Warschau/Berlin - Die von der polnischen Regierung geplanten neuen Atomkraftwerke an der Ostsee können bei einem schweren Unfall auch Menschen in Deutschland gefährden. Bis zu 1,8 Millionen Menschen in Deutschland müssten im schlimmsten Fall für ein Jahr aus ihren Wohnorten evakuiert werden, wenn es am geplanten Standort in Polen zu einem GAU kommen würde.

Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten von fünf Umwelt- und Nuklearexperten, unter anderem von den Universitäten Genf und Luzern, über das die Zeitungen des "Redaktionsnetzwerks Deutschland" in ihren Dienstagausgaben berichten. Die Grünen im Bundestag, die die Studie in Auftrag gegeben hatten, wollen angesichts der Ergebnisse nun ein Mitspracherecht für Deutschland erwirken. Polen behauptet bislang, selbst im Katastrophenfall würde keine Gefahr für die Nachbarstaaten ausgehen. Das Gutachten im Auftrag der Grünen kommt dagegen zu dem Schluss, dass in drei Viertel der möglichen Wetterbedingungen die Nachbarstaaten stärker von radioaktiver Strahlung nach einem GAU betroffen wären als Polen selbst.

Deutschland ist in einem Fünftel der Simulationen betroffen, also mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent. Der nach dem Super-GAU im japanischen Fukushima angewendete Grenzwert für längerfristige Evakuierungen, 20 Millisievert pro Jahr, würde laut Gutachten im schlimmsten Fall vor allem die südliche und westliche Umgebung von Berlin sowie den Nordosten von Hamburg erreichen. Insgesamt wären nach einem Unfall der höchsten Kategorie laut der Studie rund 4,5 Millionen Menschen in ganz Europa von erhöhter radioaktiver Strahlung betroffen, heißt es weiter. Grundlage für die Projektionen sind Wetterdaten der vergangenen drei Jahre.

Geht man nicht vom schlimmstmöglichen Verlauf nach einem Super-GAU aus, sondern eher vom Durchschnitt, müssten immerhin noch fast 200.000 Menschen in Deutschland ihre Häuser für mindestens ein Jahr verlassen, so das Gutachten. Die Regierung in Warschau hatte 2019 ihren Energieplan bis 2040 vorgestellt, zu dem auch neue Atomkraftwerke zählen. Gegenüber dem zuständigen Büro zur Abstimmung von Umweltauswirkungen in Grenzregionen, der "ESPOO-Convention" mit Büro in Genf, hatte sie angegeben, dass die Nachbarstaaten nicht von seinen Plänen betroffen seien - also eine Konsultation mit Deutschland oder gar eine Anhörung deutscher Anwohner unnötig. Die Grünen-Atomexpertin und Vorsitzende des Umweltausschusses im Bundestag, Sylvia Kotting-Uhl, kritisierte die Untätigkeit der deutschen Regierung.

"Es ist bezeichnend, mit welcher Lethargie die Bundesregierung die Atompläne in unserem Nachbarland verfolgt", sagte sie dem RND. "Die potenziell gravierenden Auswirkungen auf Metropolen wie Berlin und Hamburg sollten gerade vor dem Hintergrund des deutschen Atomausstiegs Engagement statt Desinteresse wecken", so die Grüne. Die österreichische Regierung habe in Warschau interveniert, die deutsche dagegen nicht. In einem Protestbrief ans das ESPOO-Büro verwies Kotting-Uhl inzwischen auf das Schweizer Gutachten und fordert, dass die Organisation sowie die Bundesregierung bei der polnischen Regierung die Einbindung Deutschlands einfordert. "Die Bundesregierung kann die irrsinnigen polnischen Atompläne nicht aufhalten, aber ihre betroffenen Bürger informieren, Mitspracherecht einfordern und mit einem wachsamen Auge auf die bestmögliche Sicherheit der Anlagen pochen", sagte die Grüne dem RND.

Foto: Atomkraftwerk (über dts Nachrichtenagentur)

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