Ballett Ein etwas genauerer Blick auf eines der populärsten Stücke der klassischen Musik.

Erst vor ein paar Monaten hatte ich, anlässlich des E.T.A. Hoffmann Jubiläums, dessen Weihnachts-Erzählung „Nussknacker und Mausekönig“ (1816) wieder gelesen. Diese bildet, indirekt über eine französische Adaption von Alexandre Dumas (dem Autor der „Drei Musketiere“ (1844)), die Grundlage für Tschaikowskys berühmtes Ballett, das 1892 uraufgeführt wurde.

Schon am Zeitrahmen dieser Genese lässt sich ablesen, dass Tschaikowskys „Nussknacker“ gewissermaßen die nostalgische Essenz von Weihnachten im bürgerlichen 19. Jahrhunderts verkörpert. Es mag sein, dass diese Nostalgie inzwischen vermehrt durch das amerikanische „Merry Christmas“-Weihnachten überlagert wird (wogegen nichts einzuwenden ist, jede Epoche formt sich ihre eigenen Traditionen). Doch die ungebrochene Popularität von Tschaikowskys Ballett zeigt, dass diese Essenzen, zumindest aus der Ferne, immer noch lebendig sind.

Tschaikowsky, der in einer wohlhabenden Familie samt Kindermädchen aufwuchs, hatte selbst starke nostalgische Erinnerungen an seine Kindheit, und auch Leo Tolstoi schildert in „Krieg und Frieden“ am Beispiel der Familie Rostow das lebendige Bild einer glücklichen Familie, darunter eine winterliche Schlittenfahrt, die zu den eindrücklichsten Episoden des Romans zählt.

Die Festtagsstimmung mit ihrer Geschäftigkeit, die magische Illumination einer nächtlichen Schneelandschaft, die durch den Weihnachtsbaum in die Wohnungen Einzug hält. Die warme Gemütlichkeit der Stube als Kokon in der klirrenden winterlichen Kälte. Die kindliche Vorfreude auf die Spielsachen, die zum Weihnachtsfest beschert werden. Die festlichen Speisen, Süßigkeiten und Dekorationen. Das alles fängt Tschaikowsky in seiner Musik wunderbar ein.

E.T.A. Hoffmanns Erzählung

Was bereits in E.T.A. Hoffmanns Erzählung sehr schön rauskommt, ist, dass Spielsachen nicht nur Mittel der Belohnung oder Beschäftigung sind, sondern durchaus mehr, nämlich eine Initiation in die Welt des Erwachsenwerdens. Die zentralen Pfeiler der Selbstwerdung, Stolz, Mitgefühl, Sorge, Hass und Begehren werden in einem imaginierten Szenario erprobt.

Das Mädchen Marie (im Ballett heißt sie Clara) ist dabei die zentrale Protagonistin. Sie ist von jenem Nussknacker (einem Geschenk ihres Paten Drosselmeier), der als Außenseiter abseits von den Spielzeug-Soldaten ihres Bruders Fritz steht, merkwürdig angezogen. Nicht nur machen seine glänzenden schwarzen Soldatenstiefel Eindruck auf sie, auch dass er ein Unikat, etwas Einzigartiges und Besonderes ist, zieht sie zu ihm hin. Als er durch die grobe Behandlung ihres Bruder Fritz kaputt geht, pflegt sie ihn fürsorglich.

Am bemerkenswerten ist vielleicht, dass Marie, die unter dem Weihnachtsbaum eingeschlafen war, in ihrem Traum, als der Nussknacker die Schlacht gegen den Mausekönig zu verlieren droht, diesen rettet, indem sie einen Pantoffel auf den Mausekönig wirft. Denn das stellt eigentlich das übliche Märchenszenario, in dem der tapfere Prinz die Prinzessin aus der Not rettet, auf den Kopf. Clara wiederum ist bei Hoffmann eine Puppe, die einerseits Maries beste Freundin ist, doch im Trio mit dem Nussknacker auch zur Konkurrentin wird.

Bei Hoffmann ist die Handlung eigentlich zweiteilig. Neben der Geschichte vom Nussknacker und Mausekönig gibt es noch die Geschichte von der Prinzessin Pirlipat (die im Ballett weggelassen ist). Nach der Schlacht gegen den Mausekönig im ersten Teil, geht es in diesem zweiten Teil um Paarfindung. Parallel zu diesem „Krieg und Frieden“-Szenario wird dabei gleichzeitig eine Geschlechterpolarität skizziert. Denn im zweiten Teil tritt als Antagonist eine böse Mausekönigin auf.

Auch diese Geschichte folgt zunächst der üblichen Märchendramaturgie. Die schöne Prinzessin Pirlipat wird von der bösen Mausekönigin zur Hässlichkeit verhext. Den Zauber kann nur ein unschuldiger Jüngling lösen, der die goldene Nuss Krakatuk knacken kann. Drosselmeier’s Neffe erweist sich als eben jener Auserwählte. Doch als er tatsächlich die Prinzessin von ihrem Zauber erlöst, wird er selbst in einen Nussknacker verwandelt. Die Prinzessin verstößt ihn wegen seiner Unansehnlichkeit vom Hof, womit einmal mehr die ursprünglichen Märchenkonventionen konterkariert werden.

Der Nussknacker kann nur wieder zurückverwandelt werden, wenn er den Mausekönig besiegt und ihn ein Mädchen als Nussknacker liebgewinnt. Womit sich der Kreis mit der Haupterzählung schließt. Marie verschafft dem Nussknacker ein Schwert, mit dem er den Krieg gegen den Mausekönig erfolgreich gewinnt und wieder in einen Jüngling zurückverwandelt wird. Als König und Königin ziehen sie in ihr eigenes Puppenkönigreich ein, jenes „Konfitürenburg“ des Balletts, das aus einer Fülle von Süßigkeiten gebaut ist.

Was sich in Hoffmanns Erzählung und seinen Überschreibungen traditioneller Märchen-Tropen abbildet, ist der gewandelte Zeitgeist der bürgerlichen Welt. Wo in der feudalistischen Welt die narzisstische Komponente mit den Erwählungsfantasien von Prinz und Prinzessin prädominant sind, gewinnen in der bürgerlichen Welt Tüchtigkeit, Aufrichtigkeit und Charakter an Bedeutung. Der Nussknacker, der die goldene Nuss knackt, ist Sinnbild eben jener Tüchtigkeit im bürgerlichen Leben, wie gleichzeitig in seiner Offiziersuniform das Sinnbild militärischer Tapferkeit. Auch in Tolstois Romanen werden eben diese Rollenbilder idealisiert.

Die Mäuse stellen die alte aristokratische Klasse dar, die sich wie Schmarotzer am Speck und den Süßigkeiten der produktiven bürgerlichen Welt gütlich halten, doch eben im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in dem alle Revolutionen gescheitert waren, immer noch beträchtliche Macht und Einfluss hatten und damit auch die kulturelle Zaubermacht über die Normen der Gesellschaft. Marie ist eben jenes tapfere Mädchen mit Charakter, das über alle alte Normen und Moden hinweg ihrem Nussknacker solidarisch zur Seite steht.

Auch in Drosselmeier bilden sich diese Generationsspannungen ab. Der alte Drosselmeier ist ein Gerichtsrat mit einem Faible für mechanisches Spielzeug, dessen Geschenk, ein Schloss mit sich darin mechanisch bewegenden Figuren, schon der kleine Fritz als nutzlos selbstzweckhaft kritisiert, während eben der Nussknacker-Neffe auch einen praktisch nützlichen Sinn hat.

Hintergründig scheinen in dieser Erzählung auch Themen durch, die Hoffmann sein ganzes Leben lang beschäftigt haben. Nicht nur seinen eigenen Kampf gegen der preußischen Autoritätsstaat, sondern auch jenes Trauma der bürgerlichen Gesellschaft eines Mangels an erotischer Erfüllung im Gefängnis einer bürgerlichen Ehe (was auch Tolstois „Anna Karenina“ thematisiert). Marie und die Prinzessin Pirlipat sind ihrerseits Wiedergängerinnen von Clara und Olimpia aus dem „Sandmann“ oder Veronika und Serpentina aus dem „Goldenen Topf“.

Wobei Hoffmann im Nussknacker den Weg der bürgerlichen Vernunft geht, wenn er als der Neffe Drosselmeier vor der Prinzssin Pirlipat in einem magischen Exorzierungssritual sieben Schritte zurück schreitet, mit dem letzten Schritt die böse Mausekönigin tot tritt, und sich nach der Zurückweisung schließlich von der schönen Prinzessin ab und Marie zu wendet.

Nebenbei bemerkt kann man auch an jüngeren Weihnachtsgeschichten und Weihnachtsfilmen einen analogen Paradigmenwechsel ablesen. Die Familie ist der Fetisch der modernen demokratischen Gesellschaft ist. Und in zahlreichen Szenarien spielen Kinder eine Rolle, die einen alten Mann (gewissermaßen einem jungen bürgerlichen Drosselmeier, der zum alten misanthropen Kapitalisten geworden ist) zur Empathie erlösen müssen.

Tschaikowskys Ballett

Dass Peter Tschaikowsky mit dem Direktor des Mariinsky Theater Iwan Wsewoloschski und dem Choreographen Marius Petipa für das Szenario des Balletts die Geschichte der Prinzessin Pirlipat wegließen, hatte zunächst pragmatische Gründe. Denn der „Nussknacker“ war nicht wie „Dornröschen“ als abendfüllendes Ballett geplant, sondern als Teil eines Programms, in Kombination mit dem Operneinakter „Yolantha“.

Tschaikowsky hatte sich anfangs gegen den Stoff gesträubt. Was man durchaus nachvollziehen kann, denn die idealisierten bürgerlichen Konventionen gemahnten ihn eher an sein eigenes Trauma der gescheiterten Ehe mit Antonina Miljukowa. Ohne Zweifel stand Tschaikowsky der traditionelle Märchenstoff für das Ballett „Dornröschen“ näher (das er auch immer wieder als eines seiner besten Werke bezeichnete). Doch machte er auch seinen Frieden mit dem „Nussknacker“, der ihm, wie es ihm öfter ging, im Nachhinein immer besser gefiel.

Anders als in „Dornröschen“, in das viel von Tschaikowskys eigenen erotischen Obsessionen einging, konzentrierte er sich im „Nussknacker“ tatsächlich vor allem auf die atmosphärischen und nostalgischen Elemente. Allenfalls in den Schlachtenszenen, die weniger heroisch als von Angstlust gefärbt sind, und dem „Pas de deux“, in dem er sich wie in den letzten Sinfonien haltlos in ein Gefühl fallen lässt, offenbaren sich persönliche Dispositionen.

Wie bereits angedeutet übernahm man Hoffmanns bzw. Dumas‘ Erzählung (Dumas folgt Hoffmanns Handlung weitgehend und macht in erster Linie Anpassungen im Detail, um sie in ein französisches Milieu einzupassen) nur bis zur Schlacht gegen den Mausekönig und sprang dann direkt in die Schlittenfahrt nach „Konfitürenburg“, mit der der erste Akt endet.

Was schon damals nach der Uraufführung als Verlegenheitslösung kritisiert wurde, erwies sich jedoch im Laufe der Zeit als eher segensreich. Handlung im Ballett zu transportieren war von je her eine heikle Sache. Um etwa „Dornröschen“ wirklich genießen zu können (das in der Tat vielleicht Tschaikowskys Meisterwerk ist), muss man mit seiner Handlung und den skizzierten psychologischen Implikationen sehr gut vertraut sein (auch der große Ballett-Impresario Serge Diaghilev liebte dieses Ballett, erlebte damit aber ein Fiasko).

