„Du bist frei, endlich frei“ – ach, wer wollte das nicht zu sich sagen können!? Ach, wer wäre nicht gern frei; und ach, wer wollte diese Worte nicht gern aus dem Munde eines Freundes oder einer Freundin hören!? So wie diese Frau in einem Lied von Udo Jürgens; diese Frau, die gerade frisch geschieden ist und nun mit einem „Glas Champagner in der Hand“ an einer Bar steht. Sie ist frei, ist ungebunden, kann nun endlich all das tun, was sie sich in den Jahren ihrer Partnerschaft versagen musste. Sie ist frei, endlich frei. Doch der Sänger fügt hinzu: „Aber du bist nicht befreit.“ Wie kann das sein: frei sein, aber nicht befreit?

Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Ohne Zweifel ist es das, aber dieser Widerspruch ist eben nur so widersprüchlich wie das Leben eines Menschen. Denn es ist doch wahr, und viele haben es einmal erlebt: Es kann sein, dass man von allen Zwängen frei ist; dass da niemand ist, auf den man Rücksicht nehmen müsste; dass der Tank genauso voll ist wie das Konto; dass man Urlaub hat, gesund ist und die Zeit hat, das zu tun, was man schon immer gerne machen wollte – und dass man sich trotzdem irgendwie gefangen oder unfrei fühlt. Deshalb noch einmal die Frage: Wie ist das nur möglich: frei sein, aber nicht befreit?

Freiheit ist die Qualität einer Beziehung. Frei bin ich zum Beispiel dann, wenn ich mich in der Welt bewegen kann, ohne dass mein Körper mich in irgendeiner Form behindert. Frei bin ich genauso, wenn mich andere nicht einengen, beherrschen oder maßregeln. Frei bin ich, wenn ich mich auf dem Markt oder im Staat mit meinen eigenen Interessen zeigen und behaupten kann. Frei bin ich, wenn mir mein Partner nicht im Wege steht, wenn ich neue Wege gehen will. Frei, so scheint es auf den ersten Blick, sind Menschen stets, sobald sie sich ungebunden, ungezwungen und nach Maßgabe des eigenen Willens in dieser Welt entfalten können; sobald dasjenige, mit dem sie in Verbindung stehen, sie nicht bindet oder einengt. Aber sind sie dann zugleich befreit?

Menschen sind komplexe Wesen. Man könnte auch sagen: Ihr Sein bewegt sich in mehreren Dimensionen. Eigentlich wissen wir das. Wäre es anders, könnten wir nicht davon reden, dass wir einen Körper haben, von dem wir gleichzeitig wissen, dass wir irgendwie auch dieser Körper sind– dass wir nicht nur leben, sondern immer auch leiben. Wir sind Leib, aber wir sind noch mehr. Wir sind auch die, von denen wir sagen zu können meinen, dass sie einen Körper haben. Aber wer ist das? Nun wird die Sache komplizierter.

Wir haben nicht nur einen Leib, der wir zugleich auch sind. Wir haben ebenso ein Selbstbild, eine Deutung unserer selbst, für die wir jenen Namen haben, von dem schon die Rede war: Ich. Oder: Ego. Das kann nicht anders sein, weil Menschen Wesen sind, die sich zu sich verhalten können und auch müssen. Wenn wir uns zu uns selbst verhalten, machen wir uns dabei unausweichlich ein Selbstbild, mit dem wir uns identifizieren und für das wir uns halten. Wenn du gefragt wirst, wer du bist, wirst du etwas von deinem Selbstbild preisgeben. Und du wirst dabei mit dem Wörtchen Ich hantieren.

Aber dieses Selbstbild, das dir als Ich und Ego so vertraut ist, ist nichts anderes als ein Bild von dem, was die alte Sprache Seele oder Psychologen Selbst nennen: das, was du in deinem Wesen bist; das, wovon dein Ich ein Bild bzw. eine Deutung ist; das, was auch all das enthält, was du bist, obgleich du es verdrängst, nicht beachtest oder was in deinem Unbewussten schlummert. Körper, Ich und Seele sind drei Dimensionen, in denen sich Menschsein entfaltet. Und für jede dieser Dimensionen gilt ein anderes Konzept von Freiheit. Deshalb ist, auch wenn sich das Ich frei fühlt, unsere Seele lang noch nicht befreit.

Das Ich ist nichts anderes als ein Selbstbild, mit dem wir uns identifizieren. Wir halten uns für unser Ich. Wobei dieses Ich das Produkt zweier Faktoren ist, die in einem Menschen mächtig sind: Wille und Verstand. Denn in unser Selbstbild fließt nur das ein, was wir sein wollen. Wir entwerfen unser Ich – unbewusst – nach Maßgabe von Idealen, die uns wünschenswert erscheinen. Und unser Verstand steht dabei Pate, denn er ist es, der die Unterschiede macht: „Das bin ich, das bin ich nicht.“ So entsteht die Ansicht, die wir von uns haben. So entsteht das Ich.

Da das Ich sich aus der Kraft des Willens speist, ist es sehr darauf erpicht, seinen Willen zu bekommen oder gegen andere durchzusetzen. Wenn es sich von anderen begrenzt oder bevormundet fühlt, begehrt es auf. Wenn andere ihm Hindernisse in den Weg stellen oder es bei der Erfüllung seiner Wünsche stören, erlebt es sich als unfrei. Wo es sich gebunden und gefangen weiß, plant es im Stillen seinen Ausbruch. Bis zu dem Tag, an dem es mit dem Champagnerglas an der Bar steht und zu sich sagt: „Du bist frei.“ Was ja auch gut und schön wäre, wenn sich nicht zugleich die Seele meldete und ihm zuflüsterte: „Aber du bist nicht befreit.“

Die Seele tickt ganz anders als das Ich. Nur verstehen wir die Weise, wie sie tickt, oft nicht. Denn die Welt, in der wir leben, ist die Welt der zweiten Dimension: eine Welt von Ichs für Ichs, eine Welt, die so tut, als gäbe es die Menschen nur als Leib und Ich – als sei uns keine andere Freiheit möglich als die Freiheit eines Ichs, das tun und lassen kann, was ihm gefällt oder wonach ihm gerade mal der Sinn steht. Unsere Welt war freilich nicht schon immer eine Welt von Ichs für Ichs. Dazu wurde sie, als sich im 18. Jahrhundert in Europa die Idee durchsetzte, Menschen seien rationale Egoisten, deren Leben sich darin erfüllt, das zu bekommen, was sie wollen: und die man aus eben diesem Grund befreien müsse, ihren Interessen nachzugehen: auf dem freien Markt der Wirtschaft ebenso wie bei der Wahl einer Regierung.

Dieses Ideal von Freiheit ist nicht falsch – im Gegenteil: Es ist höchst kostbar, und wir tun gut daran, es nicht aufs Spiel zu setzen. Denn der Mensch lebt immer auch in seiner Dimension des Ichs. Und er kann nicht wirklich in der Tiefe seines Wesens frei sein, wenn sein Ich gefangen oder unfrei ist – ebenso wie auch sein Ich nicht frei sein kann, wenn sein Leib gefesselt oder krank darniederliegt. Dieses Ideal des freien Marktes und der freien Wahlen ist nicht falsch, doch unterbietet es die Komplexität und Mehrdimensionalität des Lebens. Es gewährt dem Ich ein Maß an Freiheit, ohne Frage, aber es befreit die Seele nicht.

Was müsste dafür geschehen, dass wir in der Tiefe unserer Seele frei sind?

Wer auf diese Frage eine Antwort wünscht, ist nicht schlecht beraten, sich bei denen umzutun, die nicht von dem Menschenbild der Neuzeit infiziert sind: bei den indigenen Völkern etwa oder bei alten Kulturen wie den Griechen der Antike. Und tatsächlich wird man fündig, wenn man ihre Philosophen danach fragt, was denn Freiheit wirklich, wesentlich und in der Tiefe einer Seele ist.

„Frei“ heißt auf Griechisch eleutheros. Das ist ein eigenartiges Wort, das ursprünglich den Zustand eines Menschen zur Sprache bringt, der genau da ist, wo er hingehört – der also gar nicht ungebunden oder unabhängig ist, sondern der sich ganz im Gegenteil als zutiefst gebunden und abhängig versteht, aber eben von jenen, denen er zugehört. Frei – eleutheros– ist deshalb der Bürger einer Stadt; nicht weil er sich dort an den politischen Angelegenheiten beteiligen oder auf dem Markt Geschäfte machen darf, sondern weil er in einem Umfeld lebt, dem er entstammt, in dem er sich verstanden weiß; mit einem Wort: das seine Heimat ist.

Denkt man Freiheit so, dann ist sie etwas anderes als das, was wir als Kinder der Moderne unter ihr verstehen: Sie ist gerade nicht die Ungebundenheit und Willkür eines Ichs, das all das tun und lassen kann, was es zu tun begehrt. Sie ist das Eingebunden- oder Rückgebundensein in bzw. an das System, das einen schützt und hält und trägt – und dessen Teil man ist. Die Freiheit, die das Wort eleutheros zur Sprache bringt, ist nicht die Freiheit eines Ich, sondern die Freiheit einer reifen, zu sich selbst erwachten Seele.

Denn es ist nun einmal so: Wir Menschen sind niemals allein. Wir sind nie unabhängig. Wir sind, was wir sind, nur weil wir Teil von etwas sind, das größer ist als wir: unserer Familie, unserer Kultur, der Natur im Ganzen. Und frei ist niemand, der dagegen aufbegehrt. Frei ist nur, wer seinen Platz in diesem Größeren, in diesem Ganzen findet. Frei ist nur, wer mit sich selbst und mit den Menschen seiner Umgebung im Einklang ist. Frei ist nur, wer sich mit Leib und Seele, Ich und Selbst ins Ganze der Natur und der Gesellschaft einzufügen weiß. Wirklich frei ist – um es kurz machen – nur, wer sich seiner Gebundenheit nicht nur bewusst ist, sondern sie bejaht und anerkennt. „Ja“ zu sich und „Ja“ zum Leben sagen ist der Weg, der in die wahre Freiheit führt: in die Freiheit unserer Seele, die am Ende mehr zählt als die Freiheiten des Ichs oder des Leibes und sie überwölbt in eine große Freiheit, die uns in der Tiefe unseres Seins befreit.

Bleiben wir jedoch gefangen in den selbst gesetzten Wünschen, Zielen und Konzepten unseres Ichs, bleibt uns diese Freiheit vorenthalten. Dann können wir uns noch so oft scheiden lassen, noch so oft kündigen und noch so viel Geld anhäufen: Wir enden letztlich doch in jener mörderischen Falle, vor der Udo Jürgens dringlich warnte: „Du bist frei. Endlich frei. Aber du bist nicht befreit. Du bist nur verdammt in alle Einsamkeit.“

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