Als Arzt hat man sechs Jahre lang Medizin studiert und womöglich weitere Jahre damit verbracht, sich zum Facharzt ausbilden zu lassen. Mit anderen Worten, man hat sich eine Unmenge von Kenntnissen und Fähigkeiten angeeignet. Man möchte meinen, dass Ärzte dann ihre umfassende und hart erkämpfte medizinische Expertise auch angemessen einsetzen. Die allermeisten tun das auch. Aber einige kehren der konventionellen Medizin ganz oder teilweise den Rücken und wenden sich der Alternativmedizin zu.

Dieser Umstand hat mich schon immer maßlos verblüfft. Im Verlauf der letzten 30 Jahre hatte ich ausgiebig Gelegenheit, zu ergründen, welche Motivation hinter einem solchen Entschluss stecken mag. Dabei bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es da mehrere Typen gibt.

Hier also mein Versuch einer Typenlehre der Alternativmediziner.

Der Enttäuschte

Die meisten von uns Ärzten nehmen die nicht unerheblichen Mühen eines Medizinstudiums auf uns, weil wir kranken Menschen helfen wollen. Während des Studiums steckt in fast allen von uns so etwas wie ein kleiner Albert Schweitzer. Leider leidet dieser oft arg und droht deshalb oft schon im Studium seinen Geist aufzugeben. In den ersten Jahren des Jungmedizinerdaseins wird das sogar noch schlimmer. Von wegen ‚Helfer der Menschheit'! Das schöne Ideal entpuppt sich als reine Maloche. Und kranken Menschen wirklich zu helfen, wird zur Seltenheit. Es fehlt die Zeit, die Empathie, die Ganzheitlichkeit - kurz, es fehlt an fast allem, was uns einstmals motiviert hat, diesen Beruf zu ergreifen.

In dieser Situation ändern dann einige Ärzte ihre Richtung und werden Alternativmediziner. Auf diese weise, so hoffen sie, können sie die verloren gegangenen Ideale wiederfinden. Sie nehmen sich so viel Zeit wie sie brauchen, um ihre Patienten zu verstehen. Sie speisen niemanden mehr nach ein paar Minuten mit einem Rezept ab. Sie verschreiben überhaupt keine nebenwirkungsbelasteten Medikamente. Sie empfehlen Homöopathie, Schuessler Salze und energetisches Heilen. Dass diese Therapien nicht wirken wissen sie vielleicht sogar, aber es ist ihnen egal. Sie betreiben vornehmlich eine sprechende Medizin. Das ist vielleicht nicht optimal, aber es ist aus ihrer Sicht besser als das, was sie in der Tretmühle der konventionellen Medizin tun sollten.

Der Gläubige

Für viele Menschen ist die Alternativmedizin weniger eine Heilkunde als eine Religion. Sie brauchen keine Evidenz, denn sie haben ja ihren Glauben. Ärzte sind da keine Ausnahme. Oft liegt hier der Ursprung in einer Art Epiphanie[1]. Ich kenne mehrere Ärzte, die selbst an einer chronischen Krankheit litten, und damit nach vielen frustranen konventionellen Versuchen, sie in den Griff zu bekommen, bei einem alternativen Behandler landeten. Dieser machte etwas Hokuspokus - und Schwupps, das Leiden war wie weggeblasen.

Als ich so um die 10 Jahre alt war, hatte ich eine recht lästige Warze, und meine Mutter brachte mich zu einem Geistheiler. Der machte ganz komische Sachen mit mir, und zwei Wochen drauf war die Warze weg. Später habe ich im Studium gelernt, dass Warzen das oft tun (vielleicht bin ich deswegen kein Geistheiler geworden?).

In anderen Fällen mag eine Erklärung für eine ‚wundersame Heilung' nicht so einfach zu finden sein. Und gelegentlich sind selbst gestandene Mediziner derart beeindruckt, dass sie eine totale Kehrtwendung machen und sich von der konventionellen Medizin abwenden. Schließlich kann man bekanntlich niemanden leichter an der Nase herum führen, als sich selbst.

Der Suchende

Der Suchende ist  ein enger Verwandter des o.g. ,Enttäuschten'. Er ist vielleicht nicht direkt enttäuscht von der modernen Medizin, er hat nur das brennende Bedürfnis, ihr etwas hinzu zu fügen. Er erkennt die zahlreichen Defizite der modernen Medizin und ist auf der Suche, nach etwas, das seine Heilkunde verbessern könnte. Bei dieser Suche stößt er auf bizarre Innovationen - die Auswahl ist ja enorm[2] - und denkt sich: „Das probiere ich mal." Und siehe da, es funktioniert!

Placebo Effekt? Na und wenn schon, Hauptsache es hilft! Schließlich gilt doch der Satz ‚Wer heilt hat Recht'. Der Gedanke, dass er auch Unrecht haben könnte und Opfer einer Selbsttäuschung wurde, kommt ihm nicht in den Sinn.

Der Oberschlaue

Als Medizinstudenten lernen wir von den Besten; viele unserer Professoren sind echte Koryphäen auf ihrem Gebiet. Dass sie uns etwas Wesentliches verheimlichen, ist da eher unwahrscheinlich. Zum Beispiel ist kaum anzunehmen, dass mir der Ophthalmologie Professor perfider weise verheimlicht hat, dass sich auf der Netzhaut des menschlichen Auges eine veritable Landkarte der Leiden eines Patienten offenbart.[3] Der oberschlaue Arzt traut aber ganz offensichtlich dieser Annahme nur bedingt. Er hört von einem Kollegen etwas über die ‚Irisdiagnostik', geht auf einen Wochenendkurs und stellt fest, dass die Methode gar nicht so dumm ist, wie viele meinen.

