Putin. Russland. Ukraine. Iwan. Invasion. Puh! Wo fängt man da an? Vielleicht links und früher:

Es gibt Linke, die reflexhaft in den Nothelfer-Modus schalten, wenn irgendwo jemand sich überzeugend genug als Opfer der imperialistischen "Vereinigten Staaten von Bösemerika" (Ordenbandit) oder deren israelischen Handlangern geriert. Da wird sich auch mal mit einer Organisation wie der Hamas solidarisiert, bekanntlich eine Ansammlung  ausgewiesener Menschenrechtsaktivisten, die, wenn sie das Sagen bekämen, ganz bestimmt Religionsfreiheit, Frauen-, und Minderheitenrechte hochhalten würden. Haben sie ganz doll und fest in die Hand versprochen. Und sie leiden doch so! Die Taliban sollen ja auch nicht so schlimm sein, ist jetzt zu hören. Echt jetzt! Dass die Taliban vielleicht gerade tonnenweise Kreide fressen, um irgendwie an internationale Hilfen zu kommen, weil Afghanistan komplett pleite ist, nun ja, das ist bestimmt bloß transatlantische Kriegstreiber-Feindpropaganda.

Holen wir erst noch ein wenig aus. Back to 1999. Kosovo-Krieg.

Der war völkerrechtswidrig, keine Frage. Kriege darf man als UN-Mitglied nur führen, wenn man entweder angegriffen wird oder ein Mandat des UN-Sicherheitsrates hat, militärische Mittel anzuwenden. Beides war damals aus Sicht der NATO nicht der Fall. Dem entgegen stand und steht die Tatsache, dass dieser Krieg die Balkankriege und ethnischen Säuberungen erst einmal beendete. Milošević, Karadžić und andere hatten es zu einer gewissen Meisterschaft darin gebracht, die UNO und die Europäer vor sich herzutreiben, immer in dem Kalkül, die Europäer würden schon vor militärischer Gewalt zurückschrecken und die US-Amerikaner seien nach dem schändlichen Abenteuer von Mogadischu von überseeischen Interventionen erst einmal geheilt.

Bedaure, aber es gibt immer wieder Akteure auf der Weltbühne, mit denen man nicht verhandeln kann ohne eine einigermaßen überzeugende militärische Drohkulisse im Rücken. Gefällt mir ja auch nicht. Interessiert bloß keinen, ob mir das gefällt oder nicht. Es kommt vor, dass man nur mehr die Wahl hat zwischen zwei schlechten Dingen und sich für das weniger schlechte entscheiden muss. Weil Schwarzweißdenker das nicht verstehen oder nicht akzeptieren, lässt sich damit so hervorragend Propaganda treiben.

Der Kosovo-Krieg der NATO war, wie gesagt, zwar völkerrechtswidrig, aber moralisch vertretbar. Man hatte zu entscheiden, entweder weiter tatenlos zuzusehen, wie Milošević und die seinen das Völkerrecht mit Füßen traten, oder selbst das Völkerrecht zu brechen und dem Treiben ein Ende zu setzen. Man entschied sich für letzteres. Den Protest Russlands, das sich wie einst 1914 als traditionelle Schutzmacht Serbiens verstand, meinte man ignorieren zu können. Russland wurde damals vom gesundheitlich angeschlagenen, höchstwahrscheinlich alkoholkranken Boris Jelzin mehr schlecht als recht verwaltet, ausgeplündert von einer kleinen Schicht Milliardäre und trug immer noch schwer an den Folgen der Wirtschaftskrise der frühen 1990er.

Ende 1999 übergab Jelzin das Präsidentenamt an den damals weithin unbekannten ehemaligen Ex-Geheimdienstler Wladimir Putin. Es kann sein, dass der sich noch aus einem anderen Grund gern an das Jahr 1999 erinnert. Als das Jahr, in dem der Westen gezeigt hat, was er  im Zweifel auf das Völkerrecht gibt. Was man ihm dann genüsslich unter die Nase reiben kann, wenn wieder die Rede ist davon.

***

Natürlich war und ist Putin kein unberechenbarer irrer Iwan, sondern agiert hochgradig rational. Putin hat als KGB-Mann lange in Deutschland gelebt und gearbeitet, spricht fließend Deutsch und versteht deutsche Medien im Original. So ist davon auszugehen, dass die zutiefst widersprüchliche geistige Gemengelage innerhalb des deutschen Bürgertums ihm bestens bekannt ist, er sie völlig richtig als politische Schwäche interpretiert, die er wie auch die Abhängigkeit Deutschlands von russischen Gaslieferungen in seinem Sinne zu nutzen versteht. Mit anderen Worten, exakt das tut, was er dem Westen gern vorwirft: die politische Schwäche anderer für eigene Zwecke zu nutzen.

"As  2022 begins, Europe presents a Janus face. In the east, Russia’s  military is massing on the border of Ukraine. The EU’s attempts at diplomacy have been swept aside. Moscow wants to deal with Washington. While the east European member states strike a hawkish pose, the German government is divided and Mario Draghi, Italy’s prime minister, says out loud what ought to be obvious. With limited military means and heavy dependence on Russia’s gas, Europe has no capacity for credible deterrence. Whatever position you take on the Ukraine crisis, the EU does not come off well." (Adam Tooze)

Die erwähnte geistige Gemengelage innerhalb des deutschen Bürgertums könnte  man bezeichnen als mehr oder minder latent antiamerikanischen, "scheinheiligen, knalldeutschen Vulgärpazifismus, der alles Militärische dumpf ablehnt, aber im Zweifel natürlich doch empört ist, dass man die Taliban oder russische Söldnertruppen nicht mit einem einstimmigen Gremienbeschluss (zwei Enthaltungen) der »Nichtraucher für den Frieden Kassel Nord e.V.« zum Einlenken bewegen kann." (Lobo)

Es wird an Willy Brandts Ostpolitik erinnert oder daran, wie Helmut Schmidt einst sagte, lieber zig mal verhandeln als einmal schießen. Dass die Ostpolitik inzwischen fünfzig Jahre auf dem Buckel hat und sich die Welt ein wenig verändert hat seither, unter anderem dahingehend, dass Russland heute kein sozialistisches Land mehr ist, sondern mindestens so kapitalistisch wie die bösen USA, fällt ebenso unter den Tisch wie die Tatsache, dass Schmidt alles andere als Pazifist war und ihm im Traum nicht eingefallen wäre, die Bundeswehr abzuschaffen. Faktenresistenter sind sonst nur Querdenker.

"Die neue Bundesregierung findet ebenso wenig wie ihre Vorgänger einen Weg gegenüber Russland, der diese Trennlinie zwischen Unterstützung und Kritik klar zieht. Härte gegen den Kreml wird als geschichtsvergessene Russophobie ausgelegt." (Julia Friedrich)

Ein weiterer deutscher Irrglaube "- er ist gerne bei den braunen Genossen der AfD zu finden - hängt mit dem Glauben zusammen, Deutsche und Russen hätten beide eine aus tiefen Seelenschichten sich nährende Kultur und so eine mystische, bislang unausgelebte Verwandtschaft. Das gibt es allerdings nicht, das ist reaktionärer Unfug.“ (Bernd Rheinberg) Ferner könnte man gewisse Sehnsüchte anführen. Etwa die nach jenen Zeiten, in denen die Sowjetunion das sozialistische Brudervolk waren, von dem zu lernen, siegen lernen hieß. Oder wenn autoritäre Zwangscharaktere offen ihrer Bewunderung für Putin Ausdruck verleihen. Weil der angeblich Politik noch fürs eigene Volk macht und auch mal harrrt durrrchgrrreift, wenns sein muss.

Das nicht minder geschichtsvergessene Geblöke, mit dem von konservativer Seite das alte Ammenmärchen vom Appeasement wieder aufgewärmt wird, sollte man natürlich ebenfalls tunlichst ignorieren. Wie es auch hilfreich ist, die deutsche Perspektive mal zu verlassen:

"As Ukraine's president, Volodymyr Zelenskiy, said on Friday, high tensions with Russia are not new »We have been in the situation for eight years,« he said. The analysis in Ukraine diverges from the west’s assessment of the crisis as primarily a military one. The belief in Kyiv is that Vladimir Putin's goal is the long-term destabilisation of Ukraine, and that the Russian leader may have other objectives than invasion." (Luke Harding, The Guardian)

***

Zu Putins wirkungsvollsten Propagandawaffen Richtung Westen gehört das  Opfernarrativ von einem Russland, das schnöde von der NATO in aggressiver Weise eingekreist wird, die dabei gegen internationale Abmachungen und Zusagen verstößt und sich auch sonst an keinerlei Absprachen hält.

Und das ist schlicht Quatsch. Die USA hatten an einer Osterweiterung der NATO zunächst absolut kein Interesse. Sie kam vor allem auf Betreiben der ost- und mitteleuropäischen Staaten aufs Tapet. Die hatten eine Vergangenheit als Vasallenstaaten der UdSSR und als solche wenig zu entscheiden. Noch 1991 waren sowjetische Panzer durch die Straßen von Vilnius gerasselt, man sah mit Sorge den Augustputsch im selben Jahr und in Boris Jelzin keinen lustigen, dauerbetüterten Tanzbären, sondern eine handfeste Gefahr für die internationale Sicherheit. Und entschied als souveräne Staaten, sich um Aufnahme in die NATO zu bemühen.

"Die Sendung 'Käpt'n Blaubär' wurde jetzt auch nach Russland verkauft. Sie läuft dort im Fernsehen unter dem Titel 'Die Boris Jelzin-Show'" (Harald Schmidt, die Neunziger, wir haben sehr gelacht damals)

(Daher sind übrigens auch deutsche Überlegungen, aus der NATO auszuscheren, so brandgefährlich. Würde Deutschland tatsächlich aus der NATO austreten, würde das u.a. antiwestlichen und rechtsnationalistischen Strömungen in Ost-/Mitteleuropa weiteren Auftrieb verschaffen, weil man sich dann dort vom Westen erst recht verraten fühlte.)

Selbstverständlich geschah das nicht über den Kopf Russlands hinweg. Russland wurde von Anfang an eingebunden, es wurde der NATO-Russland-Rat gegründet, Russland wurde Mitglied des Programms 'Partnerschaft für den Frieden' und man einigte sich schließlich auf die NATO-Russland-Grundakte von 1997,  die auch von Russland ratifiziert wurde und völkerrechtlich gilt. Im Gegensatz übrigens zu irgendwelchen mündlichen Zusagen am Rande diverser  Gipfeltreffen. In der Grundakte erkennen die Unterzeichner die  Veränderungen seit Ende des Kalten Krieges an, sichern "Achtung der  Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker selbst zu wählen" (ebd.) zu (was übrigens von einem gewissen Wladimir Putin 2004 anlässlich der letzten Erweiterung der NATO noch einmal bekräftigt wurde). Im Gegenzug verpflichtet sich die NATO, keine Atomwaffen in neuen Beitrittsländern zu stationieren und sich an Truppenobergrenzen zu halten. Die NATO hat sich bislang daran gehalten, Russland nicht. Denn:

