1. Putin ist nicht irre, sondern spielt va banque.

Ein Teil der Qual-Litätsmedien scheint sich da sicher zu sein: Waldimir Putin ist ein nicht mehr zurechnungsfähiger Diktator. Von Napoleonskomplex, ja vom Cäsarenwahn befallen. Schlimmstenfalls ein über Atomwaffen gebietender Nero. Ein Killer, ein Terrorist. Hat seine Karten  überreizt, sein Imperium überdehnt. Der Topos vom gaga gewordenen Autokraten geistert durch Teile des Preßwesens - zum Glück nur durch Teile - wie weiland 1990, als die Springersche mit Blick auf Saddam Hussein die  Frage in den Raum stellte: "Was macht der Irre jetzt?".

In der Tat scheint Putin irrational zu handeln, zumindest erheblich gegen russische Interessen. Denn der Krieg, den er vorletzte  Woche vom Zaun gebrochen hat, bringt Russland nur Nachteile: Die EU ist geeint wie nie, die NATO bedankt sich, endlich wieder eine Aufgabe wie  früher zu haben, der Westen fährt seine Abschreckungskulisse wieder hoch (was nebenbei die betreffenden Volkswirtschaften kräftig ankurbeln wird). Politisch ist Russland weitgehend isoliert und droht durch die Sanktionen in eine Wirtschaftskrise zu schlittern. Der Militäreinsatz belastet die ohnehin nicht sonderlich leistungsfähige russische Volkswirtschaft erheblich, schlimmstenfalls drohen Unruhen im Inneren und Meutereien der Truppe wie einst in Afghanistan.

Diplomatisch sind Putin selbst und sein engerer Zirkel zu Personae non gratae erklärt worden und dürften es schwer haben, in einer Nachkriegsordnung, wie auch immer die aussehen mag, wieder internationale Beziehungen zu knüpfen. Das wird umso schwieriger, je länger der Krieg dauert und der Terror gegen die ukrainische Zivilbevölkerung (der sich wohl intensivieren wird) anhält. Eine Befriedung der Ukraine, so sie denn irgendwann gelönge, stellt sich aus heutiger Sicht als Generationenprojekt für die nächsten Jahrzehnte dar.

Sollte es Putins ursprünglicher Plan gewesen sein, die Ukraine gleichsam im Handstreich zu nehmen und dann ein paar halbherzige Sanktionen des Westens auszusitzen, ist er offenbar damit gescheitert. Dennoch werden die Kriegsanstrengungen erhöht und man riskiert einen hässlichen, blutigen und grausamen Abnutzungskrieg. Schließt man trotz alledem die Möglichkeit aus, dass Putin verrückt ist, dann kann eigentlich nur ein Kalkül hinter der Kampagne stehen: Die möglichst vollständige politische Kontrolle über die Ukraine, wenn nicht Annexion großer Teile von ihr,  ist für Russland geostrategisch von derart großem Wert und von so vitaler Bedeutung, dass alle oben genannten Nachteile auf lange Sicht in Kauf genommen werden.

Obschon 25 Jahre alt, gibt es zur Zeit kaum ein  Buch, das sich im Hinblick auf die aktuelle Lage mit derartigem Gewinn lesen lässt wie Zbigniew Brzezinskis 'Die einzige Weltmacht' von 1997 (leider gerade nur antiquarisch zu haben). Brzezinski analysiert darin - es waren die Jahre der Clinton-Administration - jene  Probleme, die die USA als einzige verbliebene Weltmacht in Zukunft zu meistern haben würden. Seine Ausführungen zu Russland und der Ukraine sind derart gut gealtert, dass sie beinahe hellseherisch wirken. An der geopolitischen Situation Russlands hat sich seit 1997 im Kern nichts geändert. Man macht sich normalerweise nicht klar, was für ein fragiles Gebilde dieses riesige Land eigentlich ist:

"Rußland, bis vor kurzem der Schmied eines großen Landreichs und Führer eines ideologischen Blocks von Satellitenstaaten [...], ist zu einem unruhigen Nationalstaat geworden, der [...] keinen leichten Zugang zur Außenwelt hat und der an seiner westlichen, südlichen und östlichen Flanke kräftezehrenden Konflikten mit seinen Nachbarn ausgesetzt ist. Nur die unbewohnbaren und unzugänglichen nördlichen Permafrostgebiete scheinen geopolitisch noch sicher." (Brezinski, S. 142)

