Flehentliche Bitte
„Viele fühlen sich berufen, aber wenige sind auserwählt.“(FN Evangelium nach Matthäus 22, 1-14FN)
Gerade das Ende dieses Buches, an dem Sie nun angelangt sind, treibt viele Naive dazu, in meine Fußstapfen zu treten. Wenn auch sie einen inneren Drang nun verspüren, sich literarisch auszutoben und mit dem ausgetobten sich in den Buchmarkt stürzen zu wollen, so sei all denen ein zweites, noch eindringlicher warnendes Zitat an die Schreibhand gegeben:
„Wehret den Anfängen!“(FN Aus dem Lateinischen: „Principiis obsta“ des römischen Dichters Ovid in seiner Schrift Remedia amoris (Heilmittel gegen die Liebe) FN)
Dies bitte ich als einen wohlgemeinten Rat zu verstehen.
Zwar habe auch ich gegen den Wahlspruch in unserem Familienwappen verstoßen, doch sehe ich es als ein persönliches Aufbegehren gegen die familiäre Gängelung an. Das Wappen, zwei gekreuzte Staubwedel, darunter in goldenen Lettern der Familienwahlspruch: „Et auferet Dominus Deus pulvis in vitam cotidianam“(FN Lat. Übersetzung: Er soll den Staub des Alltags wegwischen. FN)
Diesen, von meiner Mutter zum Wahlspruch der gesamten Familie erhobenen Leitspruch, wurde uns Nachkommenschaft bereits in die Wiege gelegt.
Doch ich, als Erstgeborener und somit Anwärter auf den Titel des Clanchefs, widersetzte mich dieser Parole bereits als Kind.
Von da an galt ich als schwarzes Schaf der Familie und so war es nur folgerichtig, dass ich zum Schriftsteller avancierte. Bereits als Kind verschlang ich lieber Bücher als jegliche Form gesunden Gemüses, was ich bis heute durchhalte. Und so wurde ich zwar ein kränkliches aber glückliches Kind. Mit Unterstützung oder gar Verständnis konnte ich damit nicht rechnen, denn Bücher galten innerhalb unserer Familie als verpönt. Geradezu feindselig wurde meine Außenseiterrolle beäugt und schließlich wurde ich einem Kinderpsychologen zugeführt, der sich jedoch, trotz Intervention des Familiengerichts, auf meine Seite schlug. Doch da war es bereits zu spät und ich auf dem besten Wege auf die schiefe Bahn zu geraten. Von Buch zu Buch geriet ich immer tiefer in den Sog eines verhängnisvollen Lesestrudels. Die Abnabelung und Loslösung von der Familie und damit auch den Verzicht auf alle Privilegien und den zukünftigen Titel als Oberhaupt der Familie, nahm ich billigend in kauf. Ich zog von dannen, hinaus in die Welt, wo ich auf viele Gleichgesinnte traf, die ebenso als ausgestoßene in Bibliotheken und Buchhandlungen herumlungerten. Und ich las weiter, bis die Bibliothekare an die Grenzen ihrer Kapazitäten kamen und mir kein Buch mehr anbieten konnten, was noch von mir nicht gelesen war. Diese Tatsache ließ mich in ein tiefes schwarzes Loch fallen. Ich vegetierte nur noch vor mich hin. In meiner Verzweiflung ging ich sogar in Bahnhofsbuchhandlungen und begann fatalerweise mit der Lektüre von trivialen Liebesschmökern. Sofort bekam ich Pusteln am ganzen Körper. Ich drohte ernsthaft abzurutschen, in die Niederungen der übelsten Schmonzetten. Auf dem Weg, literarisch vor die Hunde zu gehen, traf ich auf einem Mann, vollkommen in Schwarz gekleidet und einem lässigen schwarzen schal, der locker um seinen Hals geschlungen war. Er entpuppte sich als der Messias, der Heilsbringer, die Hand Gottes, die mich aus dem morastigen Sumpf ziehen sollte. Nicht im Traum hätte ich mir vorstellen können, inmitten des Trubels einer Bahnhofshalle, auf dem Boden sitzend, ihn, den Meister, den Guru aller begierigen Leser zu finden. Vor ihm, neben einem alten Filzhut, dem ein paar klägliche Kleinstmünzen innewohnten, hatte er seine Botschaft auf ein Stück Pappkarton geschrieben.
