Unbekannte haben in Russland eines der sogenannten „Weltuntergangs-Flugzeuge“ ausgeraubt. Diese sollen die Regierung im Fall eines Atomkrieges evakuieren und haben strenggeheime Kommunikationstechnik an Bord, mit der die Atomstreitkräfte des Landes befehligt werden. Den russischen Truppen droht ein Desaster.
In Russland fand ein Raub statt, der an Unverschämtheit und zugleich an Fahrlässigkeit schwer zu überbieten ist. Unbekannte haben im Süden des Landes ein "Doomsday-Flugzeug" vom Typ Il-86 ausgeraubt, das zur Modernisierung in die Region kam. Es heißt, die Täter brachen die Ladeluken auf und entwendeten Teile der sich an Bord befindenden strenggeheimen Kommunikationstechnik.
Was ist ein „Weltuntergangs-Flugzeug“?
Il-86 ist im russischen Fachjargon ein „fliegender Kommandoposten“. In den USA wird diese Art von Flugzeugen als „Doomsday Planes“ bezeichnet. In dem Fall eines Atomkrieges evakuieren sie die Regierung des Landes und sind zugleich mit aller notwendigen Technik ausgestattet, um Atomtruppen des Landes zu befehligen und etwa einen Gegenschlag anzuordnen. Das Flugzeug hat eine längere Lebensdauer und einen höheren Strahlenschutz sowie kann in der Luft betankt werden.
Die Technik an Bord ist absolut strenggeheim. Sie gewährleistet die Kommunikation mit ALLEN Raketeneinheiten des Landes, ermöglicht die Kontrolle über ballistische Raketen und dient dazu, die Signale vom „Nuklearkoffer“ des Präsidenten an die Atomstreitkräfte des Landes weiterzuleiten. Über die Kommunikationstechnik dieses Flugzeugs kann der Präsident alle verfügbaren Atomwaffen des Landes befehligen und den Gegenschlag einleiten.
In kurz: Die Technik an Bord ist zum Führen eines Atomkrieges da, selbst wenn die Erde schon in Trümmern liegt sowie wenn alle anderen Regierungsbunker bereits getroffen wurden – eine Art letzte Chance.
Die russischen Atomabwehr- und Raketentruppen stehen damit vor einem Desaster. Ein Flugzeug, das sorgfältiger bewacht werden müsste als Nuklearsprengköpfe (da es ALLE Atomkräfte des Landes kontrolliert), wurde von Unbekannten ausgeraubt.
Wer ist dafür verantwortlich? Drei Versionen
Wer solch einen Raub durchziehen konnte, ist bislang unklar. Drei Hauptversionen werden derzeit diskutiert und untersucht.
1. „Altmetallsammler / Müllmänner“
Es heißt, das Flugzeug sei „auf barbarische Weise“ ausgeraubt worden. Kommunikationstechnik sei brachial herausgerissen worden, Finger- und Fußabdrücke der Täter seien überall vorzufinden gewesen. Laut der ersten Version könnte es sich daher um ganz banale Altmetalljäger handeln.
Diese Leute verdienen ihr Geld damit, dass sie jegliche Technik rauben, wo es Edelmetall gibt, um es auf dem Schwarzmarkt zu verscherbeln. Insbesondere in den anarchischen 1990-er Jahren, als in Russland bittere Armut und Gesetzeslosigkeit herrschte, waren solche Metalljäger weit verbreitet und raubten auch schlecht bewachte Kasernen aus.
Zugleich scheint das Ganze unwahrscheinlich. Wie sollten einfache Kriminelle es schaffen, überhaupt in die Nähe des Flugzeugs zu kommen? Es müsste strenger bewacht worden sein als Nuklearköpfe. Stacheldraht, Bewegungsmelder, bewaffnete Wachen rund um die Uhr etc. Es ist kaum vorstellbar, dass man zur Ladeluke einfach durchspazieren konnte. Dies führt zu der zweiten Version.
2. Korruption / Verrat
Es ist naheliegend, dass solch ein Raub nur möglich sein kann, wenn die Mitarbeiter des beteiligten Modernisierungsunternehmens bzw. Offiziere der Militäreinheit vor Ort involviert waren. Sie könnten den Räubern die wichtigsten Informationen sowie den Zugang zum Gelände bereitgestellt haben.
Zugleich hat auch diese Version ihre Schwächen. Gerade Offiziere der Wacheinheit sowie Mitarbeiter des Unternehmens müssten genauestens wissen, was sie in dem Fall solch eines Raubs erwartet. Sie sind die ersten, auf die der Verdacht fällt und diejenigen, die ihn persönlich zu verantworten haben. Sie geraten automatisch ins Fadenkreuz der russischen ermittelnden Geheimdienste und riskieren damit drakonische Strafen. In anderen Worten: Es wäre beinah Selbstmord mit Ansage, wenn tatsächlich die vor Ort berufenen Offiziere am Raub beteiligt gewesen wären.
