Der Besuch der taiwanischen Präsidentin Tsai Ing-Wen in den Vereinigten Staaten war zwar offiziell nur als „Zwischenstopp“ geplant, erhitzt jedoch wie schon während des Besuchs Nancy Pelosis im vergangenen August die Gemüter in Peking. Der Inselstaat vor dem chinesischen Festland ist zwar kaum größer als Nordrhein-Westfalen, ungleich gigantischer ist allerdings seine geopolitische und wirtschaftliche Bedeutung. Die Republik China wird von den meisten Staaten zwar nicht diplomatisch anerkannt, gehört aber dank informeller Kontakte doch zur westlichen Staatengemeinschaft – ein Dorn im Auge der Volksrepublik. Die Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit lassen die Alarmglocken läuten: Die Zeichen stehen längst auf Konfrontation.

Abtrünnige Provinz oder unabhängiger Staat?
Die Konflikte entzünden sich bereits am Status der Insel: Für das Festland ist sie lediglich eine abtrünnige Provinz, für ihre Bevölkerung als Republik China ein unabhängiger Staat. Die Ursprünge dieser spannungsgeladenen Situation finden sich in der Geschichte: Nach dem Sieg der Alliierten über Japan im Zweiten Weltkrieg herrschten pro forma noch die Republikaner um Chiang Kai-Shek in Peking. Der bereits vor dem sinojapanischen Krieg begonnene und nur durch einen Burgfrieden unterbrochene Bürgerkrieg zwischen den Nationalisten und Mao Zedongs Kommunisten schwelte wieder auf. Diesmal gewannen letztere rasch die Überhang und eroberten im September 1949 die Hauptstadt. Der ehemalige Staatschef floh mit Soldaten, Zivilisten und Kulturschätzen von den USA unterstützt auf die vor der Küste liegende Insel Taiwan und gründete dort die Republik China in ihrer heutigen Gestalt neu, erhob jedoch weiterhin Anspruch auf das Festland. Lange Zeit war Taipei auch die international anerkannte Regierung Gesamtchinas, dies änderte sich jedoch nach dem Tod Mao Zedongs und der Annäherung der Vereinigten Staaten und Rotchinas. Die diplomatischen Verhältnisse kehrten sich um und die Republik wurde nunmehr offiziell in eine internationale Außenseiterrolle gedrängt, unterhielt gleichwohl weiterhin Kontakte zu westlichen Staaten. Daran hat sich bis heute wenig geändert.

Der unabhängige Status der Insel hat sich umso mehr verfestigt, als Taiwan seit dem Ende der nationalistischen Militärdiktatur 1988 eine eigene Identität entwickelt hat und von seinem ursprünglich erhobenen Anspruch auf das chinesische Mutterland und sogar Gebiete darüber hinaus abgerückt ist. Wenig überraschend ist es also, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen in Taipei, Taichung oder Kaohsiung eine wie auch immer geartete Vereinigung mit dem „restlichen“ China ablehnt. Als besonders bizarr präsentiert sich vor diesem Hintergrund die innenpolitische Situation der Republik: Chiang Kai-Sheks guómíndǎng greift besonders unter Tsai Ing-Wens Amtsvorgänger Ma Ying-Jeou die Narrative der Kommunistischen Partei Chinas auf und biedert sich der Volksrepublik an, während die Demokratische Fortschrittspartei der aktuellen Präsidentin die unabhängige Identität Taiwans betont und zum primären Antagonisten festlandchinesischer Annexionspläne avanciert ist. Der ehemalige Parteiführer der Nationalisten und noch immer verehrte Gründungsvater der „zweiten“ Republik würde sich wohl im Grabe umdrehen, wenn er die veränderte Haltung seiner Partei zum ideologischen Erzfeind in Peking wahrnehmen würde. Gleichwohl hat sich angesichts der Unterdrückung der Proteste in Hong Kong und der Missachtung des Prinzips „Ein Land, zwei Systeme“ auch in den Reihen chinatreuer Einfaltspinsel langsam die Erkenntnis durchgesetzt, dass China keine guten Absichten zu attestieren sind. Der status quo hat sich zwar die vergangenen Jahrzehnte mehr oder weniger bewährt, ist aber extrem fragil.

