„Unbegrenzte Toleranz muss zum Verschwinden der Toleranz führen. Wenn wir die grenzenlose Toleranz auch auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaft gegen den Ansturm der Intoleranten zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet, und die Toleranz mit ihnen.“ Dies sind die Worte von Karl Popper (meine Übersetzung). Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht an Medizin gedacht hat, als er sie formulierte; und dennoch passen sie recht gut. Ein Argument, das ich regelmäßig höre, lautet etwa so:

"Warum sollten wir uns über ein bisschen Scharlatanerie (wie z.B. Homöopathie, Osteopathie, Reiki , Schuessler Salze, oder Bachblüten) aufregen? Warum lassen wir nicht jeden das tun, was er will? Warum nicht ein bisschen toleranter sein?"

Toleranz, d.h. Sympathie oder Nachsicht für Überzeugungen oder Praktiken, die sich von den eigenen unterscheiden oder mit ihnen in Konflikt stehen, ist eine Eigenschaft, die normalerweise begrüßt, gelehrt und gefeiert werden sollte. Warum sollte man also nicht toleranter gegenüber den Anhängern der Pseudomedizin sein?

Meiner Ansicht nach gibt es dafür mehrere Gründe.

  • Unwirksame Pseudomedizin schadet dem Patienten. Die Öffentlichkeit neigt dazu zu glauben, dass diese Verfahren von Natur aus sicher sind. Das stimmt natürlich nicht - denken wir z.B. an die Chiropraktik. Denken wir z.B. an John Lawler, der an den Folgen einer chirotherapeutischen Wirbelsäulenmanipulation verstarb. Aber einige Behandlungsweisen scheinen völlig harmlos zu sein. Die Homöopathie könnte hier wieder einmal ein passendes Beispiel sein: Ihre Mittel enthalten nichts, und deshalb kann sie auch nicht schaden. Leider ist auch das nicht so ganz richtig. Wenn ein Patient die Homöopathie zur Behandlung einer ernsten Erkrankung einsetzt, schadet er sich wahrscheinlich selbst, indem er diese Erkrankung nicht wirksam behandelt. Im Extremfall kann dieses Vorgehen sogar tödlich sein. Auch hier gibt es zahllose, tragische Beispiele. Und falls wir uns von der Impfgegnerschaft der Homöopathen beeinflussen lassen, gefährden wir nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Mitmenschen.
  • Pseudomedizin ist eine Verschwendung von Ressourcen. Es scheint offensichtlich, dass das Geld, das für etwas ausgegeben wird, das nicht funktioniert, verschwendetes Geld ist. Das gilt unabhängig davon, ob wir ein Auto kaufen, das nicht mehr zu reparieren ist, oder eine Homöopathikum, das nicht mehr als ein Placebo wirkt.
  • Pseudomedizin macht die evidenzbasierte Medizin zum Gespött. Wenn wir gegenüber nutzlosem Pseudomedizin tolerant sind und akzeptieren, dass einige Leute damit Geld verdienen und die Öffentlichkeit über Pseudomedizin in die Irre führen, senden wir im Grunde die Botschaft aus, dass Evidenz von untergeordneter Bedeutung ist. Dies würde das Vertrauen in die evidenzbasierte Medizin schwächen, was wiederum die Wirksamkeit der Gesundheitsfürsorge beeinträchtigen und dem Fortschritt im Wege stehen würde.
  • Pseudomedizin untergräbt die Rationalität, denn eine Form der Irrationalität zieht die nächste nach sich. Die vielleicht größte Gefahr bei der Duldung von Pseudomedizin besteht meiner Ansicht nach darin, dass dadurch das rationale Denken weit über den Bereich der Gesundheitsfürsorge hinaus untergraben wird. "Wer dich dazu bringen kann, Absurditäten zu glauben, kann dich dazu bringen, Gräueltaten zu begehen", schrieb Voltaire. Ich fürchte, er könnte Recht gehabt haben.

Ich meine, dass Toleranz gegenüber pseudowissenschaftlichen, unplausiblen, unwirksamen oder schädlichen Verfahren fehl am Platze ist. Natürlich soll jeder machen können, was er will. Ich will niemandem seine Globuli oder Schuessler Salze wegnehmen. Ich empfinde jedoch eine moralische Verpflichtung, die Evidenz zu Globuli, Schuessler Salzen etc. klar darzustellen. Und ich finde, man muss der Flut von Fehlinformation, die auf den Konsumenten tagein tagaus einstürmt, ganz entschieden und ohne allzu viel Toleranz Einhalt gebieten. Nur so kann der Schaden begrenzt werden, den die Pseudomedizin der Öffentlichkeit, den Kranken und dem Fortschritt zufügt.

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