Jüngst veröffentlichten mehr als 50 deutschsprachige Schauspieler jeweils kurze Videos, in denen sie notorische Lockdown-Befürworter aus dem „ZeroCovid“-Milieu mit würziger Ironie parodierten. Die Aktion erhielt unter #allesdichtmachen viel Zuspruch, aber auch ein „Shitstorm“ mit Forderungen, die Beteiligten zu „canceln“ ließ ebenso nicht lang auf sich warten. Mittlerweile hat sich fast die Hälfte der Prominenten explizit oder implizit distanziert. Der Vorgang wirft kein gutes Licht auf Meinungsfreiheit und Debattenkultur hierzulande, ist dabei aber auch nur Symptom eines viel größeren Problemzusammenhangs.
Pandemiebekämpfung als Orgie der Strategielosigkeit
Die Ursachen für eine sich ruckartig entladende Unzufriedenheit liegen tief. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Monaten jedenfalls nicht unter Beweis gestellt, dass sie eine irgendwie geartete klare Strategie bei der Bekämpfung des Coronavirus verfolgt. Vielmehr war die Politik gekennzeichnet von als alternativlos gepriesenen „Dauer-Lockdowns“, willkürlichen Grenzwerten, Geschäfts- und Schulschließungen. Das war im Winter, als es noch keinen finalisierten und zugelassenen Impfstoff gab, vielleicht auch (rechtlich) noch vertretbar. Die Situation ist jedoch mittlerweile eine gänzlich andere. Es gibt eine Vielzahl an Impfstoffen, die bereits den Teil der Bevölkerung, der noch im Winter zu den gefährlich hohen, teilweise täglich vierstelligen Todeszahlen geführt hat, weitestgehend vor schweren Verläufen geschützt haben. Daneben gibt es deutlich bessere Möglichkeiten, um eine adäquate Nachverfolgung der Infektionsketten zu garantieren, beispielsweise regelmäßiges Testen. Diese Fortschritte wurden wohlgemerkt trotz des Debakels bei der Impfstoffbeschaffung als Konsequenz der von Angela Merkel geforderten Delegation der Verantwortlichkeit nach Brüssel gemacht.
Obwohl von Virologen und Rechtswissenschaftlern mehrfach eine Erweiterung der Perspektive auf mehrere Parameter – etwa die Zahl der Todesfälle, die Auslastung der Intensivbetten und regionale Eigenheiten des Infektionsgeschehens (Cluster oder „Durchseuchung“) – gefordert wurde, rekurrieren die Entscheidungsträger noch immer fast ausschließlich auf die Sieben-Tages-Inzidenz als einziges entscheidungsleitendes Kriterium. Die Bundesregierung hat diese Perspektivenverengung nun sogar mit einer Entmachtung der Länder im Eilverfahren durch die Einfügung des § 28b IfSG in Gesetzesform gegossen. Der zuhauf geäußerten Kritik aus allen Fachrichtungen, die sogar in einer Bescheinigung einer wahrscheinlich bestehenden Verfassungswidrigkeit gipfelte, zum Trotz wurde die entsprechende Gesetzesänderung verabschiedet. Sie erntete im Bundesrat zwar scharfe Kritik, dort kam es aber nicht zum Einspruch und sie trat letztlich in Kraft. Beim Bundesverfassungsgericht sind nun bereits über 100 Verfassungsbeschwerden eingegangen, die die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes rügen. Schon zuvor sorgte die nicht hinreichend erfolgte – wohl aber verfassungsrechtlich gebotene – Abwägung für Unmut. Die Reduktion eines mehrdimensionalen Problems auf einen seiner Aspekte ist lediglich ein von polemischer Emotionalität getragener politischer Argumentationstopos, aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung völlig fehl am Platz.
