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Mitten in Europa ist die Kriegsgefahr in den letzten Monaten deutlich gewachsen. Russland bereitet sich darauf vor, die Ukraine zu überfallen. Putin sieht Russland durch die Ukraine „bedroht“.
EU-Gremien tagen, die deutsche Außenministerin reist nach Washington. „Baerbock und Blinken wollen „falsche Erzählung“ Russlands nicht länger hinnehmen“, titelt die FAZ ihren Bericht über den USA-Besuch.
Dann wollen wir die russischen Erzählungen doch mal näher unter die Lupe nehmen und mit der tatsächlichen Lage und ihren Vorgeschichten vergleichen.
Über 110.000 russische Soldat:innen sind an der Grenze zur Ukraine aufmarschiert. Putin droht unverhohlen mit einem militärischen Angriff, falls seinen Forderungen nicht entsprochen wird. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 und der seitdem andauernden militärischen Unterstützung für separatistische Milizen im Donbas würde diese russische Aggression gegen die Ukraine gleich mehrere Eskalationsstufen auf einmal nehmen.
Das Verbot von Memorial ist ein Menetekel
Im Dezember wurde Memorial verboten. Das passt in das düstere Bild. Die von dem Friedensnobelpreis-Träger Andrei Sacharow gegründete Menschenrechtsorganisation hatte sich große Verdienste bei der Erforschung der stalinistischen Verbrechen erworben. Millionen von Russ:innen hatten sich seit den 90er Jahren an Memorial gewandt, um das Schicksal ihrer Verwandten aufzuklären, die Opfer des Stalin-Terrors geworden waren.
So fand Inna Hartwich den Namen ihrer Großmutter Frieda wieder, die in sowjetischen Arbeitslagern geschuftet hatte. „Der Name stand auf den zahlreichen Listen der Bürgerrechtler von Memorial, der Menschenrechtsorganisation, die Russland nun verboten hat“, beschreibt sie in einem sehr lesenswerten Artikel, warum Memorial so wichtig für die russische Gesellschaft ist.
Doch Putin will, dass man bei Stalin nur an den Retter im Großen Vaterländischen Krieg denkt. Denn nur so läßt sich eine ungebrochene, imperiale Linie russischer Größe von Katharina der Großen bis zu Putin ziehen. Dafür muss der Staat die alleinige Herrschaft über die Erinnerungskultur haben. Für Memorial war kein Platz mehr. Putin fällt zurück hinter den XX. Parteitag der KPdSU von 1956 und die von Nikita Chrustschow angeordnete Auseinandersetzung mit dem Stalinismus
Der Repression nach innen folgt die Aggression nach außen
Der Repression nach innen folgt die Aggression nach außen. Putin, der den Zerfall der Sowjetunion für die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts hält, fühlt sich berufen, Russland wieder zu alter imperialer Größe zurückzuführen. Dabei sieht er die Ukraine als untrennbaren Bestandteil Russlands an. „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ hat Putin seinen Aufsatz überschrieben, in dem er der Ukraine Souveränität und Eigenstaatlichkeit rundheraus abspricht (die deutsche Übersetzung ist abgedruckt in Osteuropa 7/2021, S. 51-66).
Anderen Staaten in der Nachbarschaft Russlands will er nur eine eingeschränkte Souveränität zugestehen. Alle, die Putin zum „nahen Ausland“ zählt, wie zB Georgien oder Armenien, sollen nicht frei darüber entscheiden dürfen, welchen Bündnissen sie angehören wollen.
Dies soll nicht nur für Staaten gelten, die früher der Sowjetunion angehörten. Auch Finnland und Schweden - beide sind Mitglieder der EU - soll ein NATO-Beitritt verwehrt bleiben. Der finnische Ministerpräsident Sauli Niinisto war not amused.
Putin verlangt ultimativ, „Sicherheitsgarantien des Westens für Russland“. Nur so könne die von ihm fälschlich so genannte „Ukraine-Krise“ beigelegt werden. Er hat Entwürfe für zwei Abkommen mit den USA und der NATO vorgelegt, mit denen eine Osterweiterung des Militärbündnisses sowie die Errichtung von US-Militärstützpunkten in Staaten der ehemaligen sowjetischen Einflusssphäre untersagt werden sollen. Er suggeriert große Dringlichkeit und gibt sich besorgt, obwohl eine Erweiterung der NATO überhaupt nicht auf der Tagesordnung steht. Der von „Putin-Versteher:innen“ gezogene Vergleich mit der Kuba-Krise geht deshalb am Thema vorbei.
Die Öffnung der NATO für neue Mitglieder war 1990 kein Thema
Putin sieht Russland durch die NATO bedroht und behauptet, die Öffnung der NATO für die dringenden Beitrittswünsche der mittel- und osteuropäischen Länder in den 90er Jahren habe klaren Vereinbarungen widersprochen, die zwischen Gorbatschow und dem Westen 1990 geschlossen worden seien.
Gorbatschow selbst widerspricht dieser Behauptung: „Die Osterweiterung war 1990 kein Thema.“
In der Süddeutschen Zeitung hat Stefan Kornelius vor kurzem noch einmal ausführlich nachgezeichnet, dass Russland nie bindende Zusagen im Hinblick auf eine NATO-Osterweiterung bekam.
Außerdem sei „das Geraune über mündliche Versprechungen im Jahr 1990 rund um die Wiedervereinigung Deutschlands spätestens seit 1997 hinfällig oder nur noch für Historiker interessant“, sagt der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger,
„weil Russland mit der Unterschrift unter die Nato-Russland-Grundakte damals, also vor 24 Jahren, die Nato-Erweiterung nach Osten akzeptierte.
Die NATO selbst hatte seinerzeit mit der Aufnahme neuer Mitglieder eher gezögert. Es waren die baltischen Staaten, Polen und Ungarn, die nach 1990 unbedingt in die NATO aufgenommen werden wollten. Sie suchten eine Rückversicherung für den Fall, dass der Weg Russlands zu Demokratie und Rechtsstaat fehlschlagen würde.
Auch Putins Behauptungen, Russland sei nach 1990 vom Westen ständig gedemütigt worden, halten einer Überprüfung nicht stand: Russland tritt dem NATO-Programm Partnership for peace bei (1994); Aufnahme Russlands in den Europarat (1996); Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU (1997); NATO-Russland-Grundakte zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens (1997); Aufnahme Russlands in die G7 (1998); Bildung des NATO-Russland-Rats (2002); Aufnahme Russlands in die Welthandelsorganisation WTO (2011).
Einfluss-Spären für Russland oder Gleichberechtigung aller Staaten
Wenn Putin von „Sicherheitsgarantien“ spricht, schwebt ihm eine Aufteilung Europas in Einfluss-Spären vor, wie sie die Konferenz von Jalta
1945 vorgenommen hatte. Ostdeutschland und die mittel- und osteuropäischen Länder wurden seinerzeit dem Einflussbereich der Sowjetunion zugeordnet. Aber diese Spaltung des Kontinents wurde durch den Helsinki-Prozess und das Ende des Kalten Krieges überwunden. Das Ergebnis des Helsinki-Prozesses war die Charta von Paris, die 1990 von den USA, Kanada, der Sowjetunion und praktisch allen europäischen Staaten unterzeichnet worden war. In dieser Charta sind die Prinzipien für die Friedensordnung in Europa nach dem Ende des Kalten Kriegs festgelegt: Gleichberechtigung und Souveränität aller Staaten, Unverletzlichkeit der Grenzen, Gewaltverzicht, Menschenrechte.
Mit der Annexion der Krim und der fortgesetzten Aggression gegen die Ukraine verletzt Russland seit 2014 die Grundprinzipien dieser gemeinsamen Friedensordnung.
Sicherheitsgarantien nicht nur für Russland, sondern auch von Russland
Ja, wir müssen deshalb wieder über „Sicherheitsgarantien“ sprechen. Die für Januar angekündigten Verhandlungen zwischen den USA, Russland und der NATO sollten dazu genutzt werden. Aber es geht nach der Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine durch Russland um Sicherheitsgarantien für alle Staaten in Europa, nicht nur für Russland, sondern auch von Russland.
Russland hat 2008 Südossetien von Georgien annektiert, dann 2014 die Krim von der Ukraine. Seit 2018 läßt Putin in Kaliningrad atomwaffenfähige Iskander-Raketen mit einer Reichweite von 500 km stationieren. Es gab Cyberangriffe aus Russland gegen den Deutschen Bundestag, Es gibt Töne aus Russland, die mit einem „preemptive strike“, also einem Präventivangriff auf die Ukraine drohen, wenn den Forderungen nicht entsprochen würde.
Es gibt also viel zu besprechen mit Putin. Basis für diese Gespräche müssen die 1990 auch von der Sowjetunion unterschriebenen Prinzipien der Charta von Paris sein, nicht die 1945 gefassten Beschlüsse der Siegermächte des 2. Weltkriegs auf der Konferenz von Jalta.
Es geht nicht darum, Russlands imperiale Ansprüche zu befriedigen, sondern um vertrauensbildende Maßnahmen und um Abrüstung. Wir brauchen einen Helsinki-Prozeß 2.0, um Frieden und Stabilität in Europa zu sichern: Gleichberechtigung und Souveränität aller Staaten, Unverletzlichkeit der Grenzen, Gewaltverzicht, Menschenrechte.
(Diese Kolumne ist zuletzt bei „RUMS - neuer Journalismus für Münster“ erschienen. Der Text ist die überarbeitete, ergänzte und aktualisierte Fassung des Kommentars bei Aktion lifeline.)
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