Hat er's also doch getan, der Putin. Invasion, full scale. Seit gestern 5:50 Uhr wird nunmehr zurückgeschossen. Trotz aller versammelten Weisheit und aller strategischen Expertise, die in den letzten Tagen so zu lesen war  ("Aaach, das riskiert der nicht!" - "Das kann der sich doch gar nicht leisten!" - "150.000 Mann reichen niemals für eine Invasion!" - "Alles bloß Kriegstreiberei des Westens!" - "Putin-Bashing!" - "Der ist Schachspieler, der blufft nur, und alle haben die Hosen voll, hihihi!"). Man gestatte mir ein paar Bemerkungen:

Ausgangspunkt der russischen Demütigung ist, dass die Sowjetunion als Siegermacht des zweiten Weltkriegs den darauffolgenden Kalten Krieg verloren hat und eingedampft wurde auf ihr Kernterritorium Russland. Das ist zweifellos frustrierend. Ungefähr so frustrierend vermutlich wie ein British Empire zu verlieren und seither auf das Mutterland, ein paar kleine Besitzungen plus eine Operettenveranstaltung namens 'Commonwealth' eingedampft und in der Nachkriegszeit vom Verlierer auch noch wirtschaftlich überholt zu werden. Die sowjetische Niederlage im Kalten Krieg hatte im wesentlichen drei Gründe:

1. It’s the economy, stupid! Das Wettrüsten gegen die USA hatte die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der UdSSR um ein Vielfaches überstiegen. Die Sowjetunion war am Ende komplett pleite und musste irgendwann die Finger heben. Der wirtschaftliche Verfall verstärkte die durch Gorbatschows 'Glasnost'-Politik ohnehin im Aufwind befindlichen Zentrifugalkräfte in den Zentren und an der Peripherie. Das übersteht auf Dauer kein Staatsgebilde.

2. Die Idee der großen sozialistischen Völkerfamilie hat nie wirklich so funktioniert wie gedacht/behauptet. In den meisten Sowjetrepubliken und assoziierten Staaten fühlten sich grosso modo immer zu viele kolonisiert, gegängelt und fremdbestimmt von Moskau. Wenn eine Kolonialmacht verschwindet, nutzen die Kolonisierten die Chance und suchen sich starke Verbündete, damit ihnen das mit dem kolonisiert werden möglichst nicht wieder passiert. "Polen suchte und fand zwischen 1918 und 1939 England und Frankreich, die Tschechoslowakei, 1938 im Stich gelassen von Frankreich und England, fand die Vereinigten Staaten von Amerika. Die »Satelliten« und Unionsrepubliken der Sowjetunion fanden die NATO." (Freise)

In diesem Zusammenhang muss auch auf die für Russland unverzichtbare Funktion der Ukraine hingewiesen werden, die Zbigniew Brzezinski 1997 so charakterisierte:

"Die Unabhängigkeit der Ukraine beraubte Russland seiner beherrschenden Position am Schwarzen Meer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon war. […] Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. […] Unter geopolitischem Aspekt stellte der Abfall der Ukraine einen zentralen  Verlust dar, denn er beschnitt Russlands geostrategische Optionen drastisch." (Brzezinski, zit. in: Lehming, a.a.O.)

3. Neben hard power (Militär und Geld) verfügte der Westen immer auch über gern unterschätzte soft power:  Weder die Sowjetunion noch Russland als deren Nachfolgeveranstaltung hatten je ein annähernd so attraktives und wirkmächtiges Gesellschaftsmodell anzubieten wie das kapitalistische/westliche Wohlstands- und Freiheitsversprechen. Das zunehmend imperiale Auftreten Russlands seit dem Machtantritt Putins, der nach wie vor vergleichsweise niedrige Lebensstandard großer Teile der Bevölkerung und eingeschränkte Pressefreiheit scheinen in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken und Ex-Satellitenstaaten nicht dazu angetan, eine neuerliche Orientierung gen Russland vorteilhaft oder sonderlich erstrebenswert erscheinen zu lassen.

Fun fact: Im Baltikum leben bis zu 27 Prozent ethnische Russen. Deren sehnliche Rufe nach Repatriierung in eine UdSSR 2.0 scheinen sich in Grenzen zu halten. Sogar mit dem Schreckensregime der EU arrangieren sie sich offenbar ganz gut. Auch in Ländern wie Polen und Ungarn, deren Regierungen erhebliche Probleme mit der EU haben, scheint man sich als NATO-Mitglied nicht allzu unwohl zu fühlen.

Meine zwei Cents so far. Bleibt zu hoffen, dass dieser komplett irrsinnige Orlog möglichst bald vorbei ist.

Donald Trump findet Putins Vorgehen übrigens "genial". Roger Köppel und Steve Bannon sind auch schon ganz wuschig. Weil Wladi den Woken jetzt heimleuchtet. Wie sagte einst Lenin? "Sage mir, wer Dich lobt, und ich sage Dir, worin Dein Fehler besteht."


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