"Die Ukraine ist ein souveräner Staat, d.h. er hat das Recht auf territoriale Integrität und normsetzende Entscheidungen in politischen und rechtlichen Fragen (Ausnahmen sind die Rechtsetzung durch internationale Verträge, die die Ukraine selbst ratifiziert bzw. anerkannt hat). Die Ukraine ist eine Demokratie. Sie hat ein frei gewähltes Parlament, einen frei gewählten Präsidenten. Sie hat weder die Absicht noch die Fähigkeit, irgendein Land in ihrer Nachbarschaft anzugreifen - und ganz bestimmt nicht Russland. Sie hat aber den Wunsch, zu ihrem Schutz Mitglied der NATO und zur Mehrung des Wohlstands Mitglied der Europäischen Union zu werden (was ihr durch die Mitgliedstaaten der NATO und der EU jeweils verwehrt wird). Vor ihren östlichen Grenzen sind rund 100.000 russische Soldaten mit schweren Waffen aufmarschiert, um - so hat es den Anschein - eine Okkupation der Ukraine vorzubereiten. Da das Putin-Regime schon vor ein paar Jahren keine Hemmungen hatte, die Halbinsel Krim, also ukrainisches Territorium, zu annektieren und im Osten der Ukraine einen schwelenden Partisanenkrieg zu installieren, der bislang über 13.000 Tote forderte, ist der Gedanke an einen Einmarsch - mit welchem Ziel auch immer - nicht abwegig." (Rheinberg, a.a.O.)

(Warum wird in den Augen einiger eigentlich immer nur der Westen "wortbrüchig"?)

***

Was die Sicherheit vor Angriffen von Westen her angeht, traditionell ein zentrales Anliegen Russlands, war die Zeit von 1955 bis 1991 für  Sowjetunion bzw. Russland als deren Kernland geradezu ideal: Man war umgeben von einem Cordon sanitaire aus Sowjetrepubliken und via Warschauer Pakt eng assoziierten Staaten (das war natürlich kein Imperialismus!), die zudem durch eisfreie Häfen ungestörten Zugang zu  internationalen Handelswegen eröffneten. Der Verlust dieses Zustandes nach 1991 wird in Russland zu Teilen als Schande empfunden.

Seit es Putin um die Jahrtausendwende gelungen ist, die russische Wirtschaft zu stabilisieren, verfolgt er das Ziel, diesen Verlust an Sicherheit und Einfluss wieder rückgängig zu machen. Völkerrechtlich geht es dabei um die Frage, ob Russland das Recht zugestanden werden muss, wieder eine über die eigenen Grenzen hinausreichende Einflusssphäre zu bilden und sich dabei über die Souveränität benachbarter Staaten hinwegzusetzen. Dass Putin sich offenbar dazu berechtigt sieht, wird auch daran deutlich, dass er kürzlich von Schweden und Finnland, beides ebenfalls souveräne Staaten nebenbei, eine Garantie verlangte, niemals in die NATO einzutreten. Dies legitim zu finden, offenbart ein "ein fragwürdiges Politikverständnis - nämlich das imperialer Machtsphären." (Matthias Höhn, DIE LINKE).

Man kann mit Recht darauf verweisen, der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion verpflichte Deutschland zu besonderer Sensibilität im Umgang mit Russland. Und da ist selbstverständlich auch was dran. Wieso sollte aber einfach unter den Tisch fallen, was die deutsche Besatzung in der ebenfalls vom Vernichtungskrieg betroffenen Ukraine während des Krieges verübt hat? Hat die Ukraine weniger Recht, Deutschland an seine historische Verantwortung zu erinnern als Russland?

***

Epilog: Das Problem der Nachfolge

Möglicherweise ist Putin selbst gar nicht so sehr das Problem. Das präsidiale System Russlands ist stark auf seine Person zugeschnitten. Solche Systeme pflegen mitunter ins Instabile zu kippen, wenn die betreffende Person nicht mehr da ist. Putin ist fast 70. Zwar sehr fit und gesund für sein Alter, aber eben nicht unsterblich. Bislang hat der Mann keinerlei erkennbare Anstalten gemacht, seine Nachfolge zu regeln. Wenn ein beliebiger west- oder mitteleuropäischer Staats- und/oder Regierungschef plötzlich verstürbe oder sonstwie ausfiele, könnte man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass ein geordneter Übergang stattfinden würde. Im Falle Russlands ist das angesichts des Vakuums, das ein überraschender Ausfall Putins hinterlassen würde, alles andere als sicher. Im Falle der zweitgrößten Atommacht der Welt kein wirklich beruhigender Gedanke.

Dir gefällt, was Stefan Rose schreibt?

Dann unterstütze Stefan Rose jetzt direkt: