Der 6-jährige Krieg zerstörte Millionen von Leben. Der 2015 vereinbarte Waffenstillstand wird immer wieder gebrochen. Ukrainische Zivilisten leben unter Beschuss.

Kann man ohne die Befriedigung von menschlichen Grundbedürfnissen existieren? Ohne Nahrungsmittel, Trinkwasser und warme Kleidung? Sicher nicht. Körperliche und seelische Sicherung der Existenz, materielle Grundsicherung, Arbeit, Wohnung, Familie und Gesundheit gehören laut Maslows Pyramide zur zweiten Schicht der Bedürfnishierarchie. Ohne die Befriedigung der ersten zwei Bedürfnisniveaus ist es physisch, kognitiv und konativ unmöglich, über die folgenden Stufen überhaupt nachzudenken: Über die sozialen und individuellen Bedürfnisse sowie über eigene Selbstverwirklichung. In solch einem Zustand leben die Menschen im Osten der Ukraine seit 6 Jahren.

Wenn man seit mehreren Jahren unter Kriegsbedingungen lebt, tendiert der geistige Zustand zu Instabilität und emotioneller Zerstörung. Obwohl ja Menschen eine große Anpassungsfähigkeit und Resilienz besitzen, sich an alles gewöhnen zu können, warten die Opfer des Krieges auf eine rasche Konfliktlösung. Um die derzeitige Kriegssituation besser zu verstehen, sollte man in die Vorgeschichte eintauchen.

Seit langem unterstützt die ukrainische Gesellschaft die europäische Integrationsinitiative. 2013 wechselte die ukrainische Regierung mit dem damaligen Präsidenten Viktor Yanukovich aber ihren Kurs um 180 Grad. Yanukovich und Co wählten eine prorussische Richtung. Am 21. November 2013 begann eine Welle blutiger Proteste zwischen der Bevölkerung und der Polizei. In die Geschichte gingen die damaligen Ereignisse als „Euromaidan“ ein. Der Kampf um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit der Zukunfts- und Lebenswahl führte zum Wechsel der herrschenden Elite.

Link zu einem ABC-News-Bericht aus 2014: https://www.youtube.com/watch?v=kI-J_ENr4aY

Die Sowjetunion hinterließ wesentliche Spuren in den Köpfen der Menschen. Im Endeffekt tendierten viele der Bürger der Ostukraine zur russischen Seite. Infolgedessen teilte sich die ukrainische Gesellschaft in 2 Lager: Die europaorientierte Seite einerseits und die prorussische Flanke andererseits. Später bestätigten internationale Beobachter, dass russische Bürger in das umkämpfte Territorium geschickt wurden, um die zugespitzte Lage noch zu verschärfen. Die russischen Staatsmedien berichteten wiederum der Bevölkerung, dass die russischen Soldaten gegen die von den USA unterstützten ukrainischen Okkupanten kämpften. Gegen die westlichen Länder, vor allem gegen die Vereinigten Staaten, führt Russland jahrzehntelang seine Propaganda.

Internationale Organisationen mischen sich ein. Ist das ausreichend?

Im Verlauf der Verhandlungen der Staats- und Regierungschefs des Normandie-Formats in Minsk im Februar 2015, wurde eine Reihe neuer Maßnahmen zur Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens vereinbart. In den fünf Jahren seit der Unterzeichnung der Minsker Abkommen wurde jedoch tatsächlich keine ihrer Klauseln erfüllt. Russland beschuldigt die Ukraine, den politischen Teil der Minsker Abkommen sabotiert zu haben: die dauerhafte Anerkennung des Sonderstatus von Donezk und Luhansk vorzusehen, den Status in der Verfassung der Ukraine festzulegen, eine Amnestie zu erklären und Kommunalwahlen zu organisieren. Wladimir Putin besteht darauf, dass es erst nach Umsetzung der Forderungen des Abkommens möglich ist, die Kontrolle der ukrainischen Regierung über die gesamte russisch-ukrainische Grenze wiederherzustellen. Um den Konflikt zu lösen, mischen sich NATO sowie OSZE ein. Im Rahmen des "Normandie-Formats" unterstützt auch Frankreich und Deutschland die Ukraine. Obwohl Angela Merkel ihre Besorgnis bezüglich ukrainischer Grenzverstöße äußert, unterstützt die deutsche Kanzlerin das Pipe-Line Projekt „Nord Stream-2“ weiter.

Der Prozess zur Lösung der Krise im "Normandie-Format" auf Grundlage der Minsker Abkommen ist ins Stocken geraten. Deswegen stärkt die ukrainische Regierung seit Mitte 2017 die Kontakte zur amerikanischen Regierung, zur UNO sowie zu EU-Vertretern, indem zahlreiche Sanktionen gegen Russland auf den Weg gebracht wurden. Unter den Sanktionen, die die USA, die EU und andere Länder seit 2014 in verschiedenen Tranchen verhängt haben, sind Reiseverbote für  bekannte Personen. Zur Sanktionsliste gehört auch das Verbot der langfristigen Finanzierung einiger großer Unternehmen und der Unterstützung der russischen Öl- und Gasunternehmen bei Arktis-, Schiefer- und Offshore-Projekten.

Hat der Kreml wirklich Angst vor Sanktionen?

Die russische Wirtschaft konnte sich nicht nur den Sanktionen anpassen, sondern auch ihre Lage verbessern. Die Konjunktur sei wesentlich stärker als zuvor geworden, schrieb die britische Zeitung "Financial Times". Laut dem Artikel, steigen die Wirtschaftsindikatoren langsam, aber sicher. Als Reaktion auf die von den USA und der Europäischen Union auferlegten Beschränkungen hat Russland die Staatsausgaben gekürzt und Billionen Rubel in Importsubstitutionsprogramme gesteckt. Gleichzeitig, um die lokale Produktion anzukurbeln, haben die Russen die Lebensmittelimporte aus der EU begrenzt. Noch dazu schaffte Moskau einen Staatsfond, der aus überschüssigen Einnahmen von Öl- und Gasverkäufen finanziert wird. Infolgedessen beträgt die Staatsverschuldung Russlands nur noch 15% des BIP, während sie in den europäischen Ländern durchschnittlich 80% ist.

Russia: adapting to sanctions leaves economy in robust health
Analysts say Moscow now has more to fear from a removal of restrictions than additional ones

Auf dem Weg zu einer Beruhigung: Mythos oder Realität?

Einen großen Fortschritt erreichten ukrainische Vermittler im Jahr 2017, als die Ukraine 233 Häftlinge an die selbsternannten Republiken Donezk und Luhansk im Austausch für die Freilassung von 73 Menschen übergab. 2019 wurden weitere 76 Menschen freigelassen, die seit 4 Jahren ihre Familie nicht gesehen haben. Jedes einzelne Leben ist zweifellos wertvoll. Im Vergleich zu den Kriegsopfern in Summe sind die befreiten Gefangenen aber nur ein kleiner Teil der Gesamtzahl der Konfliktbetroffenen.

Laut der UN-Mission zur Überwachung der Menschenrechte in Kiew sind bis Januar 2019 ungefähr 13.000 Menschen dem Konflikt zum Opfer gefallen. Nach Schätzungen des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (November 2019) sind in den sechs Jahren des Krieges in Donbass mehr als 3.300 Zivilisten gestorben und bis zu 9.000 Menschen wurden verletzt. 1,3 Millionen Menschen mussten ihr Leben an einem anderen Ort neu beginnen.

Donbass-Einwohner bleiben isoliert

Sich die Rente auszahlen zu lassen, um sich mit benötigten Arzneimittel zu versorgen, ist ein ganz alltäglicher Prozess - aber nicht im Kriegsgebiet. Um einfache Alltagsaufgaben zu vollbringen, müssen Donbass-Einwohner zuerst eingerichtete Kontrollpunkte passieren. Im Konfliktgebiet existieren sowohl ukrainische als auch russische Checkpoints. An den zweitgenannten haben Ukrainer meistens Probleme, denn oftmals wird der Transit blockiert.

Andere Länder versuchen, die angespannte Situation zu beeinflussen. Die US-Regierung forderte Russland auf, den Transit der Bevölkerung über die Demarkationslinie in Donbass freizugeben. Mit gleichen Ansichten zur Situation in der Ukraine sind auch Großbritannien, Frankreich und Deutschland zu nennen. Großbritannien äußert sich enttäuscht darüber, dass die kürzlich eröffneten Checkpoints „Schjastja“ (Segen, Glück) und  „Zolotoe“ (Der Goldene) wieder außer Betrieb sind. Trotz der Instabilität in jedem Bereich des Lebens und existentieller Bedrohung ist der Status quo zum Alltag geworden. Der dauerhafte Krieg ist nicht nur für die Ukrainer üblich geworden, sondern auch die internationalen Beobachter legen nicht das nötige Engagement an den Tag, um dem Leben der ostukrainischen Bürger wieder zu einer Normalität zu verhelfen.

Ein Vergleich zu anderen Konflikten in der Welt

Die Ukraine zählt weiterhin zu den zehn wichtigsten und größten militärpolitischen Konflikten in der Welt, die laut „Foreign Policy“ im Jahr 2020 von größter Bedeutung sind.

Neben der Ukraine werden in dem Artikel neun weitere wichtige Weltkonflikte erwähnt: die Kämpfe in Afghanistan, der Bürgerkrieg im Jemen, der Konflikt in Äthiopien, die Terroranschläge in Burkina Faso, der Bürgerkrieg in Libyen, der Konflikt am Persischen Golf, die Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und der DVRK, der Konflikt in Kaschmir und die politische Krise in Venezuela.

10 Conflicts to Watch in 2020
Friends and foes alike no longer know where the United States stands. As Washington overpromises and underdelivers, regional powers are seeking solutions on their own—both through violence and diplomacy.

Trotz dauerhafter Spannung in der ostukrainischen Region, bleibt oft der Konflikt in den Weltmedien sowie in der EU-Agenda vernachlässigt. Europa sollte sich ein bisschen mehr Sorgen machen, wenn nicht wegen des Mitgefühls mit den Ukrainern, dann aus Selbstschutz. Auf der geopolitischen Karte bleibt die Ukraine eine wesentliche Spielerin, die die EU vor dem russischen Einfluss beschützt. Die Ukraine ist unter anderem reich an Ressourcen. Deswegen sollten EU und USA es sinnvoll finden, die Ukraine als Einflussbereich gegen Kreml anzusehen.

Dir gefällt, was Viktoria Diadia schreibt?

Dann unterstütze Viktoria Diadia jetzt direkt: