müssten.
Ergebnis ist eine Auseinandersetzung zwischen Eltern, die in ihrer Verzweiflung Partei für die eine oder andere Seite ergreifen. Beide Seiten argumentieren moralisch integer. Es gibt in dieser Auseinandersetzung nicht die Guten und die Bösen, es gibt lediglich verschiedene Blickwinkel auf die Sache und eine unterschiedliche Setzung von Prioritäten, möglicherweise auch je nach individueller Ausgangslage. Tragisch ist, dass es nicht hätte sein müssen, dass sich diese beiden Fragen – die Frage nach dem Infektionsschutz und die nach dem Kindeswohl – gegenseitig ausschließen. Tragisch ist, dass sich dieses Dilemma von der Politik weitgehend hätte vermeiden lassen können, wenn politische Entscheidungsträger bereit gewesen wären, gemäß ihrer Versprechungen nach dem Frühjahrs-Lockdown schneller und entschiedener andere Maßnahmen heranzuziehen, um die Infektionszahlen in den Griff zu bekommen. Wenn man sich das nur einige Wochen zurückliegende Versprechen, Schulen und Kitas würden zuletzt schließen, von Ministerin, Kanzlerin und Ministerpräsident*innen anhört, während gleichzeitig Gottesdienste, Bürojobs und ÖPNV weiterhin zur Normalität vieler Menschen gehören, ist dies an Zynismus nicht zu überbieten. Es handelt sich hier um politisches Versagen, welches zu erheblichem Vertrauensverlust und im Endeffekt zu geringerer Akzeptanz der Maßnahmen führt und Akzeptanz der Maßnahmen ist unsere wichtigste Währung im Kampf gegen die Pandemie.
Die Debatte um die Schulschließungen lenkt von existentiellen Fragen ab, die sich darum drehen sollten, wie die Pandemie in den Griff zu bekommen ist. Im Mittelpunkt darf dabei nicht die Frage stehen, ob Schulen und Betreuungseinrichtungen nun schließen oder öffnen sollen. Das ist zu kurz gedacht und denkt nicht die Komplexität mit, die hinter der Beantwortung dieser Frage steht. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung muss die Frage stehen, wie (also durch welche Einschränkungen der Erwachsenen) können die Zahlen dauerhaft so niedrig gehalten werden, dass die Kitas und Schulen guten Gewissens offen bleiben können – ohne große Gefahr für die Gesundheit der Betroffenen und ohne eine weitere Gefahr für das globale Infektionsgeschehen darzustellen. Erst wenn diese Frage gelöst ist, löst sich auch das Dilemma der Kinder. Um (benachteiligte) Kinder in der Pandemie nicht gegen sterbende Pflegeheimbewohner auszuspielen, sollte sich jeder politische Akteur, der sich für Kinderrechte einsetzt, auch dafür einsetzen, dass eine Politik betrieben wird, die zu einer möglichst niedrigen Zahl an Neuinfektionen führt, auch wenn das mit massiven Einschränkungen für die Erwachsenen einhergeht. Die Einschränkungen müssen jetzt für alle stärker sein, damit wir in einigen Wochen zumindest die Schulen und Kitas wieder öffnen können. „Macht die Schulen auf“ muss einhergehen mit „macht die Büros zu“.
Die Forderungen nach offenen Bildungseinrichtungen müssten also per se an Forderungen nach einer Niedrig-Inzidenz-Strategie (manche sprechen sogar von Zero Covid, wie es in Ländern wie Neuseeland dazu geführt hat, dass es so gut wie keine Neuinfektionen mehr gibt) gekoppelt werden. Oberste Prämisse sollte es sein, dass sich die Erwachsenen einschränken, damit es die Kinder nicht tun müssen. Die Hauptforderung müsste heißen, flatten the curve mit allen Mitteln, damit die Kinder bei hohen Zahlen nicht wieder unter Einschränkungen leiden müssen. Sichere Bildung beginnt nicht bei Schulschließungen, sondern bei einem schlüssigen Gesamtkonzept, welches das Land nachhaltig durch die Pandemie führt, so dass Schulen und Kitas guten Gewissens offengehalten werden können.
Foto: Ben Wicks
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