Debattenkultur und moralistischer Absolutismus
Es soll aber nicht um eine detaillierte Bewertung der Coronapolitik der Bundesregierung gehen. Vielmehr ist von zentraler Bedeutung, wie nicht nur über die umgesetzte Politik, sondern auch über die politischen Möglichkeiten diskutiert wird. Dominiert wird die „Debatte“ von der Anhängerschaft von „ZeroCovid“, die die Infektionszahlen mit von ihr selbst als „harter Lockdown“ bezeichnete Maßnahmen auf null senken will. Kein getroffenes Maßnahmenpaket geht „weit genug“, um dieses phantasievolle Ziel zu erreichen. Diese Forderung wird dabei absolut und mit geradezu missionarischem Eifer vertreten. Kritiker werden entweder als angebliche „Querdenker“ gebrandmarkt und in eine Ecke mit Gestalten wie Attila Hildmann gestellt, oder mit dem Verweis auf „Menschenleben“ in emotional-moralistischer Manier mundtot gemacht.
Offenbar wurde eine solche Attitüde zuletzt, als Klaus Kleber den FDP-Generalsekretär Volker Wissing im Rahmen eines Interviews im ZDF fragte, ob die FDP die „Verantwortung für die Toten“ übernehmen werde, die angeblich zu beklagen seien, sollte die sogenannte „Bundesnotbremse“ in Karlsruhe scheitern. Die Verantwortung für verfassungswidrige Gesetze tragen jedoch nicht diejenigen, die die Verfassungswidrigkeit feststellen lassen, sondern diejenigen, die ein solches Gesetz – in diesem Fall sogar allen Warnungen zum Trotz – verabschiedet haben. Ein ähnlich perfider Vorwurf war bereits zu vernehmen, als das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig erklärte. Die Verfassung verliert jedoch ihre Geltung auch nicht in Krisenzeiten. Es existiert lediglich ein die Regelungen des Grundgesetzes partiell modifizierender geschriebener Notstand (der Verteidigungsfall des Art. 115a GG), einen ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Notstandsvorbehalt gibt es hingegen nicht. Ein solcher darf auch verfassungsgewohnheitsrechtlich keine Anerkennung finden, denn damit würden einer möglichen Aushebelung des Grundgesetzes in der Zukunft Tür und Tor geöffnet. Eine Verfassung bildet die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens und darf daher insbesondere in stürmischen Zeiten ihren Geltungsanspruch nicht einbüßen – Deutschland ist schließlich kein „Schönwetter-Verfassungsstaat“. Wer die Steuerungskraft einer Verfassung auch in schwierigen Gewässern nicht wertschätzt, hat sie nie richtig gewollt. Ein ähnliches Bild zeichnete sich in der parlamentarischen Debatte über die von der Bundesregierung angestrebte Gesetzesänderung. Ralph Brinkhaus, Fraktionsvorsitzender der Unionsfraktion, bezeichnete sie als „Gesetz für das Leben“, Gegner sollen damit als kaltherzige Mörder präsentiert werden und das Vorhaben vor Kritik immunisieren – eine an Demagogie grenzende Strategie der Diskursverengung.
Phänomenologie der „Alternativlosigkeit“
Die Beispiele illustrieren, wie dysfunktional unsere Debattenkultur gegenwärtig ist. Die Gegenseite verfällt bei jeder von Forderungen nach immer härteren Lockdowns abweichender Position fast schon reflexartig in einen Rausch, Kritiker als „Coronaleugner“ zu diffamieren. Bestehende Nuancen im Meinungsspektrum werden dabei ignoriert und in ein einfaches Schwarz-Weiß-Schema typisiert. Aber nicht jeder, der sich gegen einen Lockdown-Kurs ausspricht und Alternativen artikuliert, hält Angela Merkel für einen Echsenmenschen oder glaubt, Bill Gates wolle den Menschen Mikrochips verimpfen. Ein wirkliches Bewusstsein dafür, dass auch sachliche Kritik im Bereich des Möglichen liegt und in demokratischer Hinsicht sogar geboten ist, gibt es nicht mehr.
