Von: Jürgen Kremb, 25. Dezember 2020

Greift China nach der Zerschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong jetzt auch bald Taiwan an? Und würde die USA, samt ihrer Verbündeten von Australien bis Südkorea, einen Waffengang mit China  riskieren? Eine müßige Frage. Denn längst hat die Volksrepublik China  ihren täglichen „Grauen Krieg“ gegen den kleinen, demokratischen  Nachbarn Taiwan schon begonnen.

Die Szene ist dieser Tage typisch in der Taiwan-Straße,  der Meeresenge, die das chinesische Festland von der demokratischen  Inselrepublik Taiwan trennt. Bomber, Kampfjets und Aufklärungsflugzeuge  steigen meist in Geschwaderstärke aus Südchina auf. An der schmalsten  Stelle beträgt die Entfernung zwischen dem kommunistischen China und der  24-Millionen-Einnwohnerinsel Taiwan, nur 130 Kilometer. In der Mitte dieser Wasserstraße verläuft die sogenannte Luftverteidigungsline (ADIZ, für engl.: „Air Defence Identification Zone“).

Dort könnte also scharf geschossen werden, wenn gegnerische Flugzeuge  sich nicht abdrängen lassen oder auf eine Warnung den taiwanesischen  Luftraum zu verlassen, nicht reagieren. Aber wenn taiwanische  Abfangjäger sich den Flugzeugen der Volksrepublik China (VRCh) nähern und zur Umkehr auffordern, tönt über Funk meist nur ein  hingeraunztes: „Stört uns nicht“ oder auch mal „das ist chinesischer  Luftraum.“ Meist sagen die chinesischen Piloten gar nichts, halten ihre  Flugzeuge einfach auf den Gegner zu, bis sie kurz vor einem möglichen  Crash abdrehen.

Allein in den ersten drei Dezemberwochen 2020 seien nach Angaben von  taiwanesischen Medien heimische Kampfjets 47-mal in derartige  Zwischenfälle mit „Eindringlingen“ verwickelt gewesen. Die offiziellen  Zahlen der Luftwaffe des Inselstaates sind aber weitaus alarmierender.  Genau 2972 solcher Vorkommnisse wurden dort Ende Oktober für das Jahr  2020 registriert. Ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr um etwa 130 Prozent.

Und auf offener See sieht es nicht besser auf. Aus einer Anfrage im  Taipeier Parlament geht hervor, dass die Marine des Landes bis Anfang  November 1223-mal ausrücken musste, um Schiffe der chinesischen Marine  aus ihren Hoheitsgewässern zu vertreiben. Dies ist gar eine Steigerung  um 400 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Etwa zwei Wochen bis die Hauptstadt Taipei fällt. Foto: pexels.com/ rechtefrei

Dabei sind die Schiffe mit den Hoheitszeichen der chinesischen Volksbefreiungsarmee (VBA) bei weitem nicht das größte Problem. Denn bisweilen fallen ganze  Flotten der sogenannten „Fischerei Milizen“ in die Gewässer der kleinen  Nation ein. Das sind Schwärme von mehreren Hundert Booten, die äußerlich  wie Fischkutter aussehen und auch die Meere ausplündern, aber  wesentlich stabiler gebaut sind. Einige sind aus Metall gefertigt, und  wie die wesentlich schlechter gerüsteten Filipinos oder Vietnamesen  schon mehrmals erleben mussten, rammen sie ihre Gegner einfach aus dem  Weg. Sie haben kleinere Schusswaffen an Bord, wovon sie ab und zu auch  Gebrauch machen.

Die Nachrichtenagentur Reuters hat derartige Zwischenfälle jüngst in  einer längeren Zusammenstellung analysiert. Die Schlussfolgerung, es   sei längst ein „Krieg im Graubereich“, der täglich zwischen der  Zwei-Millionen-Armee Chinas und den wesentlich kleineren taiwanischen  Streitkräften tobt. Ziel sei es, den Gegner mit ständigem Zwang zur  Alarmbereitschaft zu zermürben und derart Mensch und Material zu  verschleißen.

Das ist ein brandgefährliches Spiel. Denn es scheint nur eine Frage  der Zeit, bis irgendjemand im Cockpit eines Abwehrjägers oder auf der  Brücke einer Fregatte einen Fehler begeht, die Kontrakten aufeinander  krachen oder doch scharf geschossen wird. Die Folgen für die gesamte  Region Ost- und Südostasien wären unabsehbar. Dass einer der  Konkurrenten klein beigibt, ist aber nicht zu erwarten. Im Gegenteil.

