Dieses Argument höre ich häufig in Diskussionen zum Thema Alternativmedizin. Statt nun lange zu erläutern, was Evidenz ist und warum sie wichtig ist, möchte ich es heute einmal anders probieren. Der folgende fiktive Dialog[1] zwischen einem Konsumenten (K) und einem Wissenschaftler (W) kann die Sachlage vielleicht weniger trocken erklären:

K: Also ich war beim Arzt, der mir gegen meine Kopfschmerzen ein homöopathisches Mittel gegeben hat; und meine Schmerzen waren danach wie weggeblasen. Was brauch ich da Wissenschaft? Ich weiß schließlich was mir hilft!

W: Reiner Zufall! Man kann doch bei einem Einzelfall nicht von Evidenz sprechen.

K: Aber es ist kein Einzelfall; mein Arzt hat mir gesagt, dass er das schon bei Dutzenden von Patienten beobachtet hat.

W: Na gut, da kommen wir der Sache schon etwas näher. Dennoch können wir selbst bei einer großen Fallzahl nicht sicher sein, dass ohne Homöopathie nicht genau das gleiche passiert wäre. „The plural of anecdote is anecdotes and not evidence", sagen die Engländer. Kopfschmerzen, wie viele andere Leiden auch, werden nun einmal sehr oft von alleine besser. Und außerdem sollten Sie bedenken, dass es so etwas wie den Placebo-Effekt gibt.

K: Ich habe einmal nachgeforscht und im Internet eine Placebo-kontrollierte Studie gefunden, die genau das bestätigt, was ich gesagt habe. Die Studie zeigt nämlich, dass Homöopathie wirksamer als ein Placebo ist.

W: Interessant! Das könnte man durchaus als Evidenz ansehen. Die Frage ist jedoch, wie überzeugend ist diese Evidenz? In Ihrer Studie waren die Patienten weder verblindet noch nach dem Zufallsprinzip auf die zwei Gruppen aufgeteilt worden. Das bedeutet, dass erstens die Gruppen nicht unbedingt vergleichbar waren, und zweitens heißt das, dass die Patienten in der Homöopathie-Gruppe wussten, dass sie ihre geliebte Homöopathie erhielten und vielleicht allein wegen dieser positiven Erwartung einen besseren Erfolg hatten.

K: Und was genau wollen Sie damit sagen?

W: Dass wir eine Placebo-kontrollierte Studie brauchen, bei der die Erwartung der Patienten und der Behandler als Störfaktor ausgeschlossen wurde, indem beide Parteien verblindet wurden. Zusätzlich sollten die Patienten nach dem Zufallsprinzip, d.h. randomisiert, auf die Gruppen verteilt werden; nur so ist sichergestellt, dass die Gruppen auch wirklich vergleichbar sind. Mit anderen Worten, wir brauchen eine randomisierte, Placebo-kontrollierte Doppelblindstudie. Dieses Studiendesign erlaubt eine ziemlich sichere Aussage darüber, ob tatsächlich die Homöopathie und nicht irgend ein anderer Faktor das Ergebnis verursacht hat.

K: Nach weiteren Recherchen habe ich jetzt genau so eine Studie gefunden. Hier ist sie; sie bestätigt was ich ihnen schon die ganze Zeit sage: Die Homöopathie hilft bei Kopfschmerzen.

W: Na prima! Und hier habe ich ebenso eine Untersuchung, die dieser Schlussfolgerung nicht zustimmt. Sie zeigt, dass Homöopathie bei Kopfschmerzen nicht besser als ein Placebo wirkt. Und wenn wir uns die Qualität der beiden Studien anschauen, so scheint mir meine deutlich besser und damit aussagekräftiger zu sein.

K: Inwiefern besser?

W: Sie hat z.B. eine größere Fallzahl und ist nicht von Homöopathen, sondern von einem angesehenen Forscherteam in einer angesehenen Zeitschrift publiziert worden.

K: Na gut. Und was jetzt?

W: Inzwischen habe auch ich mich mit diesem Thema etwas genauer beschäftigt. Sie werden vielleicht erstaunt sein, aber es gibt zu unserem Problem insgesamt 6 Studien, die alle recht unterschiedliche Ergebnissen erbracht haben.

K: Ja, das verblüfft mich wirklich; und was machen wir jetzt?

W: In der Medizin passiert es sehr häufig, dass es mehrere Studien zu einer Fragestellung gibt, deren Ergebnisse sich aber widersprechen. Dann ist es leicht, sich die Rosinen herauszupicken, und Daten, die einem nicht in den Kram passen, einfach ganz diskret zu ‚vergessen'. Sowas führt jedoch dazu, dass Konsumenten in die Irre geführt werden und wäre letztlich nichts anderes als Scharlatanerie. Das einzig richtige Vorgehen ist in solchen Fällen, alle Studien kritisch bewertend zusammenzufassen und so zu einem neuen und validen Gesamtergebnis zu kommen. Die Experten nennen so etwas eine systematische Übersichtsarbeit.

K: Und hat das für unsere Fragestellung schon jemand getan?

W: Glücklicherweise ja. Hier, ich zeig Ihnen mal die Veröffentlichung[2]:

Objective: To systematically review published prospective trials relating to the homeopathic treatment of tension type, cervicogenic, and migraine headache.

Data sources: Pre-MEDLINE, MEDLINE, MANTIS, Cochrane Database of Systematic Reviews, and AMED were searched from the initial indexing year of each database through May 2002. Studies were further identified through a manual search of obtained article references.