Dieses Phänomen erinnert stark an das mediale Klima im Zuge der Flüchtlingskrise des Jahres 2015. Jeder, der es auch nur im Ansatz wagte, Töne der Kritik oder des Unbehagens gegenüber dem Vorgehen der Bundesregierung zu äußern, wurde mit moralistischem Unterton als „Nazi“ oder „rechtspopulistisch“ diffamiert. Es war genau dieser Umstand, der der AfD ihren Auftrieb verlieh und sie schließlich zur zweitstärksten politischen Kraft in den östlichen Ländern und größten Oppositionsfraktion im Bundestag werden ließ. Es ist die einem autoritären Regierungsstil entspringende (angebliche) „Alternativlosigkeit“, die im Laufe der Kanzlerschaft Angela Merkels so oft beschworen wurde und für die demokratische Kultur einer Gesellschaft toxisch ist. Debatten werden abgeschnürt und in Parallelräume verdrängt, die sich im schlimmsten Falle zu bloßen Resonanzkammern der eigenen Meinung entwickeln.
Das zweite Virus
Auch die Pandemie stellt dies unter Beweis. Das Grundgesetz institutionalisiert mit der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) eigentlich eine „Gegenöffentlichkeit“, die sich als Selbsterhaltungsmechanismus der Demokratie unter Umständen auch gegen dem Anschein nach bestehende Mehrheiten stellt. Es ist also gerade die Aufgabe von Künstlern, den Diskurs auch mit für viele vielleicht unangenehmer oder „zynischer“ Kritik anzuregen. Der Verweis darauf, es handele sich bei den teilweise geradezu hysterischen Gegenreaktionen lediglich um zu tolerierende Kritik, geht völlig fehl. Cancel Culture wird gerne als simple „Kritik“ verkauft, verfolgt aber als Phänomen einer digitalen Ochlokratie ein gänzlich anderes Ziel. Kritik auf der einen Seite akzeptiert das Gegenüber als gleichberechtigter Diskursteilnehmer und will auf Grundlage eines in einen pluralistischen Prozess integrierten argumentativen Austausches letztlich zur Wahrheitsfindung beitragen. Es geht auf der anderen Seite aber vielen, die sich in erster Linie in den sozialen Medien gegen #allesdichtmachen positionierten, mitnichten darum, sachliche „Kritik“ zu artikulieren, sondern die Beteiligten und Unterstützer zu „canceln“, sie also für ihre als „schädlich“ identifizierte Meinung durch eine koordinierte Zerstörung ihrer sozialen Existenz zu „bestrafen“. Die Inquisitoren dieses neojakobinischen Tugendterrors diffamierten die Künstler dabei als „Coronaleugner“, erstellten Denunziationslisten und forderten sogar Berufsverbote. Das aber ist kein Bestandteil einer Debattenkultur, sondern Ausdrucksform einer totalitären Gesinnung.
Auch hier bildete sich eine von oben propagierte „Alternativlosigkeit“ als Teil einer „Staatsraison“, die die Marschrichtung fest vorgibt und die Kundgabe abweichender Ideen bereits im Keim erstickt. Befeuert wird dies noch durch die Selbstisolation der Kanzlerin in einem Beraterkreis, der offenbar lediglich dazu existiert, bereits gebildete Positionen zu bekräftigen und als angeblich zwingend geboten zu „vermarkten“. Das ist keine gesunde Entwicklung für ein demokratisches Gemeinwesen, sondern vermag es tödlich zu kränken. Nichts ist „alternativlos“, schon gar nicht in einem auf der Volkssouveränität fußenden Staat. Demokratie ist nicht nur ein statischer, auf dem Papier existierender Zustand, sondern vor allem ein ständig zu aktualisierender Prozess. Die dabei so elementare Debattenkultur ist in Deutschland jedoch infiziert, und das nicht erst seit der „Coronakrise“. Findet man kein Heilmittel, droht das sie befallene Virus die Demokratie zu verschlingen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt abzutöten.
Bild: Eigenkreation aus den veröffentlichten Videos
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