Ich stand vor ihm und las die eindrücklichen Worte, die mir die Augen öffneten und mein Bewusstsein erweiterten.
Alles was dort stand, sprach mir aus tiefstem Herzen.
Ich weise Dir den Weg in deine Zukunft.
Spenden erbeten!
Ehrerbietig sprach ich ihn an.
„Weiser Mann, mich dürstet nach eurer Weissagung!“
Das Orakel öffnete seine glasigen Augen, denn ich hatte ihn aus einer tiefen Meditation gerissen, griff zu einer Dose goldenen Gerstensafts, nahm einen kräftigen Schluck, wischte einmal durch seinen ebenso schwarzen langen Vollbart, der so treffend auf sein Gesamterscheinungsbild abgestimmt war und sah mich durchdrungen an. Wohlig und warm wurde mir dabei und ich vergaß alles um mich herum. Voller Ungeduld wartete ich auf seine Ansprache und die Prophezeiung, die der Pappkarton verheißungsvoll versprach. Doch der Prophet sah mich nur an und noch war sein Mund versiegelt. Nichts drang nach außen. Erneut griff er zu seiner Dose und ließ den traurigen Rest seine Kehle hinunterfließen. Ergriffen sah ich dem Schauspiel zu, was er mir zu Ehren zelebrierte. Sollte dies womöglich bereits ein Hinweis sein? War billiges Bier vom Discounter die Lösung? Und dann tat der mit Weisheit so reichlich Ausgestattete etwas, was mir den Atem verschlug. Mit einer Handbewegung deutete er auf seinen Filzhut hin, dann fiel er wieder in tiefe Meditation.
„Was für eine große Geste!“, dachte ich still bei mir.
In diesem Augenblick war ich mir sicher, auch er erwartet eine ebenso große Geste nun meinerseits. Mich überkam eine zuvor noch nie da gewesene Scham. Wie konnte ich es auch nur wagen, ihn so plump, so unverschämt von oben herab ansprechen. Die Zerknirschung die mich und das völlig zurecht, erfasste, zwang mich förmlich in die Knie. Und dem bereits mentalen Kniefall kam ich nun auch körperlich nach.
„Der Anzubetende verlangt nach einer Geste der Demut!“, ging es mir durch den Kopf. Hastig begannen meine Hände in meinen Taschen nach Kerzen zu suchen, die ich für ihn entzünden könnte, doch sie kehrten, gesenkten Hauptes, erfolglos des Suchens, wieder zurück. So konnte ich ihm nur mich, vor ihm knieend, als Zeichen meiner Verehrung, anbieten. Kaum das ich es tat, kehrte er aus tiefer Trance wieder zurück und sah in seinen Hut hinein und mich mit einem strengen Blick an. Dann endlich sprach er zu mir.
„Das Leben ist ein Geben!“, sagte der Sanftmütige, in einem sonoren durchdringenden Singsang, der ihn als Rheinländer entlarvte.
„Das Leben ist ein Geben!“, wiederholte ich, dankbar für die Worte, die der Meister mir großzügig schenkte.
„Du gibst mir und ich gebe dir!“, fügte er eine zweite Weisheit hinzu.
War nun die erste Weissagung noch nicht so klar einzuordnen, tat es die zweite umso deutlicher. Er duzte mich! Eindeutiger ging es kaum! Ab jetzt waren wir Freunde! Nicht im Traum hätte ich das zu hoffen gewagt. Wenngleich meine Knie auch schmerzten, nichts hätte mich jetzt dazu bringen können, diese demut- und zugleich demütigende Haltung aufzugeben, selbst wenn der Bahnhof in Flammen stehen würde. Für mich waren seine Worte ein flammendes Plädoyer für Freundschaft, Liebe und die Gleichheit aller Menschen.
Kein Buch, kein noch so bedeutender Schriftsteller konnte mir das geben, was er mir gab.
