Es war ein kalter, grauer, wolkenverhangener Novembertag. Er schlug seine verquollenen Augen auf. „Verfluchte Taube“, dachte er. Vor seinem Fenster der EinzimmerWohn-Schlaf-Koch-Arbeits-und-Ess-Wohnung vernahm er das ihm verhasste Gurren jener Taube, die wohl als einzige in dieser Stadt nicht nach Süden geflogen war oder sich wenigstens von einem Auto hat überfahren lassen. Selbst das Gift, das er geschickt unter einen Teller Vogelfutter gemischt hatte, wurde rücksichtslos ignoriert. Fein säuberlich pickte dieses Mistvieh sich die guten Körner raus und gurrte voll Zufriedenheit. Es klang, als lachte sie ihn aus. Jeden Morgen saß sie in aller Seelenruhe in Erwins Blumenkasten, den er liebevoll mit Hanfpflanzen bestückt hatte und kackte hinein, wühlte die Erde auf und scharrte in dem Kasten herum. Sie schien ein glückliches Leben auf dem Balkon zu führen. Was hatte er nicht alles unternommen, um ihr das Gurren auszutreiben. Selbst gezielte Schüsse mit einer Schreckschusspistole verfehlten ihre Wirkung, nicht mal ein Flügelzucken konnte er bemerken. So respektlos war diese Taube. Er zog sogar einen Fachmann zurate, einen ehemaligen Biologiestudenten mit abgebrochenem Studium.
Den lernte er in seiner Stammkneipe Saufen & Vergessen kennen. Dort philosophierten sie nächtelang bei Dosenbier und Küstennebel. Das war ihr Herbstgedeck, passend zur Jahreszeit. Für jede Jahreszeit das passende Getränk. Das war ihre Devise. Schon seine Sachbearbeiterin bei der Arbeitsagentur trichterte ihm immer ein, er müsse flexibel und immer bereit sein sich auf neue Dinge einzustellen. Und flexibel war er. Im Frühling Lambrusco, ein leichter fruchtiger Wein aus Italien. Praktisch im Tetrapack, so sparte er sich den Gang zum Glascontainer. Im Sommer 72
gab es die beliebten Sangriaeimer, die er auch wegen der vitaminreichen Früchte schätzte. Im Winter hatte er immer ein Abonnement für die Jägermeisterflatrate, allein schon aus medizinischen Gründen, um einem Magengeschwür vorzubeugen. Sein Arzt beschwor ihn förmlich mehr auf seine Gesundheit zu achten. Diesem Appell kam er pflichtbewusst nach. Jedenfalls machte ihm sein Biologiefreund klar, dass die Schreckschusswaffe wirkungslos sei, denn es handele sich ja schließlich um eine Taube.
Selbst eine aus dem Tierheim ausgeliehene Katze brachte keinen Erfolg. Er hatte sich ein besonders furchteinflößendes Tier ausgesucht. Im Tierheim meinte man, es sei eine Bestie. Nur ein Auge, zerbissener Schwanz und ein verschlagener Blick, zeugten von einer Kampfmaschine. Sie musste einzeln in einem Käfig gehalten werden. Ohne Schutzanzug, Sicherheitsschuhen, Motorradhandschuhen, sowie Elektroschocker, betrat kein Pfleger den Käfig. Wer ihr den Namen Trudchen gegeben hatte, konnte sich keiner erklären. Sie war unvermittelbar. Insoweit passte sie gut zu Erwin, der, wenn man seiner Sachbearbeiterin glaubte, ein hoffnungsloser Fall sei. Obwohl er immer den Eindruck hatte, sie stehe auf ihn. Denn jedes Mal, wenn er zu ihr kam, seufzte sie und verdrehte die Augen. Wenn das kein Anzeichen sei, dachte er sich. Mit blutigen und verkratzten Händen setzte er die Mörderkatze auf den Balkon, schloss schnell die Tür und wartete in freudiger Erregung auf das bevorstehende Gemetzel. Trudchen, der Charles Manson der Tierwelt, gegen das Täubchen. David gegen Goliath. Ein letztes Gurren und die Taube wäre verspeist. Endlich Genugtuung für die letzten Wochen. Er holte sich seinen Staubsauger, um anschließend die letzten Spuren dieser Schlacht zu beseitigen. Für die siegreiche Katze hatte er extra eine Dose Premiumkatzenfutter aus einem Feinkostladen besorgt. Mit Safran marinierter Koberindfarce, gefüllte Garnelenschwänze an Austernpilzschaum, mit Thunfischrisotto und blanchiertem Königsgemüse! Lauwarm serviert, auf edlem Meißner Porzellan. Schließlich musste die süße kleine Katze ja wieder zu Kräften kommen. Zwei Kameras waren auf den Balkon gerichtet, damit weltweit, per Livestream, der Fight des Jahres übertragen werden konnte. Jetzt hieß es nur warten. Warten auf den heimtückischen Überfall. Atemlose Stille war zu hören. Die gespenstische Ruhe zerrte an seinen Nerven. Angespannt saß er da. Kein Muskel regte sich. Er vermied jeden Wimpernschlag, um auch ja nicht den Moment des tödlichen Bisses zu versäumen, der dieses Täubchen zu seinen Ahnen beförderte. Tierschutz hin, Tierschutz her, hier kannte er keine Skrupel. Kein schlechtes Gewissen regte sich. In seinen, von den vielen schlaflosen Nächten,
blutunterlaufenen Augen, spiegelte sich nur blanker Hass. Jeden Moment musste das grausame, aber unabwendbare Schauspiel beginnen. Die Katze saß da, sprungbereit. Ihre geschlossenen Augen ließen keinen Zweifel zu. Hier war jemand in tiefster Konzentration. Um den richtigen, dramaturgisch unabdingbaren, Background zu schaffen, hatte er eine CD eingelegt. Er dachte sich: „Mit Musik geht alles leichter!“ Und Recht hatte er. Grausames drang aus den Lautsprecherboxen. Ennio Morricones Spiel mir das Lied vom Tod! Keine andere Musik symbolisiert mehr den ungleichen Kampf, Gut gegen Böse! Plötzlich geschah das unausweichliche. Trudchen öffnete ein Auge. Er hielt den Atem an. Sekunden vergingen. Dann Minuten. Immer noch hielt er den Atem an. Die bereits hervorgetretene Halsschlagader pochte, doch obwohl bereits Blau angelaufen, wagte er nicht nach dem Odem des Lebens zu schnappen. Kurz vor der eigens herbeigeführten Selbsterstickung, bekam er einen Schluckauf, der ihn wieder zum Atmen zwang. Selten erschien ein Schluckauf so passend, denn sonst wäre er selbst zum Opfer geworden. Tod eines Gaffers, was für eine Schmach! Er entschied sich, zukünftig lieber nicht nicht zu atmen. Ein weiser Entschluss, den er als lebensverlängernde Maßnahme sichtlich genoss. Doch zurück auf die Schlachtplatte namens Balkon. Was machte die unbarmherzige Katze? Die hatte inzwischen ihr Auge wieder geschlossen. Offensichtlich versuchte sie es mit psychologischer Kriegsführung. Diese Katze war echt hundsgemein. Er zollte ihr immer mehr Respekt. Und das Opfer? Die Taube saß ungerührt auf seinem Blumenkasten, obwohl dieser mit Stacheldraht und Glasscherben gesichert war. Welch eine Missachtung seines Sicherheitskonzepts. Selbst das von ihm angebrachte Warnschild Achtung! Minenfeld!!! ignorierte sie. Konnte sie ahnen, dass es sich nur um eine Finte handelte? Diese Taube schien das Leben von sieben Katzen zu haben. Und dann geschah etwas ganz Raffiniertes. Es musste ein ausgeklügelter Plan sein. Die Katze bewegte sich. Sie drehte sich ein-, nein, zweimal und dann … legte sie sich hin und legte ihren Kopf auf eine Pfote. „Welche Hinterlist!“, dachte er. „Sie tut so, als würde sie schlafen, um ihren Gegner in Sicherheit zu wiegen, um dann umso erbarmungsloser und kaltschnäuziger zuzuschlagen. Was für ein Plan!“ Mit immer größerer Hochachtung betrachtete er diese Killerkatze. Mit einem Mal hörte er ein leises Schnurren. Vermeintlich schien die Katze zu schlafen. Welch eine teuflische List. Sie suggeriert dem zu Tode geweihten Täubchen Desinteresse. So perfide wäre nicht einmal Hannibal Lector vorgegangen. Es schauderte ihn. Welch ein grausamer, nervenzerfetzender Kleinkrieg. Aber nun geschah das Unausweichliche. Die vor der Zerfleischung stehende Taube flog aus dem Blumenkasten, in den sie zuvor ein letztes Mal kackte, direkt vor das, mit spitzen Zähnen bewaffnete, rasierklingenscharfe Maul des Auftragskillers. Jetzt musste die Katze nur noch ihren tödlichen Höllenschlund öffnen und es hätte sich ausgetaubt. Noch geschieht nichts. Die Delinquentin gurrt und ihr Schlächter schnurrt. Dazu die Mundharmonika von Morricone. Eine grausame Szenerie. Gebannt saß der Auftraggeber dieses Vernichtungsfeldzugs da, den Blick nicht abwendend, um ja nicht den Augenblick des Todesbisses zu versäumen. Nur noch Sekunden bis zur endgültigen Auslöschung. Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen. Die Uhr des Todes schritt voran. Sekunde für Sekunde. Und mit jeder Sekunde, die verging, spürte er, dass das Ende seiner Seelenqualen gekommen sei. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen und der Mond leuchtete das Bild des bevorstehenden Massakers an. Er saß im Dunkeln seines Zimmers und blickte auf den Schauplatz, der in wenigen Augenblicken von Blut überströmt sein wird. Nur das ticken der Uhr war zu hören. Tick-Tack, Tick-Tack, Tick-Tack. Das Tick-Tack der Uhr klang, als wollte sie sagen: „Töte sie, töte sie, töte sie.“ Sein Gesicht verzog sich zu einer grässlichen Maske. Und so verging Sekunde für Sekunde, Minute für Minute, Stunde für Stunde. Und Morricone lief in einer Endlosschleife. Bei ihm setzte ein Hungergefühl ein. Er probierte etwas von den gefüllten Garnelen, dem Lohn für die öffentliche Hinrichtung. Er fühlte sich ins alte Rom versetzt, wo er als Imperator im Kolosseum den Daumen über einen Gladiator senkte. Und die Menge jubelt ob seiner Entscheidung. Dort Löwe gegen Mensch, hier Katze gegen Taube. Und so saß er da, die halbe Nacht auf seinem Küchenstuhl und senkte den Daumen und senkte und senkte. Er ließ sich auch von einem Krampf in seiner Hand nicht vom Senken abhalten. Die Augen immer starr auf die Katze gerichtet. Geradezu hypnotisch schien er ihr zu infiltrieren: „Vernichte sie!