Am Donnerstag waren es neun, am Mittwoch nur zwei, am Freitag  vier, aber am Wochenende könnten es wieder mehr als zwei Dutzend sein.  Die Rede ist von Militärflugzeugen der chinesischen  „Volksbefreiungsarmee“ (VBA), die täglich in den Luftraum des  demokratischen Taiwan eindringen. Das, was Putins Panzer waren, die seit  letztem Dezember an der Grenze zur Ukraine Stellung bezogen hatten,  sind Pekings Kampfjäger und Bomber, die, von südchinesischen  Militärbasen aus, täglich waghalsige Manöver fliegen und nicht nur  Taiwans Luftabwehr austesten, sondern mürbe machen.

Mitunter stellen sich auch Boote der chinesischen Marine  amerikanischen oder japanischen Schiffen in den Weg, die internationale  Gewässer nahe Chinas Küsten befahren oder auf die Durchfahrt der  Südchinesischen See bestehen, einem internationalen Gewässer, das Peking  als sein Territorium betrachtet.

Focus Taiwan. 24. Januar 2022. Screenshot.
Focus Taiwan. 24. Januar 2022. Screenshot.

Provokationen dieser Art sind längst Alltag in den Gewässern von Japans Südspitze bis vor die Strände Australiens. Erst letzte Woche brachte die Besatzung einer chinesischen Fregatte einen australischen Hubschrauber mit einem Blend-Angriff einer  Laserwaffe fast zum Absturz. Grund, die Heli-Besatzung war wohl einem  chinesischen Spionage-U-Boot auf der Spur, das in australischen  Gewässern operierte.

Bei all diesen gefährlichen Zwischenfällen fragen sich Militärs von  Tokio bis Canberra, von Hanoi bis Jakarta zunehmend besorgt, ob und wann  daraus ein Funke überspringen wird, der zu einer militärischen  Explosion an den Rändern des Pazifiks führt. Dass Taiwan dabei im  Mittelpunkt einer Auseinandersetzung zwischen der neu-aufkommenden  Großmacht China und der alten Ordnungsmacht des Pazifiks, den USA,  stehen wird, ist längst außer Frage.

Taipei ist das Kiew des Ostens

The Japan Times. 21. Februar 2022. Screenshot.

Denn für Chinas KP ist Taipei das Kiew des Ostens. Und so fragten  sich nicht wenige Beobachter, als am Tag der Eröffnung der  Winterolympiade in Peking die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua ein  Foto von Xi Jinping mit Wladimir Putin in zufriedener Eintracht  veröffentlichte, ob zwischen den beiden nicht eine Art Hitler-Stalin-Pakt des  21. Jahrhunderts geschlossen wurde. Nach dem Motto, du stärkst mir bei  dem Überfall auf die Ukraine den Rücken, und ich sehe bei der  Einvernahme von Taiwan weg.

Zu ähnlich erscheinen beide Konfliktherde auf den ersten Blick. So  sprechen Putin wie auch Chinas Staats- und Parteichef Xi ihren  Kontrahenten eine Eigenstaatlichkeit ab. Taiwan wie die Ukraine seien  „Brudervölker“ ohne eigene Kultur, Sprache und Staatlichkeit sowieso,  die man vor „westlichen Einflüssen“ in Taiwan und „Nazi-Politikern“ in  Kiew befreien müsse.

Falls das nicht geschehe, dann wäre das „geheiligte“ Mutterland  zusehends von feindlichen Kräften umzingelt und in eklatanter Gefahr.  Dabei resultieren die Herrschaftsansprüche aus historischen Ereignissen,  die längst keine Entsprechung im modernen Völkerrecht mehr finden.

Graham Hutchings: China 1949. Foto: Reproduktion Buch-Cover, Jürgen Kremb.
Chinas Narrativ von der „abtrünnigen Provinz“ ist historischer Unfug. Foto: Reproduktion Buch-Cover, Jürgen Kremb.