Die kapitalistisch gewendete, aber von einer  kommunistischen Kaderpartei regierte Volksrepublik China betrachtet das  demokratische Taiwan als „abtrünnige Provinz“. Sie müsse heimgeholt  werden, wie Parteichef Xi Jinping in den letzten Monaten vor Soldaten immer aggressiver fordert: notfalls mit militärischer Gewalt.

Begründet wird das aus Sicht Chinas mit der gemeinsamen Geschichte  und Kultur. Das mutet freilich so anachronistisch an, als wolle die  Bundesrepublik Deutschland Siebenbürgen, Österreich und das Elsass der  BRD einverleiben. Eigentlich ist Taiwan seit 1949 de facto unabhängig,  geriet aber gleichzeitig wegen des permanenten Drucks der Volksrepublik  China international ins diplomatische Abseits.

Jetzt wird die militärische Lage zusehends prekär. Während die VRCh  seit zwei Jahrzehnten massiv aufrüstet, ist das international weitgehend  isolierte Taiwan vor allem auf Waffenlieferungen aus den USA  angewiesen. Dazu hat sich Washington im “Taiwan Relation Act (TRA)“,  einem US-Gesetz verpflichtet, seit es 1979 China diplomatisch  anerkannte und die Beziehungen zu Taiwan im Rahmen der  „Ein-China-Politik“ herabstufte.

Taiwan ist vor allem auf Waffenlieferung aus den USA angeweisen. Foto: pexels/ rechtefrei

Es ist zwar ein offenes Geheimnis, dass die USA Taiwan auch beim  Training seiner Streitkräfte unterstützt. Ob die Supermacht aber auch  Truppen nach Taiwan schicken würde, um die Insel bei einer Invasion  durch den feindseligen Nachbarn zu verteidigen, das ließ Washington in  einer Politik der „Strategischen Mehrdeutigkeit“ stets unbeantwortet.  Deshalb gab Washington während der Amtszeit von Präsident Ronald Reagan  (1981-1989) noch die „Sechs Zusicherungen“ ab. Deren Kernsatz lautet, dass „die USA eine Staatshoheit der Volksrepublik China über Taiwan formal nicht anerkennen“ werde.

Denn damit hätte sich die VRCh in der Mitte der „erste Inselkette“  eingegraben, die sich von Japan im Norden Ostasiens, bis nach Borneo im  Süden zieht. Peking könnte somit die Schifffahrtswege des gesamten  Kontinents und den westlichen Pazifik kontrollieren, ein absolutes  Alptraumszenario für die Supermacht USA.

Aber solange die USA auf Taiwan keine Truppen stationiert, und das  ist vorerst politisch im Repräsentantenhaus nicht durchsetzbar, müsste  die Insel etwa fünf bis maximal zwölf Tage einem Angriff Chinas alleine  standhalten. Ähnlich lange würde es nach Einschätzung von  Militärstrategen dauern, bis die USA und Japan Truppen- und  Marineverbände von den US-Basen in Okinawa, Guam und dem amerikanischen Festland nach Taiwan verlegt hätte. Auch Japan,  das an der Seite Taiwans und der USA kämpfen würde, bräuchte ähnlich  lange, um in die Schlacht um Taiwan einzugreifen.

Nur 13 Strände für Landeangriffe. Foto. Jürgen Kremb

Doch könnte das kleine Taiwan einem chinesischen Angriff so lange  standhalten? Die Verluste wären sicher immens hoch. Mit einer Fläche so  groß wie Baden-Württemberg und knapp 24 Millionen Einwohner (etwa soviel  wie Österreich, die Slowakei und Tschechien zusammen), ist die Insel  nach Bangladesch der dicht-besiedelste Flächenstaat der Welt. Chinas  Armee hat etwa zwei Millionen Soldaten unter Waffen. Taiwan weniger als  200.000. Das Militärbudget Pekings betrug 2019 mehr als 150 Milliarden US-Dollar, das von Taiwan nur etwa 10 Milliarden. Und dass der Wehrdienst auf der Insel nur noch vier Monate beträgt, stärkt die Wehrfähigkeit sicher nicht

Auch bei Kriegsgerät sieht es für Taiwan nicht gut aus. Während China  eine Armada von etwa 2000 Bombern und Kampfjets über die Meeresenge  schicken könnte, stehen auf der Gegenseite nur 200-300 Abfangjäger zur  Verteidigung bereit. Zudem hat China in den letzten Jahrzehnten zahllose  Batterien von Lenkwaffen und Mittelstreckenraketen in seinen  Südprovinzen stationiert, die alle auf Taiwan und die umliegenden  Gewässer gerichtet sind.

Aber, dass China das kleine Taiwan in einem Tag  überrennen könnte, wie Parteichef Xi Jinping dieser Tage in seinen  Staatsmedien trommeln lässt, ist nicht mehr als billige Propaganda. Am D-Day, dem 6. Juni 1944, der Entscheidungsschlacht des Zweiten Weltkrieges,  landeten „nur“ 156.000 alliierte Soldaten in der Normandie. Zum D-Day um  Taiwan müsste China mindestens eine Million Soldaten, wahrscheinlich  sogar deutlich mehr, über die wegen seiner rauen See gefürchteten  Taiwanstraße schicken. Das wäre nicht nur die größte militärische  Landeoperation der Menschheitsgeschichte, sondern erstmal ein  logistischer Alptraum. Das wissen auch Chinas Generäle.

Und solch ein gigantischer Waffengang ließe sich keinesfalls geheim  halten. Die Gegenseite könnten 60 Tage vor einem möglichen Angriff die  Operation mit ihren Details relativ präzise voraussagen, meint die  Fachzeitschrift “Foreign Policy“.  Genug Zeit, um die relativ schmale Meerenge total zu verminen. Im  Gegensatz zur martialischen chinesischen Propaganda, sind die Mehrzahl  der VBA-Soldaten keine Elitekämpfer, sondern auch nur Bauernjungen aus  dem Hinterland. Viele haben noch nie das offene Meer gesehen, geschweige  denn befahren. Die meisten von ihnen müssten zudem auf Handelsschiffen  oder umfunktionierten Fischerbooten übersetzen. Sie wäre nicht mehr als  Kanonenfutter.

Da Taiwan recht gebirgig ist, allein 200 Gipfel messen mehr als 3000 Meter, bietet sich nur an insgesamt 13 Stränden genügend Platz für  Landemanöver. In Nachbarschaft all dieser Buchten stehen jedoch  Chemie-Anlagen, die ahnen lassen, dass Verdun im Vergleich dazu ein  harmloser Schulausflug war.

In den letzten Jahren ging die taiwanische Armee auf Anraten der USA  dazu über, ihre mehr als zwei Millionen Reservisten in Guerilla- und  Häuserkampf auszubilden. „Maßnahme der asymmetrischen Kriegsführung“  heißt das im Jargon der US-Militärberater. Laut “Foreign Policy” wären  die Strände schnell in eine „Werkstatt des Horrors“ verwandelt,  durchzogen von unterirdischen Tunneln, die mit Sprengstoff gefüllt sind.  Auf dem Weitermarsch würden Stahlseile, die zwischen Hochhausschluchten  gespannt werden, Hubschrauber zum Absturz bringen.

Taiwan, maximale Reichweite chinesischer Raketen. Screenshot: Foreign Policy

Die „Landsleute in Taiwan,“ die laut KP-Propaganda ihrer Befreiung  entgegensehnen, könnten sich in Guerillakräfte verwandeln, die Brücken  sprengen oder einfach auch nur Straßen massenweise mit Autos, Lastwagen  und allerlei schwerem Gerät zustellen. Damit würde der vermeintlich  einfach gewähnte Vormarsch auf Taipei zum zähen und verlustreichen  Alptraum verkommen.

Nach Schätzungen des taiwanischen Verteidigungsministeriums könnte  die heimische Armee dem chinesischen Ansturm etwas länger als zwei  Wochen standhalten, bevor die Hauptstadt Taipei fällt. Dann aber wären  US-Kräfte zur Stelle. Und diese haben im Gegensatz zur VBA genügend  Kampferfahrung, weil die USA ohnehin ständig irgendwo Krieg führt. Das  letzte Mal aber, als Truppen der VBA scharf geschossen haben, war  nachgewiesenermaßen im Juni 1989 beim Tiananmen-Massaker im Herzen der  chinesischen Hauptstadt, und zwar auf die eigene Bevölkerung. Zahlreiche  Niederschlagungen von Aufständen im chinesischen Hinterland, wurden  danach wohl von der bewaffneten Volkspolizei erledigt. Die VBA ist lange  nicht so wehrfähig und konflikterfahren, wie die KP das im täglichen  Trommelfeuer der staatlichen Propaganda behauptet.