Chinesischer Imperialismus
Die Volksrepublik ist derweilen seit einigen Jahren nicht mehr nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch und politisch auf Expansionskurs. Die Kommunistische Partei begründet diese Agenda zur vermeintlich legitimen Inanspruchnahme eines solchen Einflusses auf der Weltbühne mit der „historischen“ Relevanz des Landes. China nehme lediglich den Platz ein, der ihm ohnehin zustehe. Tatsächlich fügen sich diese Entwicklungen eher in den nationalen Minderwertigkeitskomplex des Landes ein, den es als massenpsychologische und politisch kultivierte Nachwirkung seiner Gängelung und sogar teilweisen Eroberung seiner Territorien durch die Kolonialmächte erlitten hat. Freilich geht es hierbei nicht nur um Taiwan, sondern um ein sorgfältig geplantes Projekt der Chinesen mit globalen Ausmaßen.

Die Volksrepublik kauft sich in jüngerer Zeit afrikanische Länder ein, denen es zu horrenden Krediten Infrastrukturprojekte vermittelt und sich den dortigen Diktatoren als erfolgreiches Gegenmodell zur westlichen Demokratie präsentiert, um über wirtschaftlichen Druck auch politische Kontrolle ausüben zu können. Eine Praxis, die sich wohl zurecht als Neokolonialismus bezeichnen lässt. Die Militarisierung der strategisch wichtigen und von China illegal besetzten Spratly- und Paracel-Inseln im Südchinesischen Meer, die Peking auf Basis absurder pseudo-historischer Begründungen für sich beansprucht und deshalb seit geraumer Zeit mit allen Anrainerstaaten im Konflikt steht. Zuletzt sei Xi Jinpings Prestigeprojekt erwähnt: Die Belt and Road Initiative (Deutsch meist: „Neue Seidenstraße“) dient der wirtschaftlichen und politischen Fesselung der Teilnehmerstaaten über die Subventionierung und Errichtung von Infrastruktur auf dem Land-, Luft- und Seeweg. Selbst in Europa bekommt man den chinesischen Expansionsdrang zu spüren, seitdem Peking nicht nur Serbien, sondern auch Ungarn an sich zu binden versucht und sich strategisch bedeutsame Häfen in den Einkaufskorb gelegt hat – so etwa den griechischen Hafen von Thessaloniki aber unlängst auch den größten deutschen Hafen in Hamburg.

Bipolare Weltordnung des 21. Jahrhunderts
Dieser tour d’horizon außenpolitischer Vorhaben Rotchinas deckt nicht jede Aktivität der Diktatur im Ausland ab, exemplifiziert aber die Vielgestaltigkeit chinesischer Aktionsmodelle. Man mag wohl nicht bezweifeln können, dass solche Projekte auch wirtschaftliche Vorteile haben. Hinter der Fassade des barmherzigen Entwicklungsdienstleisters verbergen sich jedoch erbarmungslose Eigeninteressen wirtschaftlicher und eben auch geopolitischer Natur. Das in Deutschland noch weitverbreitete Bild von China als harmlosen Schwellenland auf der Suche nach Wohlstand und als „Fabrik der Welt“ ist jedoch längst veraltet. Wer den von Xi Jinping 2012 proklamierten zhōngguó mèng („chinesischer Traum“) bloß für eine pathetische Reminiszenz an das Aufstiegsversprechen des amerikanischen Kapitalismus hält, hat nichts verstanden. Die gängigen Floskeln der außenpolitischen Phraseologie der Bundesrepublik wie „Wandel durch Annäherung“ oder „Wandel durch Handel“ haben sich daneben längst als Lebenslügen entlarvt. China will bis zum hundertjährigen „Jubiläum“ der Gründung der Volksrepublik eine ganz andere geopolitische Rolle spielen, ja zur Weltmacht werden.

Das „Reich der Mitte“ ist zum globalen Gegenspieler der Vereinigten Staaten geworden und hat Russland aus dieser Rolle verdrängt. Die Stationierung von 10.000 Soldaten der Volksbefreiungsarmee im afrikanischen Dschibuti liefert ein eindrückliches Beispiel für die imperialen Ambitionen des (noch) bevölkerungsreichsten Landes der Erde – eignet sich Peking doch damit geopolitische Verhaltensmuster an, die es im Falle der USA lange kritisiert hat. Doch zurück zu Taiwan: Die Insel unterscheidet sich aus Perspektive Chinas von allen anderen Regionen der Welt dadurch, dass ihr für das Narrativ der Führung entscheidende historische Relevanz zukommt. Jeder Führer der Volksrepublik träumte davon, die „Wiedervereinigung“ herbeizuführen. Xi Jinping ist so mächtig wie kein chinesischer Staatspräsident seit Mao Zedong und gerade ihm könnte dies gelingen. Entsprechend deutlich waren die Worte des roten Diktators auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei vergangenen Oktober, wo er die Möglichkeit einer Militärintervention ausdrücklich in den Raum stellte.