Taiwan etwa musste von der maroden Qing-Dynastie 1895 an das aufstrebende Japan abgetreten werden. Davor hatten auf der subtropischen Ilha Formosa chinesische  Kriegsherren und Piraten, einheimische Malay-Stämme und westliche  Kolonialisten mehr dominiert als wirklich regiert. Auf der  Kairo-Konferenz einigten sich die westlichen Alliierten schon 1943, dass  die Insel vor der Küste Chinas nach Zusammenbruch des Japanischen  Kaiserreiches der Republik China und Chiang Kai-shek gehören werde.

Doch als der Chinesische Bürgerkrieg zuende ging, war auch der Generalissimo bereits ein Verlierer der  Geschichte. Über zwei Millionen seiner Beamten, Soldaten und Anhänger  der Nationalchinesischen Regierungspartei Kuomintang (KMT) flüchteten nach 1945 vor Mao Zedongs Kommunisten auf die Inseln von damals gerade mal acht Millionen Einwohner.

Die Japaner hatten eine vergleichsweise gute Infrastruktur  hinterlassen und so machte Chiang das subtropische Eiland zuerst zu  seinem Rückzugsrefugium, nach Ausbruch des Koreakrieges dann zu einem unsinkbaren Flugzeugträger Washingtons im Pazifik.

Erst Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hielt unter seinem Sohn Chiang Ching-kuo die Demokratie Einzug in Taipei und die Mehrheit der einheimischen  Taiwaner konnten endlich ihre Zukunft selbst bestimmen. Mit Erfolg,  heute gehört die Inselnation zu den führenden Demokratien Asiens.

Wegen der stoischen Ein-China-Politik Pekings wird Taiwan zwar nur von wenigen Staaten anerkannt, aber Fakt  ist auch, ein Souveränitätstitel der Volksrepublik China, die unter Maos  Kommunistischer Partei  erst 1949 in Peking gegründet wurde, erstreckte  sich nie auf die Insel. Chinas Narrativ von der „abtrünnigen Provinz“  ist deshalb historischer Unfug. Aber darum geht es auch nicht.

Was Xi wie Putin eigentlich fürchten, ist eine lebendige Demokratie,  die sich in Taipei und in Kiew  etabliert hat und Putin in Weißrussland,  wie Xi in Hongkong von ihren Marionetten vor Ort blutig austreten  ließen.

Ein Souveränitätstitel der Volksrepublik China, die unter Maos Kommunistischer Partei China erst 1949 in Peking gegründet wurde, erstreckte sich nie auf die Insel. Foto: Jürgen Kremb
Ein Souveränitätstitel der Volksrepublik China, die unter Maos Kommunistischer Partei erst 1949 in Peking gegründet wurde, erstreckte sich nie auf die Insel. Foto: Jürgen Kremb

Aber damit enden auch die Gemeinsamkeiten. Taiwan und seine 24  Millionen Einwohner scheinen, derzeit zumindest noch, die besseren  Karten zu haben.

Die größte maritime Truppenbewegung der Menschheitsgeschichte

Zwar stationierten Pekings Militärs in den letzten Jahren ganze  Batterien von Mittelstreckenraketen in ihren Südprovinzen Fujian und  Zhejiang, die teils atomar bestückbar, allesamt auf Taiwan gerichtet  sind. Aber von einem militärischen Aufmarsch, der auf eine unmittelbar  bevorstehende Okkupation der subtropischen Insel hindeuten würde, ist  derzeit noch nichts auszumachen. Und eine Besetzung Taiwans, da sind  sich Militärexperten einig, würde die größte maritime Truppenbewegung  der Menschheitsgeschichte erfordern.

Um die Taiwanstraße zu überwinden, bräuchten Chinas Generäle zehntausende von Schiffen,  denn ein bis zwei Millionen Soldaten müssten nach Taiwan übergesetzt  werden. Ein derartiger Truppenaufmarsch lässt sich, wie die Ukraine  zeigt, nicht verheimlichen. Spätestens sechs Wochen vor einem Angriff  wüssten Taiwans Geheimdienste, gespeist vom CIA, recht gut über  Kriegsvorbereitungen an Chinas Küsten Bescheid.

