Am Dienstag ist in Istanbul die nächste Runde der ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen gelaufen. Die Delegationen gaben sich optimistisch, doch ein realer Kompromiss zwischen Russland und der Ukraine scheint derzeit kaum Chancen zu haben.

Nachdem die ukrainisch-russischen Verhandlungen am Dienstag gelaufen waren, schien ein Friedensplan in greifbarer Nähe zu sein. Die Delegationen arbeiteten einen Entwurf für einen Friedensvertrag aus, der beide Seiten größtmöglich zufriedenstellen sollte.

Die wichtigsten Punkte des Friedensplans sind wie folgt:

-        die Ukraine verzichtet auf einen NATO-Beitritt und jegliche Atomwaffenambitionen;

-        das Land darf keine ausländischen Militärstützpunkte, Waffensysteme oder Kontingente auf seinem Territorium stationieren;

-        Kiew muss offiziell einen "dauerhaft neutralen Status" ausrufen und somit auf eine Mitgliedschaft in jeglichen Militärblocken verzichten;

-        Kiew muss auf jegliche militärische Rückeroberungsambitionen hinsichtlich des Donbass oder der Krim verzichten;

-        Stattdessen erhält die Ukraine feste Sicherheitsgarantien, die von einer Reihe von Staaten gewährleistet werden;

-        Das Land darf weiterhin einen EU-Beitritt anstreben;

-        Russische Truppen müssen aus allen besetzten Gebieten abziehen, außer der Krim und des Donbass.

Der Friedensplan scheint somit eine Kompromisslösung darzustellen, die beiden Seiten die Möglichkeit geben soll, sich als Sieger zu positionieren.

Der Kreml könnte sich als Sieger inszenieren, weil die wichtigsten russischen Forderungen, die am Anfang der Invasion gestellt wurden, erfüllt werden, darunter vor allem der dauerhafte ukrainische Verzicht auf einen NATO-Beitritt sowie der de facto Verzicht auf den Donbass und die Krim.

Kiew könnte sich als Sieger positionieren, weil alle russischen Truppen hinter die Linie vom 24. Februar abziehen müssen und die Invasion somit "zurückgeschlagen“ worden wäre.

Und doch scheint dieser Friedensplan derzeit kaum Chancen auf eine Implementierung zu haben, denn die Reaktionen darauf waren sowohl in der Ukraine als auch in Russland extrem skeptisch, wenn nicht empört.

Stimmen aus der Ukraine

Ukrainische Vertreter erklärten, eine solche Entscheidung wie eine dauerhafte militärische Neutralität oder ein de facto Verzicht auf die Krim und den Donbass könne nur per Referendum angenommen werden. Unter den gegebenen Bedingungen ist eine solche ukrainische „Volksentscheidung“ aber mehr als utopisch. Der mediale Raum in der Ukraine ist gefüllt mit Siegesmeldungen. Umfragen haben ergeben, dass 93% der ukrainischen Bevölkerung mit einem militärischen Sieg rechnen.

Eine Bevölkerung, die zu 93% sicher ist, den Konflikt militärisch zu gewinnen, wird auf dermaßen umfangreiche Zugeständnisse wohl kaum eingehen. Das aufgebaute Sieges-Narrativ, das in den ukrainischen Medien und offiziellen Stellungnahmen derzeit vorherrschend ist, würde das in Aussicht gestellte Referendum mit großer Wahrscheinlichkeit torpedieren. Selbst wenn sich ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung dazu entschließen könnte, auf einem Referendum für den Friedensplan zu stimmen, bräuchte es Wochen, um diesen Volksentscheid zu organisieren. Zudem könnte das Referendum nur in einigen ukrainischen Regionen durchgeführt werden, weil viele Provinzen besetzt oder umkämpft sind. Das Binden des Friedensplans an ein Referendum ist somit nichts anderes als seine gleichzeitige Annullierung.

Stimmen aus Russland

Auch in großen Teilen der russischen Gesellschaft wurde der Friedensplan fast schon empört zurückgewiesen. Kaum hatte der Chef der russischen Delegation Medinski den Plan vorgestellt, wurde ihm "Verrat" vorgeworfen - Verrat an "nationalen Sicherheitsinteressen" sowie Verrat an den gefallenen Soldaten.

So viele Opfer und sich dann aus den, wie es in Russland formuliert wird, "befreiten Gebieten" einfach zurückziehen? Undenkbar, so der Grundtenor in weiten Teilen der russischen Bevölkerung.

Unter diesen Umständen ist es schwer vorstellbar, dass der Kreml diesen Friedensplan auch tatsächlich unterzeichnet. Dafür müsste sich die militärische Lage auf dem Boden dramatisch verschlechtern.

Auch zwei andere Momente sprechen dagegen.

Moskau sicherte zwar zu, dass es seine militärischen Aktivitäten im Großraum Kiew und Chernihiv zurückfährt, um die Verhandlungsbereitschaft zu demonstrieren, dies bedeutet aber nicht, dass die Waffen auch tatsächlich schweigen werden. Im Gegenteil, die abgezogenen russischen Truppen werden derzeit massiv in den Donbass verlegt, wo bald die nächste "Generaloffensive" erwartet wird.