Dies ist auch der Hauptgrund, warum China nun versucht Taiwans  Verteidigungsfähigkeit durch täglich initiierte Scheinangriffe, einem  Krieg im Graubereich zu zermürben. Indem das kleine Land jetzt quasi  permanent in Alarmbereitschaft ist, zerschleißt das Material und sinkt  die Aufmerksamkeit der Truppen lange vor einem Angriff des Gegners. Das  würde eine Schlacht erleichtern, so die Kalkulation von Pekings  Generälen. Aber auch das mag eine trügerische Hoffnung sein.

Denn womit Xi und seine Führungsgenossen nicht  gerechnet haben, ist die schleichende Internationalisierung des  Konflikts, die sich 2020 breit gemacht hat. Je aggressiver sich Chinas  Führungsgenossen gebärden, desto mehr wächst der Widerwill gegen den  neuen Hegemon. Lange haben Chinas asiatische Nachbarn und Europas  Staatenlenker verärgert, aber tatenlos zugesehen, als Peking dreist die  gesamte südchinesische See samt der unbewohnten Atolle dort zu seinem  Hoheitsgewässer deklariert haben. Keiner wollte sich den Zugang zum  großen chinesischen Markt verderben.

Parteichef Xi Jinping hatte im Brustton der Überzeugung noch Barack  Obama versichert: „Nie wird China die Insel dort militärisch nutzen.“  Nur ein Jahrzehnt später sind aus den flachen Sandbänken, zementierte  Flugzeugträger geworden. Wann und wie ausländischen Handelsschiffen dort  durchfahren dürfen, das diktiert Xis Marine nun nach Gutdünken.

Chinas Soldaten haben zuletzt im Juni 1989 scharf geschossen, auf die eigene Bevölkerung in Peking. Foto. Jürgen Kremb

In europäischen Hauptstädten hat sich deshalb die Ansicht  durchgesetzt, dass China unter Präsident Xi Jinping kein verlässlicher  Partner, sondern ein “strategischer Rivale” ist. Eine Nation, die mit  ihrer „Wolfsdiplomatie“ international mittlerweile ähnlich herrisch,  selbstgefällig und dominant auftritt wie dereinst Hitler-Deutschland vor  dem “Münchner Abkommen”. Siehe die aggressiven Töne etwa gegenüber Australien, Norwegen,  Tschechien und Deutschland – auch die tödlichen Prügelscharmützel mit  Indien im Himalaya. Und eine Nation, die wie die brutale Niederschlagung  der Demokratiebewegung in Hongkong vorführt, einmal geschlossene  völkerrechtliche Verträge ohne mit der Wimper zu zucken nach Belieben  vom Tisch wischt.

Auch der Umgang mit dem in Wuhan freigesetzten Coronavirus hat  gezeigt, dass Xi Jinpings China nur am Machterhalt der amtierende  KP-Clique interessiert ist und der Welt seine Propagandalügen als  vermeintlich unumstößliche Wahrheiten auftischen will.

Ein Überfall auf das demokratische Taiwan würden mittlerweile die  gegenüber China stets kratzfüßigen Deutschen und Franzosen genauso wenig  kaltlassen, wie Australien, Neuseeland und auch Indien nicht. Zu  Jahresbeginn 2020 waren es vor allem US-Flottenverbände, die regelmäßig  durch das von China beanspruchte Südchinesische Meer patrouillierten, um  die Gewässer für die internationale Seefahrt offenzuhalten.

Mitte Dezember 2020 aber haben sich auch ein französisches  Atom-U-Boot und eine britische Fregatte dem Konvoi angeschlossen. Selbst  Deutschland wird 2021 als „klares Zeichen der Solidarität“,  so Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer eine Fregatte  nach Ostasien verlegen.  Noch zu Jahresbeginn 2020 war Taiwan nur ein  Pariastaat, jetzt steht das demokratische China nicht mehr ganz alleine.

Mit Material von: Foreign Policy, South China Morning Post, New Talk/ Taiwan.

Erschienen auf: Der Rikscha-Reporter am 25. Dezember 2020

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