“ Und nach Stunden endlich schlug zu, was zuschlagen musste. Nicht die blutrünstige Katze, sondern Morpheus. Und er schlief ein. Aber dieser Schlaf war tückisch. Morpheus hatte ihn in das Land der Träume geschickt. Aus humanitären Gründen kann und will ich diesen Traum an dieser Stelle nicht schildern. Er würde gegen die Genfer Konventionen verstoßen und auch Amnesty International auf den Plan rufen. An dieser Stelle muss ich meine Leser schützen, schützen vor gewaltverherrlichen Bildern, die sich in seinem Kopf abspielten. In seinem Unterbewusstsein kämpfte das Gewissen. Das Gute gegen das Böse. Und das Böse schien zu obsiegen. War es nun die Hand Gottes oder war es nur der kaputte Auspuff eines vorbeifahrenden Autos, wir werden es nie erfahren, jedenfalls schlug er nicht nur die Augen auf, sondern auch noch mit seinem Kopf hinten gegen die Wand. Schmerz und kalter Schweiß standen in seinem Gesicht. Er rieb sich die Augen und sah aus dem Fenster. Was wohl die Gladiatoren in der Arena machten? Hatte er womöglich die Mutter aller Schlachten verschlafen? Den finalen Todesbiss verpasst? Warum hat dieses blöde Katzenvieh nicht gleich zugeschlagen? Er war wütend über sich, über Morpheus, über die dämliche Katze und die Garnelenschwänze. In solchen Situationen sind ja immer gleich alle Schuld! Selbst der Mond hatte sich hinter einer Wolke verpisst. Der Balkon lag im Dunkeln. So sehr er seine Augen auch aufriss, es war nichts zu sehen. Er öffnete vorsichtig die Balkontür. Nichts war zu sehen oder zu hören. Kein siegreiches Schnurren, kein im Todeskampf letztes röchelndes Gurren. Zitternd vor Erregung nahm er sich ein Streichholz, rieb es über die Reibefläche der Streichholzschachtel, um so den Balkon taghell zu illuminieren. Was er dann sah, ließ ihn das Herz stocken. Köpfchen an Köpfchen lagen sie da. Traulich vereint. Fassungslos stand er da, mit Tränen im Gesicht. Die Katze lag da, in ihren Samtpfoten lag die Taube. In ihm entbrannte neuerlicher Hass, stärker und unbändiger als je zuvor. Hass auf beide! Hinterlistig, wie es ihm seine Mutter anerzogen hatte, schlich er auf leisen Sohlen zu den beiden Liebenden, um beiden den Garaus zu machen, damit endlich wieder Ruhe und Frieden auf seinem Balkon einkehren kann. Vorsichtig näherte er sich der Taube, um sie mit einem geschickten Griff zu packen. Mit einem Mal
erwachte die Katze, sah seine Hand, öffnete ihren Schlund, zeigte die messerscharfen Zähne und biss endlich zu. Er schrie auf! Dieses Monster hatte sich in seinen Daumen verbissen. Er riss die Hand hoch und mit der Hand auch die Katze, die keinerlei Anstalten machte, ihre Beute wieder freizugeben. Zu verlockend roch dieser Daumen nach Garnele.
Erst Minuten später konnte er die Katze abschütteln, die sich mit einem eleganten Sprung auf die Balkonbrüstung rettete und auf dem Nachbarbalkon verschwand. Die Taube, die von seinem Schrei erwachte und das ganze Schauspiel mit wohlwollendem Gurren begleitete, flog der Katze hinterher. Das Gurren klang wie ein hämisches Lachen in seinen Ohren. Blutend, aber glücklich, sich letztendlich doch als Sieger fühlend, stand er alleine auf seinem Balkon. Er hatte ihn zurückerobert. Er sah weder die Katze noch die Taube jemals wieder. Und das hatte einen guten Grund. Zwei Tage später musste er wegen nicht enden wollender Schmerzen ins Krankenhaus. Der Biss hatte sich entzündet. Er hatte sich eine Blutvergiftung zugezogen. Aber bereits nach einer Woche war er von den Schmerzen erlöst. Er verschied!
Ab und zu, vielleicht auch hin und wieder, so genau kann man das nicht sagen, setzt sich auf seinen Grabstein eine Taube. Sitzt da, andächtig, gurrt und kackt.
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