"Für die Russen muss das Gespenst eines möglichen Konflikts mit den islamischen Staaten entlang der gesamten Südflanke Rußlands (die zusammen mit der Türkei, dem Iran und Pakistan mehr als 300 Millionen Menschen aufbieten) Anlaß zu ernster Besorgnis sein." (Ebd., S. 139)

Russland hat ca. 145 Mio. Einwohner, also gerade mal knapp doppelt so viele wie Deutschland, Tendenz sinkend, und dazu ein immer noch riesiges  Territorium. Gern übersehen wird im Westen, dass Russland auch von Süden her bedroht ist. Mögen russische Einkreisungsängste in Bezug auf die NATO überzogen erscheinen, sind sie es in einer Gesamtschau schon weniger. Die Ukraine mit ihren gut 40 Millionen Einwohnern wird da zum Kronjuwel: Kulturell und ethnisch nahe stehend, und mit langer gemeinsamer Geschichte, verschaffte sie Russland einen schlagartigen  Bevölkerungszuwachs von 25-30 Prozent und eine deutlich verbesserte geostrategische Lage. Dafür ist Putin offenbar bereit, va banque zu gehen.

2. Auch der Westen steht vor einem Dilemma.

Brezinski, um ihn ein letztes Mal zu zitieren, bezeichnet das postsowjetische Russland der 1990er als "Schwarzes Loch". Auch diese Diagnose hat wenig an Aktualität eingebüßt. Momentan sieht es so aus, als sei Putin, so sehr man dessen Politik und Vorgehen auch ablehnen mag, immerhin noch der Garant für eine gewisse politische Stabilität. Eine mögliche Nachfolge ist so unklar wie das, was passieren wird, sollte der Ukraine-Krieg letztlich zu seinem Sturz führen. Spinnereien wie die, es möge sich doch bitte ein Attentäter finden, der die Welt mal eben von dieser Geißel erlöst, sind daher hochgradig spinnert. Bei aller Gegnerschaft kann niemand, auch nicht die USA und die NATO, ein Interesse daran haben, dass die staatliche Ordnung Russlands zerfällt bzw. sich auflöst oder das Land gar in einem Bürgerkrieg versinkt. Im Falle der zweitgrößten Atommacht der Welt wären die Risiken unkalkulierbar. Bis auf weiteres wird man also weiter irgendwie mit Putin arbeiten müssen. Gut möglich, dass Putin nicht nur Brzezinski gelesen hat, sondern dass ihm dieses Dilemma des Westens, von dem er am Ende profitieren könnte, bewusst ist.

3. Die Wirkung der Sanktionen auf die russische Bevölkerung sollte nicht überschätzt werden.

Wenn wir Bilder sehen aus russischen Städten mit leeren Läden und Schlangen vor Geldautomaten, dann handelt es sich wahrscheinlich um Propaganda. Denn das gibt nur einen kleinen Teil der Realität wieder, und zwar den einer vergleichsweise kleinen urbanen Mittelschicht, die sich einen im weitesten Sinne westlichen Lebensstil leistet und leisten kann. Es gibt Schätzungen, dass etwa 30 Prozent der russischen Bevölkerung nur wenig und 50 Prozent so gut wie gar nicht von den Sanktionen betroffen sein werden. Gerade letztere haben ein so geringes Einkommen, dass sie eh seit Ewigkeiten mehr oder minder Selbstversorger sind. Man darf auf keinen Fall unterschätzen, wie vielen politischen Krisen, Kriegen, Bürgerkriegen, Wirtschafts- und Versorgungskrisen, Umwälzungen, Hungersnöten und anderen Schrecken die leidgeprüfte russische Bevölkerung allein in den letzten 100 Jahren ausgesetzt war. Machen wir als Westler, für die es normal ist, im Supermarkt jederzeit zwischen 20 Sorten Olivenöl wählen zu können, kein Bild von.


4. Staaten sind keine rein ökonomischen Akteure.

Das  Motto 'Wandel durch Annäherung' ist längst überlagert worden von bzw. ersetzt worden durch 'Wandel durch Handel'. Der zugrundeliegende Gedanke: Staaten, die zum gegenseitigen Nutzen Handel miteinander treiben, kommen nicht so leicht auf die Idee, sich zu bekriegen. Denn das würde ihnen wirtschaftlich zu sehr schaden. Warum sollten sie also? Man könnte sagen, das Prinzip des Homo oeconomicus, der streng rational immer zu seinem eigenen wirtschaftlichen Vorteil agiert, wurde einfach auf Staaten übertragen. Was wir im Moment sehen ist aber, dass Staaten durchaus bereit sein können, auch erheblich gegen ihre außenwirtschaftlichen Interessen zu handeln, wenn geopolitische Interessen dem entgegenstehen. Im Prinzip war das auch schon vorher klar. Die USA und ihre Verbündeten, darunter Deutschland, haben 2001ff.  knapp 20 Jahre lang Milliarden verpulvert für das Abenteuer Afghanistan, ohne dass ihnen das einen nennenswerten Nutzen gebracht hätte. Allein: Afghanistan ist weit weg.

5. Das Ende der Illusion von der deutschen Special relationship zu Russland könnte für die EU stabilisierend wirken.

Quer  durch alle Parteien haben Teile der hiesigen politischen Klasse (und Bevölkerung) Deutschland immer in einer Art besonderen Beziehung zu Russland gesehen: Vorwiegend in bürgerlich-konservative Kreisen fühlte man sich zu Dankbarkeit verpflichtet für die Verdienste eines Michail Gorbatschow um die deutsche Einheit. Einige glaubten auch, Deutschland habe bei Wladimir Putin wegen dessen Vergangenheit als KGB-Mann in Dresden und seiner guten Deutschkenntnisse einen besonderen Stein im Brett. Ferner gab es eine in linken Kreisen verbreitete, teils alter sozialistischer Verbundenheit oder Solidarität gegen das Amerikanische Imperium entspringende Affinität zu Russland. Anderswo pflegte man, unter anderem Dank eines Gerhard Schröder, engere wirtschaftliche Beziehungen zu Russland als der Rest Europas. Von europäischen Partnern wie Polen und den baltischen Staaten wurde das alles immer sehr kritisch beäugt. Die russische Invasion in der Ukraine hat diese Bedenken fürs erste beiseite gewischt und könnte sich  ironischerweise als Kitt für die europäische Union erweisen.


6. Die Friedensbewegung muss sich der Gretchenfrage stellen, oder sie wird irrelevant.

"Frieden  schaffen ohne Waffen" lautete ein Motto der deutschen Friedensbewegung. Im Kalten Krieg, als jede direkte Konfrontation zwischen den  Supermächten wegen deren grotesker atomarer Hochrüstung automatisch das Ende der Menschheit bedeutet hätte, hatte diese Haltung ihre Berechtigung. Seit 1989/91 ist die Welt aber weder einfacher noch friedlicher geworden. Und die Friedensarbeit entsprechend komplizierter.  

"Zu den größten [nicht nur, S.R.] linken Irrtümern gehört die Annahme, für den Frieden und gegen den Krieg zu sein, seien dasselbe. Denn wer Frieden will, muss den Mördern mitunter in den Arm  fallen - notfalls auch mit Waffengewalt." (Leander F. Badura)

In der Politik ist das leider so, dass es einem am Ende wenig bis nichts nützt, eine ehrenwertere, moralisch höher stehende Position innezuhaben. Wer sich  fragt, wie in Zukunft Frieden möglich sein kann, wird sich auch fragen müssen, unter welchen Voraussetzungen es legitim sein kann, auch als Pazifist, wenn schon nicht zur Waffe zu greifen, so aber Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Dringend.


7. Sonnenblumenöl und Rapsöl sind das neue Klopapier.

Bevorraten Sie sich, das könnte länger dauern. Insgesamt 94 Prozent der in Deutschland verarbeiteten Ölsaaten kommen aus Importen, 78 Prozent aus Russland und der Ukraine. Und dass Mehl und Hefe gehamstert werden, das kennen wir noch aus 2020, gell?

Weniger witzig ist, dass Russland und die Ukraine wegen ihrer fruchtbaren Böden die Kornkammer der Welt sind. Viele afrikanische Länder hängen  existenziell ab von billigen russischen und ukrainischen  Getreideimporten. Die dortige Bevölkerung ist weit weniger in der Lage,  mal eben höhere Preise zu bezahlen als Europäer bzw. sind deren  Regierungen weniger in der Lage, Preissprünge notfalls mit staatlichen  Beihilfen und Notkäufen teilweise auszugleichen.

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