Kalter Krieg am Scheideweg zur heißen Phase
Allen naiven Erwartungen nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums am Ende des vergangenen Jahrhunderts zum Trotz ist ein neuer „Kalter Krieg“ ausgebrochen. Global haben sich also wieder zwei Machtblöcke herausgebildet: Eine antiwestliche Koalition mit China an der Spitze und ihr westlicher Gegenpart unter der Führung Washingtons. Russland hat seinen mit Blick auf die Sowjetunion eher historisch begründeten Status schon lange verloren und ist zum Juniorpartner seines übermächtigen chinesischen Partners degradiert worden. Angesichts im Zuge westlicher Sanktionen gewachsener wirtschaftlicher Abhängigkeit des Kremls von seinem südöstlichen Nachbarn, der bevölkerungspolitischen Probleme des russischen Riesen und der blamablen militärischen Figur, die er in der Ukraine abgibt, wird sich dieser Prozess zukünftig weiter vertiefen. Gegenwärtig ist diese Partnerschaft für Russland noch strategisch sinnvoll. Ob die Allianz beider Staaten aber von Dauer sein wird, bleibt zwar abzuwarten, sorgt sich Moskau doch bereits jetzt um die Zukunft seiner Territorien im fernen Osten und sieht im kommunistischen Noch-Partner mitunter schon den Feind von Morgen. Vorerst hat sich diese Konstellation indes eingependelt.

Die Entscheidung über Krieg und Frieden wird im Fall der Fälle in Ostasien gefällt. Das haben auch die USA verstanden und ihr Engagement in der Pazifikregion schon unter Präsident Obama erheblich ausgeweitet. China interpretiert die amerikanische Unterstützung für Taiwan getreu der Eigenlogik seiner verqueren diplomatischen Position als „Einmischung in innere Angelegenheiten“ und reagiert entsprechend empfindlich auf amerikanische Aktivitäten im Westpazifik. Wenig überraschend ist es also, dass US-General Mike Minihan unlängst konstatierte, sein „Bauchgefühl“ sage ihm, „dass wir 2025 kämpfen werden“. Ein „Bauchgefühl“ kann freilich keine tragfähige Grundlage seriöser Prognosen sein, aber in Ansehung der Zuspitzung der Lage liegt Minihan wohl nicht ganz falsch. Die Frage ist damit also nicht, ob es zu einem Konflikt kommt, sondern lediglich wann. Die Spannungen zwischen der Volksrepublik und seinem demokratischen Pendant haben sich zuletzt im Angesicht chinesischer Drohungen und Militärmanöver rund um die Insel massiv verschärft. Taiwan hat als Reaktion darauf seinen Wehrdienst verlängert und an die Zivilbevölkerung adressierte Kurse zum Verhalten im Verteidigungsfall erfreuen sich in Taipei hoher Beliebtheit.

Auch US-Präsident Biden schlug in jüngerer Zeit parallel zur eskalativen Rhetorik des chinesischen Staatspräsidenten ungewohnt schärfere Töne an und betonte die amerikanische Bereitschaft zur Verteidigung der Insel. Ob sich diese Bereitschaft im Ernstfall auch zur Entschlossenheit verdichtet, ist nichtsdestotrotz fraglich. Realistischer ist die Wiederholung eines „Ukraine-Szenarios“, es also nicht zu einer direkten militärischen Konfrontation kommt, sondern sich der Beistand auf indirekte Unterstützungsmaßnahmen beschränkt. Taiwan ist gleichwohl von ungleich höherer Bedeutung als die Ukraine. Kaum jemandem ist bewusst, dass die „Chip-Supermacht“ in Form großer Unternehmen wie TSMC Weltmarktführer bei der Entwicklung und Produktion moderner Halbleiter ist, die unabdingbar für nahezu jedes moderne technische Gerät sind, von Autos über Smartphones bis hin zu Militärgerät. Das Festland hat das republikchinesische Niveau auf diesem Gebiet trotz umfangreicher Subventionierung der heimischen Industrie in Milliardenhöhe bis heute nicht einmal ansatzweise erreicht. Die Überlegenheit Taiwans geht sogar so weit, dass China selbst von der dortigen Chipproduktion abhängig ist. Im Falle eines chinesischen Angriffs auf die Insel droht der Weltwirtschaft und damit auch der Volksrepublik selbst eine Katastrophe. Eine Schutzgarantie bietet diese technische Trumpfkarte für die Insel allerdings nicht.

Variablen der chinesischen Gleichung
Wie wahrscheinlich eine „heiße“ Eskalation tatsächlich ist, lässt sich indes nicht ganz klar bestimmen. Die Chinesen verfolgten ihre Ziele nicht auf ehrlichem Wege, einfältig sind sie aber zweifelsohne nicht. Es ist also davon auszugehen, dass Peking von der russischen Blamage in der Ukraine nicht nur einfach Notiz nimmt, sondern sie auch in seine Kalkulation einbezieht. Die als rasche Eroberung Kiews geplante Invasion des südwestlichen „Bruderstaates“ hat sich trotz deutlicher militärischer Überlegenheit als Desaster für Putin herausgestellt. Hierzu beigetragen hat wohl auch die umfangreiche finanzielle, politische und militärische Unterstützung der Ukraine durch die westliche Staatengemeinschaft. Auch dies mag für den Autokraten im Kreml eine Überraschung gewesen sein, haben doch die wohl von schlichter Dummheit oder ideologischen Ressentiments gegenüber dem transatlantischen Partner getragenen russophilen Liebesorgien europäischer Politiker der vergangenen Jahrzehnte den Kontinent in weiten Teilen in eine energiepolitische Abhängigkeit geführt. Dass diese Rechnung nicht aufgegangen ist, hat Peking genauestens beobachtet.

Ebenso ist sich die politische Führung und die Generalität der Volksbefreiungsarmee bewusst, dass die militärischen Kapazitäten Chinas noch weit hinter denen der USA zurückbleiben. Das Militärbudget der Volksrepublik bleibt trotz massiver Erhöhungen mit 293 Milliarden US-Dollar noch deutlich hinter demjenigen der USA mit über 800 Milliarden US-Dollar zurück und amerikanische Militärtechnik ist der chinesischen nach wie vor weit überlegen. Zusätzlich erschweren die geographischen Gegebenheiten eine Invasion, müssen die chinesischen Streitkräfte doch – anders als im Falle des russischen Angriffs auf die Ukraine – zunächst eine Meerenge überqueren und in feindlichem Territorium an Land gehen. Zu allem Überfluss ist Taiwan mit dem länger praktizierten Ankauf modernen Militärgeräts aus Amerika und 2,3 Millionen gelisteten Reservisten auch bestens auf einen Krieg vorbereitet und der Ukrainekrieg hat die Alarmbereitschaft auf der anderen Seite der Formosastraße nur erhöht. Die Ausgangsbedingungen sind aus chinesischer Sicht damit eher bescheiden. Sollte China das Wagnis einer Invasion eingehen, sind die politische und wirtschaftliche Isolierung des Landes vorprogrammiert – und ein Sieg ist daneben auch noch alles andere als garantiert, vor allem unter dem Gesichtspunkt weitreichender Unterstützung Taiwans durch den Westem.

Ausblick
Das „Ende der Geschichte“ hat sich längst als grandiose Fehlannahme entpuppt. Der Ukrainekrieg hat eindrücklich demonstriert, dass der Siegeszug des westlichen Modells keine Selbstverständlichkeit und zwischenstaatliche Kriege im klassischen Stil kein Phänomen der Vergangenheit sind, sondern auch im 21. Jahrhundert im Bereich des Möglichen liegen. Wie hoch das Eskalationspotenzial und damit das Risiko eines Flächenbrandes wirklich ist, bleibt abzuwarten. In den Schaltzentralen der Macht in Washington wird für Taipei wohl niemand einen Dritten Weltkrieg in Kauf nehmen. Der Aktionsradius der Verbündeten Taiwans ist dennoch denkbar weit. Von entscheidender Bedeutung ist daher, welche Signale der Westen und die Staatengemeinschaft als solche an Peking senden. Die weitaus bedeutendsten Weichen werden hier wohl im Zuge der Präsidentschaftswahl in den USA im kommenden Jahr gestellt. Aber auch im deutschen Kontext muss die vor über einem Jahr proklamierte „Zeitenwende“ ihrer Bedeutung gerecht werden und darf nicht nur eine leere Floskel bleiben – auch, wenn dies für unseren phlegmatischen Bundeskanzler wohl eine fast unüberwindbare Hürde darstellen mag. Die notwendigen Konsequenzen liegen in der Stärkung des transatlantischen Bündnisses wie auch der Demonstration militärischer und politischer Entschlossenheit: Wie auch in der Russischen Föderation versteht man im „Reich der Mitte“ wohl am ehesten eine Sprache der Stärke.

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