Bereits jetzt heißt es, dass die russische Artillerie in der Region im Dauereinsatz ist, vermutlich um den Boden für ein Vorrücken der Infanterie vorzubereiten. Es ist schwer vorstellbar, dass Moskau einerseits diese "Generaloffensive" vorbereitet, und andererseits den vorgeschlagenen Friedensplan unterzeichnet. Die Verhandlungen scheinen somit eher ein polit-diplomatisches Manöver zu sein, das die zweite Offensivwelle flankieren soll.

Des Weiteren zeigen auch die russischen Aktivitäten in den besetzten Gebieten ein ganz anderes Bild. Nach dem vorgestellten Plan müssten sich russische Truppen nach der Unterzeichnung sofort zurückziehen...was allerdings überhaupt nicht zu den zahlreichen verwaltungstechnischen Maßnahmen passt.

Verwaltungstechnische Einbindung

So werden in den besetzten Gebieten im Süden der Ukraine rasant sogenannte "militär-zivile Administrationen" aufgebaut, die das Alltagsleben neu ordnen und an Moskau binden sollen. Seit Mitte März hat Moskau damit begonnen, Löhne und Renten in den besetzten Gebieten auszuzahlen. Ab April soll in der Provinz Herson offiziell der Rubel eingeführt werden. Der Rubel und die ukrainische Hrywna werden dann parallel im Umlauf sein. Da aber die Renten und Löhne in Rubeln ausgezahlt werden, wird erwartet, dass die Hrywna nach und nach aus dem Umlauf verdrängt wird.

Alle ukrainischen Beamten, insbesondere die Polizei, wurden aufgerufen, ihre Posten zu belegen und ihre Amtstätigkeit regulär wieder aufzunehmen. Lokale Ackerbauern wurden aufgerufen, sich bei russischen Anbietern Düngermittel zu innerrussischen Preisen zu holen, um die Erntesaison durchzuführen. Da weite Ackerflächen derzeit vermint oder von Verteidigungslinien durchzogen sind, haben Minenräummannschaften damit begonnen, diese Flächen aufzuräumen und für die Erntesaison vorzubereiten. All diese Schritte wären komplett unlogisch, wenn Moskau tatsächlich einen baldigen Abzug planen würde. Ganz im Gegenteil, die Schritte sprechen vielmehr dafür, dass Moskau sich langfristig auf diesen Gebieten einnistet und sie verwaltungstechnisch einbindet.

Wasserversorgung der Krim

Schließlich dürfte auch die Wasserversorgung der Krim einen essentiellen Punkt für den Kreml darstellen. Nachdem ukrainische Behörden im Jahr 2014 den Nord-Krim-Kanal kappten, der das Süßwasser des Dnjepr auf die Krim leitet, trocknete die Halbinsel massiv aus. Nach dem Beginn der Invasion ging der erste taktische Vorstoß der russischen Truppen in Richtung des Kanals. Nach seiner Einnahme wurde er sofort geöffnet und das Wasser in Richtung der Krim gelassen. Erstmals seit 2014 sie die Stauanlagen der Krim nun voll.

Es ist kaum vorstellbar, dass Moskau den Kanal einfach räumt, und die Wasserversorgung der Krim wieder in die Hände der ukrainischen Behörden übergibt. Ob über direkte militärische Kontrolle oder über irgendeine Art von Pufferzone oder Protektorat wird der Kreml da garantiert bleiben wollen.

"Hersoner Volksrepublik"?

Dazu passen auch die vielen ukrainischen Meldungen, dass Moskau ein Referendum in der besetzten Region Herson plant, um eine HVR - also die "Hersoner Volksrepublik"- auszurufen, ähnlich zu den "Lugansker und Donezker Volksrepubliken" LVR und DVR. Die Grenzen dieser "Hersoner Volksrepublik" würden genau die administrativen Grenzen der ukrainischen Provinz Herson wiederholen, die derzeit von russischen Truppen fast vollständig besetzt wurde.

Zunächst wurde das möglich Referendum nur von ukrainischen Medien thematisiert. In den letzten Tagen wurden die Meldungen aber auch von offiziellen ukrainischen Stellen wiederholt bis hin zum ukrainischen Generalstab. Das Szenario eines „Abspaltungsreferendums“ in Herson scheint für ukrainische Offizielle also immer wahrscheinlicher zu werden.

Das Referendum in Herson könnte einen ganzen Domino-Effekt nach sich ziehen. Innerhalb der letzten Tage kündigten nämlich gleich drei selbst erklärte Republiken "Referenden" über ihren Beitritt zu Russland an:

- "Lugansker Volksrepublik",

- "Donezker Volksrepublik"

- "Republik Südossetien".

In Transnistrien und Abchasien sollen ähnliche Szenarien ebenfalls in der Diskussion stehen, wenn auch bislang inoffiziell.

All diese Schritte und Entwicklungen lassen den am Dienstag vorgestellten Friedensplan als äußerst unwahrscheinlich erscheinen, weil weder die ukrainische noch die russische Seite an seiner realen Umsetzung derzeit interessiert zu sein scheinen.

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