Der Oberschlaue ist ein Besserwisser ersten Ranges. Er geht davon aus, dass ihm auf der Uni vieles nicht beigebracht wurde, was doch so einfach und praktisch wär. Er ist zutiefst unkritisch und meint, dass ausgemachter Schwachsinn eine echte Bereicherung der Medizin darstellen könnte. Die Uni Professoren sind halt einfach viel zu konservativ; da muss man schon mal über den Tellerrand gucken und mitnehmen, was die Heilkundigen außerhalb der etablierten Medizin schon lange praktizieren. Der Oberschlaue besteht darauf, einen Kopf zu haben, der für alles offen ist und bedenkt nicht, dass sein Gehirn dabei in Gefahr ist herauszufallen.

Der Überwältigte

Als ich mein Medizinstudium abgeschlossen hatte, war meine erste Stelle in einem homöopathisch geführten Krankenhaus. Dort waren etwa 6 weitere junge Kollegen angestellt. Eine nachhaltige Erinnerung an einige dieser Kollegen ist der Eindruck, dass sie völlig überwältigt schienen von der Aufgabe, als Mediziner ihren Mann (oder ihre Frau) zu stehen. Ich erinnere mich an einen, der, wenn er diagnostisch nicht mehr weiter wusste, die Diagnosen seiner Patienten auspendelte.[4] Die Ursachen, Mechanismen und Behandlungen vieler Erkrankungen sind nun einmal teuflisch komplex. Das scheint einigen Ärzten einfach alles etwas zu viel zu sein.

Was bietet sich da mehr an, als eine Richtung einzuschlagen, bei der man (fast) all diese hoch-komplizierten Zusammenhänge hinter sich lassen kann? In der Homöopathie gibt es nur eine einzige einheitliche Ursache von Krankheiten und geheilt wird mit dem Similimum.  In der Akupunktur ist jede Erkrankung durch ein Ungleichgewicht der zwei Lebensenergien bedingt, und die Behandlung besteht immer daraus, dem Patienten eine Nadel in die Haut zu stecken. Das ist zumindest klar und übersichtlich! Da kann einem die konventionelle Medizin doch gerne gestohlen bleiben.

Der Verschwörungstheoretiker

Wir leben in einer Zeit, in der Verschwörungstheoretiker Hochkonjunktur haben. Auch die Medizin ist an dieser Entwicklung nicht unbeteiligt vorüber gegangen. So kommt es, dass heute zahlreiche Mediziner überzeugt sind, dass finstere Mächte am Werk sind, um uns alle kranker, abhängiger oder willfähriger zu machen.

Der Verschwörungstheoretiker unter den Ärzten meint z.B., dass die Pharma Industrie ausschließlich auf Profit aus ist und selbst nicht davor zurück scheut, die Bevölkerung mittels Impfstoffen und anderen Chemikalien zu dezimieren. Dem verschwörungstheoretischen Arzt bleibt somit keine  Wahl; er muss sich aus dieser Pharma Medizin möglichst lautstark zurück ziehen und der Alternativmedizin zuwenden.

Der Finanzexperte

Viele Skeptiker meinen, dass dieser Typus unter den Alternativmedizinern vorherrscht; aber vielleicht ist das ja nur üble Nachrede. Wie dem auch sei, der Finanzexperte betreibt Alternativmedizin vor allem deshalb, weil sie ordentlich Kohle bringt. Beispielsweise bekommt gemäß Selektivvertrag ein Hausarzt 4,36 Euro für die Erhebung einer konventionellen Anamnese. Wenn er dagegen ein Homöopath ist und eine homöopathische Erstanamnese erhebt, bekommt er dafür 120 Euro. Das lohnt sich doch!

Der Finanzexperte unter den Ärzten hat sich das alles sehr genau durchgerechnet und ist zu dem Schluss gekommen, dass

  • die Nachfrage nach Alternativmedizin enorm ist,
  • die Ansprüche, die in der Alternativmedizin an sein Wissen und Können gestellt werden vergleichsweise gering sind
  • das Einkommen hervorragend ist.

Also wird er Alternativmediziner und propagiert, dass seine Methoden natürlich, nebenwirkungsfrei, althergebracht, ganzheitlich, entschlackend und was immer sonst noch sind. Dass er das alles selber nicht glaubt, merkt niemand, denn der Finanzexperte ist zudem ein hervorragender Schauspieler.

Fazit

Es wäre naiv anzunehmen, dass sich diese Typen von Alternativmedizinern klar und eindeutig differenzieren lassen. In Wahrheit gibt es  jede Menge Überlappungen und Mischformen. Die hier bewusst satirisch überzeichneten Typen existieren in Reinform wohl eher selten.

Es stellt sich natürlich auch die Frage, ob es Gemeinsamkeiten gibt. Existieren Charakteristika, die bei allen Alternativmedizinern feststellbar sind? Vielleicht nicht bei allen, aber überzufällig häufig findet man meiner Erfahrung nach folgende Eigenschaften:

  • Die Unfähigkeit kritisch zu denken.
  • Die Unterbewertung der wissenschaftlichen Evidenz.
  • Die Vernachlässigung der medizinischen Ethik.

  1. The ‘homeopathic epiphany’ and its role in creating true believers (edzardernst.com) ↩︎

  2. Heilung oder Humbug?: 150 alternativmedizinische Verfahren von Akupunktur bis Yoga - Ernst, Edzard - Amazon.de: Bücher ↩︎

  3. Ernst E. Iridology: A systematic review. Forsch Komplementarmed. 1999 Feb;6(1):7-9. doi: 10.1159/000021201. PMID: 10213874. ↩︎

  4. Nazis, Nadeln und Intrigen: Erinnerungen eines Skeptikers eBook : Ernst, Edzard: Amazon.de: Kindle-Shop ↩︎

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