Dann begänne ein fürchterliches Blutbad. Denn für Taiwans Generäle beginnt die Landesverteidigung auf dem Festland. Sie  würden einen Angriff, hat er einmal begonnen, mit einem Raketenhagel  auf chinesische Städte beantworten. Zwar ist die VBA zahlenmäßig weit  überlegen, aber Taiwans Armee verfügt über modernste US-Waffensysteme.  Zudem ist die Insel, etwa so groß wie Baden-Württemberg, schwieriges  Terrain. Die Bevölkerungsmehrheit lebt vorwiegend im Westteil der Insel.  Dahinter türmen sich gut 300 Gipfel von mehr als 3.000 Meter Höhe in  dichtem Urwald.

Foreign Policy. Screenshot.

Einer gegnerischen Armee stehen landesweit nur ein Dutzend Strände  für Landeangriffe zur Verfügung. Nur noch 7,5 Prozent der Bevölkerung  Taiwans könnten nach einer jüngsten Meinungsumfrage dem staatlichen  Zusammenschluss mit China noch etwas Positives abgewinnen. Der Rest  würde gegen Pekings Soldaten Widerstand leisten. Seit einigen Jahren  erhalten Reservisten zudem Ausbildung in zivilem Widerstand. Von  pensionierten US-Experten.

Taiwan verfügt über eine starke Trumpfkarte

Als Faustregel der taiwanischen Landesverteidigung gilt, die eigenen  Soldaten müssten einem Ansturm von Pekings Truppen 14 Tage standhalten,  dann kämen Japan und US-Bodentruppen, die in Okinawa und Guam  stationiert sind, zu Hilfe. Beide Länder haben in den letzten Monaten  deutlich gemacht, dass man die kleine, demokratische Bruder-Nation nicht  im Stich lassen würde. „Ja, wir sind dazu verpflichtet“, sagte  US-Präsident Joe Biden erst Ende Oktober sehr deutlich.

7. US-Flotte im Südchinesischen Meer. Foto: U.S. Navy, Larissa T. Dougherty

Taiwan ist nicht Mitglied in einem Militärbündnis wie etwa der NATO. Aber mit dem Taiwan-Relation Act,  der 1979 im Kongress verabschiedet wurde, als Washington die  diplomatischen Beziehungen von Taipei nach Peking wechselte, verfügt die  Insel über eine ähnlich starke Trumpfkarte. Washington hat sich damit  kraft eines amerikanischen Gesetzes verpflichtet, Taiwan und die Insel  Penghu zu verteidigen, wenn Peking eine gewaltsame Maßnahme  betreibt „die Zukunft Taiwans anders als durch friedliche Methoden zu  bestimmen.“

Das schließt übrigens auch Boykotte und Blockaden mit ein, etwa von  Häfen, um die Wirtschaft der Insel ins Wanken zu bringen. Nicht aber den  Angriff von Peking auf Jinmen und Matsu,  zwei kleine Inseln vor dem chinesischen Festland, die von Taiwans Armee  gehalten werden. Ein Beistand aus Australien ist ebenfalls sicher, aus  Indien sehr wahrscheinlich. Nach Putins Angriff auf die Ukraine könnten  auch Kanada, Großbritannien und die EU, Südkorea sowieso, einer  Besetzung Taiwans nicht mehr tatenlos zusehen.

2022 kann Xi einen Angriff auf Taiwan nicht riskieren. Twitter Account der Volkszeitung.Screenshot.

Die gute Nachricht ist, das kann sich Xi Jinping 2022 kaum leisten.  Nachdem er bereits chinesischer Staatspräsident auf Lebenszeit ist,  möchte er sich im Herbst auf dem bevorstehenden XX. Parteitag in die gleichen KP-Sphären wie Mao Zedong erheben lassen und zum  Steuermann ohne Amtszeitbeschränkung küren lassen. Das würde nicht  gelingen, wenn er den Dritten Weltkrieg angezettelt hätte: Und etwas  anderes wäre die Kettenreaktion nicht, die ein Angriff von Xis Soldaten  auf Taipei auslösen würde.