Und wie ein Sonnenstrahl, der die dunklen Wolken durchdringt, so kam mir ein Gedanke in den Sinn, den ich gerne als mein Eigen behaupten würde, doch der bereits über zweitausend Jahre währt: Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab trösten mich.(FN Bibel, Psalm 23,4FN)
Worte, die lange nachwirkten, wenngleich mir der zweite Teil nicht so recht einleuchteten vermochte, hinsichtlich ihrer Bedeutung, besonders angesichts der derzeitigen Situation, wo mich diese Worte erfasst haben. Aber vieles, was einem so in den Sinn kommt, lässt einen eben mit unbeantworteten Fragen zurück. Den „Stecken und den Stab“ strich ich einfach aus dem Gedächtnis und labte mich nur an dem Anfang, der mir so viel gegeben hat. Wohl dem, der in schwerer Not auf solch ein wundervolles Zitat zurückgreifen kann. Dafür schätze ich mich umso mehr, wenn ich auch sonst nicht immer meiner Meinung bin.
Jetzt, da er mir die Augen geöffnet hatte, streckte ich dankbar eine Hand aus, um sie von ihm schütteln zu lassen. Doch er war offensichtlich kein Freund von übertriebener Körpernähe und so schlug er nicht ein, sondern hielt mir, in gebührendem Abstand, seine Hand geöffnet hin. So etwas kannte ich nur von wegelagernden Bettlern, Pennbrüdern oder Finanzbeamten. Doch warum zeigte er mir so demonstrativ diese Geste würdelosen Gelderbetens? Ihm jetzt ein zwanzig Cent Stück in die Handmulde achtlos zu werfen, so wie ich es auch sonst nie tue, würde ihn sicher nur brüskieren. Natürlich wäre es mir ein Leichtes gewesen, ihm einen Geldschein in die Hand zu legen, doch wäre dieser, angesichts der zugigen Bahnhofshalle, höchstwahrscheinlich unwiederbringlich weggeflogen. Zum Glück hatte ich auch keinen Schein bei mir. Schuld daran hat ein mir nicht gewogener Geldautomat, zu dem ich eine disharmonische Geschäftsbeziehung führe. Von einem Automaten nicht wertgeschätzt zu werden, ist ein überaus deprimierendes Gefühl. Und auch seine Brüder und Schwester, bei denen ich vorstellig wurde, versagten mir bockig ihre Dienste.
Ich winkte meinem Meister zum Abschied ehrerbietig zu und ging meiner Bestimmung entgegen. Nein das ist falsch! Ich ging nicht, ich wanderte. Ich tat, so wie er es mir vorausgesagt hatte. Ziellos wanderte ich über den Bahnhofsvorplatz, durch die Fußgängerzone, über den Marktplatz, ließ die Stadt hinter mir und wanderte über Feld und Wiesen, überquerte Straßen und Flüsse. Berge hinauf und wieder hinunter. Ich hatte meine wahre Bestimmung gefunden. Kein Gedanke an ein Buch, was noch zu lesen wäre. Kein geschriebenes Wort, was mich beglücken könnte. Nur eine Frage drängte sich mir auf, gerade als ich, mitten in der Nacht, inmitten einer unbeleuchteten Lichtung stand, von der Wanderung ermattet.
Wo zum Teufel bin ich hier eigentlich? Ich begann reiflich über die von mir aufgeworfene Frage nachzudenken. Während ich noch nach einer Antwort Ausschau hielt, fiel mir ganz spontan ein Satz ein, den ich vor Jahren einmal hörte und dessen Sinnhaftigkeit mir bis dato verschlossen blieb. Doch jetzt strahlte er plötzlich vor meinem geistigen Auge und er ergab einen Sinn für mich.
„Der Weg ist das Ziel!“
Nun, nach all den Jahren, erkannte ich seine tiefere Bedeutung. Ich soll wandern, um des Wandern Willen! Ziellos!
Ich hoffe, liebe Leser, die es zum Schreiben drängt, ihr habt diese kleine niedliche Fabel verstanden und richtet euch und euer Leben danach aus. Und für die wenigen unter euch, denen die Quintessenz noch immer verborgen ist, denen rufe ich zu: Schreibt erst, wenn ihr alles gelesen habt. Beginnt gleich hier und jetzt! Lest meine nächste Geschichte.
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