3. Spezialoperation eines anderen Staates?
Dies führt schließlich zu der dritten Version. Es könnte eine perfekt durchgeführte Spezialoperation eines Geheimdienstes eines anderen Landes sein. Das Flugzeug befand sich in der Region Rostov in der Nähe der ukrainischen Grenze und damit in der Nähe eines Staates, der Russland offen als „Feind“ bezeichnet und über einen laufenden „Krieg mit Russland“ spricht. Es gäbe für den ukrainischen Geheimdienst keinen größeren Jackpot, als die strenggeheime russische Doomsday-Technik zu stehlen und die nuklearen Geheimnisse des russischen Verteidigungsministeriums der NATO auf dem Silbertablett zu präsentieren. Auch Geheimdienste der NATO-Staaten selbst könnten an solch einer Operation interessiert sein. Dies wäre aber einer Kriegserklärung gleich.
Ist alles "doch nicht so schlimm"?
Alle Versionen scheinen damit ihre Schwächen zu haben. Zugleich gibt es einige weitere Ungereimtheiten, die die ganze Story paradox erscheinen lassen:
- Die Lässigkeit, mit der russische Staatsmedien darüber berichten, ist seltsam. So berichtete etwa die Nachrichtenagentur RIA Nowosti freizügig, fast schon amüsiert, über den Fall. Generell brachten staatliche Agenturen die Meldungen zu dem Vorfall als erste und ziemlich freizügig heraus. RIA Nowosti untersteht direkt dem Staat und würde niemals Informationen veröffentlichen, die nicht abgesegnet wären. In anderen Worten: der Kreml hat überhaupt kein Problem damit, dass diese Information breit berichtet und diskutiert wird. Wäre die entwendete Technik so überlebenswichtig, wie zunächst vermutet, wäre solch eine Offenheit kaum möglich.
- Die russische Armee müsste im Eiltempo die komplette Kommunikationstechnik der Raketentruppen ersetzen, was nicht zu verbergen wäre. Einen Präzedenzfall gibt es. Als im Jahr 1976 der sowjetische Pilot Wiktor Belenko mit einer MiG-25P desertierte, kam es für die Sowjetunion einem Erdbeben gleich. Die MiG-25P war damals der geheimste Kampfjet der UdSSR. Als diese Technologie an die USA und ihre Verbündeten fiel, wurde die MiG-Reihe verwundbar und musste komplett neu aufgebaut werden.
Selbst in der Sowjetunion, wo es keine alternativen Informationsquellen gab und eine harte Zensur herrschte, war das nicht zu verbergen. Ein ähnliches Fiasko würde im heutigen Russland, mit all der Fülle an alternativen Internetquellen, amerikanischen sozialen Netzwerken, diversen Telegram-Portalen, russisch-sprachigen Medien aus dem Westen, NGOs vor Ort etc. zu noch größeren Verwerfungen führen. Doch davon ist nichts zu spüren.
- Zudem müssten quer durch das russische Verteidigungsministerium die Köpfe rollen. Entlassungen in den führenden Militärkreisen würden die gesamte russische Armee erschüttern. Auch hierzu gibt es einen Präzedenzfall. Als Mathias Rust am 28. Mai 1987 mit einer Cessna praktisch auf dem Roten Platz landete, fegte eine Entlassungswelle durch die sowjetische Armee.
Die höchsten Militärangehörigen wurden reihgenweise entlassen, die Luftabwehrtruppen wurden einer Generaluntersuchung unterzogen, Befehlshaber der Luftabwehr kamen beinah unters Tribunal etc. Doch nichts davon passiert jetzt, obwohl der Vorfall noch viel gravierender zu sein scheint.
- Mit der Untersuchung des Raubs beschäftigt sich nur die Polizei. In Anbetracht der vermuteten Schwere des Vorfalls ist auch das kaum zu erklären. In der Regel müssten sich damit nun alle russischen Geheimdienste (von denen es im Land viele gibt) beschäftigen und gnadenlos nach den Dieben und den Hintermännern suchen. Auch das wäre nicht zu verbergen. Stattdessen wird der Vorfall fast schon wie gewöhnlicher Hausraub behandelt und von regulärer Polizei untersucht.
Unabhängige russische Beobachter verweisen daher darauf, dass der Vorfall nicht so eindeutig ist, wie er zunächst scheint. Die gängigste Erklärung ist, dass das Flugzeug, wie schon gesagt, tiefgreifend modernisiert werden musste. Die Technik an Bord war vermutlich veraltet, mittlerweile abgeschrieben und höchstwahrscheinlich aus allen Kommunikationskanälen abgeschaltet. Im Endeffekt hätten die Diebe also in der Tat nichts weiter bekommen, als Altmetall und nicht mehr zu gebrauchende Platinen. Dies wäre im Moment praktisch die einzige Erklärung, warum Moskau so lässig mit dem Vorfall umgeht.
Unbequeme Fragen bleiben trotzdem – in etwa, wie Unbefugte auf das streng bewachte Territorium gelangen konnten.
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