Simulationen der chinesischen Armee vor gut acht Jahren  hatten ergeben, so exklusive Informationen des Rikscha-Reporters, dass  ein Krieg zwischen China und Taiwan schon in den ersten vier Wochen mehr  als 1,3 Millionen Todesopfer fordern würde. Zwei Drittel davon in Taiwan, der Rest unter chinesischen Angreifern.

Das hatte damals die Armeeführung davon abgehalten, Taiwan sofort  anzugreifen. Für Xi Jinping stellt das aber heute kein Hindernis mehr  da. Nur vor dem XX. Parteitag, der im Herbst stattfinden soll, kann er  das aus Angst vor einem Machtverlust nicht riskieren.

Wie Putin auch, droht Xi mit Gewalt

Die schlechte Nachricht freilich, Xi wird es trotzdem versuchen. Im  Gegensatz zu seinen Vorgängern hat er deutlich gemacht, dass China, und  damit meint er nur sich selbst, „die Wiedervereinigung“ mit den Brüdern  und Schwestern jenseits der Taiwanstraße nicht auf Ewigkeit verschieben  will. Nach seinen Vorstellungen soll es noch in diesem Jahrzehnt  passieren. Und wie Putin auch, droht er mit Gewalt, wenn seinen  Vorstellungen nicht entsprochen wird.

The Independent. 1. Dezember 2021. Screenshot.
Chinesische U-Boote in der Taiwan-Staße. The Independent. 1. Dezember 2021. Screenshot.

Auch Xi fühlt sich vom feindlichen Westen umzingelt. Und wenn er  Staaten nicht im Rahmen seiner „One Belt One Road“-Initiative einkaufen  kann, der Idee von der „Neuen Seidenstraße“, entlang der die Welt nach der Pfeife von Papa Xi tanzen muss, dann holt er sich, was er will mit militärischer Gewalt.

Denn Taiwan ist das Herzstück in der sogenannten „ersten Inselkette“,  die sich wie ein Sperrschild zwischen dem chinesischen Festland und dem  Pazifik spannt. Hätten Xi Jinpings Soldaten die Insel besetzt, könnte  er nahezu unbegrenzt Macht in Asien ausüben, den Erzfeind Japan  drangsalieren, ihn von der Rohstoffversorgung abschneiden, und der  Zugriff der USA auf den bevölkerungsreichsten Kontinent wäre gebrochen.

CNBC. 15. März 2021. Screenshot.

Und nicht nur das. Auch Europa hätte Xi mit einer Okkupation Taiwans  fest im Griff. Denn die Rolle, die der Ukraine als Kornkammer der Welt  einst zufiel, spielt das kleine Taiwan beim wichtigsten Rohstoff des 21.  Jahrhunderts. Mehr als 60 Prozent der weltweiten Mikroprozessoren,  ohne die unsere Handys und Computer, unsere Autos und Werkzeugmaschinen  nicht mehr funktionieren, werden auf Taiwan und von seinen Produzenten  hergestellt.

Könnte Chinas Machthaber fortan deren Allokation und Verkauf an den  verhassten Westen allein bestimmen, dann wäre das, was der amerikanische  Finanzminister Henry Morgenthau einst  mit Nachkriegsdeutschland geplant hatte, eine Kleinigkeit zu der  industriellen Abstrafung, die uns von Xi Jinping und seinem  Gesinnungsgenossen Wladimir Putin im Falle einer Niederlage um Taiwan  droht.

Dieser Artikel erschien bereits auf  Der Rikscha-Reporter/ Blick auf Asien von Jürgen Kremb und davor in verkürzter Form auf Der Achse des Guten.

Focus Taiwan, Screenshot 21. April 2021.
Focus Taiwan, Screenshot 21. April 2021.

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