Study selection: English and non-English randomized clinical trials and prospective observational trials were included if there were at least ten subjects in the homeopathic portion of the trial and, for randomized clinical trials, if there was a placebo group. Treatment in these studies included single dose and individualized homeopathic prescription. Case studies, homeopathic provings, unpublished material, non-peer reviewed papers, and studies that combined multiple homeopathic remedies, introduced other complementary and alternative medicine therapies and/or introduced additional medical therapy for patients in the homeopathic treatment groups were excluded.

Data extraction: Qualitative data were extracted from each paper and entered into an evidence table.

Data synthesis: A critical evaluation list of 20 methodological items and their operational definitions was used, resulting in a validity score determined for each paper.

Results: Six papers met criteria for inclusion. Three out of the six papers studied migraine headache, two studied cervicogenic and tension type headache, and one included all types of headaches. Four studies were randomized clinical trials, and two were prospective observational studies. Validity scores ranged from 25.0% to 63.4%. Homeopathy was superior to placebo in one randomized clinical trial and equal to placebo in three randomized trials. In no study was homeopathy less effective than placebo in treating headache, or harmful. Two prospective observational studies demonstrated improvement in patients receiving homeopathic care.

Conclusion: There is insufficient evidence to support or refute the use of homeopathy for managing tension type, cervicogenic, or migraine headache. The studies reviewed possessed several flaws in design. Given these findings, further research is warranted to better investigate the effectiveness of homeopathic treatment of headaches.

K: Danke, aber das sagt mir wenig; ich kann kein Englisch.

W: Ich interpretiere Ihnen mal schnell den entscheidenden Satz: Die Evidenz ist unzureichend, um die Homöopathie als Behandlungsform für den Spannungskopfschmerz, den zervikogenen Kopfschmerz oder Migräne auszuweisen.

K: Na prima, jetzt sind wir genauso schlau wie zuvor!

W: Nicht ganz. Wir wissen doch immerhin, dass die Evidenz für die Homöopathie bei Kopfschmerzen nicht überzeugend ist. Das heißt, Sie sollten sich vielleicht nach einer Therapie umschauen, die besser belegt ist. Das würde Ihre Chancen verbessern, einen guten und vor allem anhaltenden Therapieerfolg zu erzielen. Denn Placebos helfen manchmal aber meist nicht für lange Zeit.

K: Ja, vielleicht haben sie Recht. Aber vielleicht stammt Ihre Übersichtsarbeit auch von Leuten, die voreingenommen und daher nicht so ganz vertrauenswürdig sind.

W: Sehr gut! Sie lernen offenbar recht schnell. Natürlich sollte man immer sicher gehen, dass man nicht an der Nase herumgeführt wird. Hier sind zum Beispiel zwei systematische Übersichtsarbeiten, die zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Sie beschäftigen sich mit der Homöopathie bei psychiatrischen Erkrankungen. Die erste ist von 2011 und besagt: Results do not preclude the possibility of some benefit - also etwa 'die Ergebnisse schließen einen Nutzen der Homöopathie nicht aus'. Die zweite wurde 2020 publiziert und schlussfolgert: data on homeopathy in psychiatric disorders are insufficient to support their use in clinical practice - also etwa 'die Daten ... sind unzureichend, um Homöopathie in der klinischen Praxis zu rechtfertigen'.

K: Na sehen Sie; soweit ist es also doch nicht her mit Ihrer viel-gelobten Evidenz.

W: Die Interpretation jeder Evidenz bedarf immer noch des kritischen Denkens. Das heißt, wir müssen stets prüfen, wie verlässlich die jeweiligen Schlussfolgerungen sind. Die erste Übersichtsarbeit stammt von Homöopathen, ist in einem nicht hoch angesehenen Journal der Alternativmedizin publiziert worden, und weist erhebliche methodische Schwächen auf. Die zweite Übersichtsarbeit stammt dagegen von unabhängigen Psychiatern, wurde in einem angesehenen Journal publiziert und ist ordentlich gemacht. Welche der beiden meinen Sie ist verlässlicher?

K: Ich verstehe. Und die Übersichtsarbeit zu den Kopfschmerzen, die Sie mir vorhin gezeigt haben, von wem ist die?

W: Die wurde von Homöopathen veröffentlicht; aber die sind wohl kaum gegen die Homöopathie eingenommen.

K: Wohl kaum. Ich werde mir das alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht haben Sie tatsächlich Recht und ich sollte auf die Homöopathie eher verzichten.

Fazit

Erfahrung kann uns sehr leicht fehlleiten. Deshalb sind zur Beurteilung der Wirksamkeit von Behandlungsweisen klinische Studien guter Qualität erforderlich. Aber selbst solche Untersuchungen führen oft zu widersprüchlichen Ergebnissen. In diesen Fällen sind systematische Übersichtsarbeiten, die alle zu Verfügung stehenden Studien kritisch bewerten, am ehesten in der Lage, ein objektives Urteil zu liefern, insbesondere falls sie von unabhängigen Forschern ohne Interessenskonflikte erstellt wurden.


  1. Entnommen und leicht modifiziert aus meinem Buch: Alternativmedizin - was hilft, was schadet: Die 20 besten, die 20 bedenklichsten Methoden (GU Reader Körper, Geist & Seele) : Ernst, Edzard: Amazon.de: Bücher ↩︎

  2. Owen JM, Green BN. Homeopathic treatment of headaches: a systematic review of the literature. J Chiropr Med. 2004 Spring;3(2):45-52. doi: 10.1016/S0899-3467(07)60085-8. PMID: 19674623; PMCID: PMC2646987. ↩︎

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