Die Handlung des 1. Aktes von „Der Nussknacker“ ist dagegen auch pantomimisch ohne weiteres nachvollziehbar, während der 2. Akt dann nur noch ein Divertissement aus kontrastierenden Nummern ist. Damit folgen Petipa und Tschaikowsky auch der klassischen Ballett-Tradition, die von Lully ausgehend vor allem das französische Musiktheater bestimmte. Dort stand das Ballett immer am Ende eines Aktes einer Tragèdie en musique oder wurde von einer gesungenen Szene eingeleitet, die das Thema skizzierte, das dann in einer Serie von Tanznummern illustriert wurde. Diese Dramaturgie, zunächst einen thematischen und atmosphärischen Rahmen zu schaffen, der dann von Tänzen verschiedenen Charakters gefüllt wird, funktioniert auch im „Nussknacker“ sehr gut.

Tschaikowskys Musik

Der Einfluss von Robert Schumann in der Musik zum „Nussknacker“, namentlich in der Overture und der Drosselmeier Musik, ist deutlich, was durchaus seine Stimmigkeit hat, da Schumann in der Tat der musikalische Doppelgänger von E.T.A. Hoffmann war und dadurch etwas von der Hoffmannesken Atmosphäre transportiert wird.

Nach dem heimeligen Beginn wird mit dem Marsch von Fritz‘ Spielzeugsoldaten, bei dessen Reprise man die Kanonenkugeln fliegen hören kann, der Ton für das Schlachtenszenario gesetzt. Die Drosselmeier Musik mit seinen modalen Wendungen wiederum bringt nicht nur die mechanische Steifigkeit ihres Protagonisten zum Ausdruck sondern auch den Schauer des Altertümlichen, der alten Gebäuden und Kunstwerken entströmt und von untergegangenen Welten zeugt. Auch der „Großvater-Tanz“, ein träge gewordenes Menuett, ist wie ein Echo der feudalen barocken Epoche.

Maries Wiegenlied wiederum idealisiert die mütterliche Fürsorge der bürgerlichen Kultur (in der feudalen Kultur war Kindererziehung Sache des Personals). Und auch der Eintritt in den Tannenwald nach der beendeten Schlacht gegen die Mäuse, wenn sich Marie und der zurückverwandelte Nussknacker sich in den Armen liegen, ist nicht nur der emotionale Höhepunkt des Balletts, sondern auch eine Apotheose von warmer mütterlicher Geborgenheit. Der Walzer der Schneeflocken evoziert die Magie einer nächtlichen winterlichen Schneelandschaft und mündet in einen erneut heimelig versöhnlichen Schluss des ersten Aktes.

Der zweite Akt in Konfitürenburg präsentiert klassisches Ballett um das Thema Süßigkeiten. Schokolade, Kaffee und Tee, Rohrzucker bekommen ihre Tänze, wobei der Exotismus der Geschmäcker mit nationalen Klischees verknüpft wird (wie es eben auch heute in den USA und China deutsche Oktoberfeste gibt), dekorativ gekrönt vom berühmten Blumenwalzer. Im bereits erwähnten „Pas de deux“, das nicht von Marie und dem Nussknacker getanzt wird sondern von der Zuckerfee und dem Prinzen Orgeat (der Name eines seiner Zeit populären Mandelsirup), scheint dann externalisiert doch noch etwas von der Prinzessin-Pirlipat-Handlung durch. Gerade der berühmte Tanz der Zuckerfee mit der Celesta hat in seiner mechanischen Anmutung etwas von der Olimpia E.T.A. Hoffmanns.

Ein schwungvoller Walzer schließt das Ballett festlich ab. Der Walzer ist der zentrale Tanz der bürgerlichen Kultur (wie es das Menuett für die aristokratische Kultur war) und seine Prominenz im „Nussknacker“ vollkommen nachvollziehbar (dass „Dornröschen“ wiederum mit einer altertümlichen Pavane endet, hat seine ganz eigene Stimmigkeit). Das spürte auch Maurice Ravel, dessen nach dem 1. Weltkrieg komponiertes „La Valse“ eben das kataklystische Ende jener bürgerlichen Kultur nachvollzieht, das Tschaikowsky in seinem Ballett ein letztes Mal zum Leuchten gebracht hatte.