(Anmerkung: dieser Beitrag ist so anders geworden, als ich es geplant hatte. Ich weine gerade und spüre in mir die kollektive , vergrabene Trauer, die heute immer noch unter verbissenen Diskussionen und Streit, der aber nichts Tiefes an sich heranlässt, verborgen ist. Die heutige Stimmung in Deutschland ist immer noch Auswirkung unserer inneren Zeitkapsel, die über die Generationen wirkt. Ich glaube, wenn wir alle nur mal über das viele Leid weinen würden, würde so viel heilen. Und Mitgefühl mit unseren Ahnen und Verzeihen würden helfen.)

Dies hier handelt von Kindern, die in eine Sekte hineingeboren wurden.


Ich weiß nicht, ob es Menschen gibt, die kalt und hartherzig geboren werden.

Aber ich bin mir sicher, dass Menschen so werden.

Als ich klein war, gab es viele solche Menschen.

Es waren die, die die ihre "Kindheit" im Krieg gelebt hatten. Meine Mutter war so ein Mensch.

Sie hat nicht viel darüber gesprochen, nur manchmal fiel ein Satz.

Die meisten dieser Kinder haben (wenn sie nicht als Jugendliche in den Krieg geschickt wurden) eine Zeit lang jede Nacht Luftalarm erlebt.

Sie mussten in den Keller und die Nacht dort verbringen. Und, sie mussten sich ihre Emotionen abgewöhnen, ihre Angst, ihre Sorgen.

Sie mussten sich Fragen abgewöhnen, Schmerzen, Müdigkeit.

Und den Hunger.

Alles, was sie fühlten, mussten sie in einer tiefen Kapsel in ihrem Inneren vergraben.

Ihre Erwachsenen litten und starben. Die Kinder durften nicht groß weinen, denn das wäre lästig und manchmal sogar gefährlich gewesen.

Man musste funktionieren.

Viele dieser Kinder haben zerfetzte Leichen gesehen und ihre Spielkameraden oder Geschwister verloren.

(So sah es dann mal auf der Straße aus, mitten in der Stadt)

Und ihre Väter oder Verwandten sind im Krieg gefallen.

Viele dieser Kinder sind in den Krieg geschickt worden, als "Kanonenfutter".

(deutscher Soldat, 1945)

Die Kinder, die dafür zu klein waren, mussten funktionieren und oft sogar Essen "besorgen".

Viele verloren ihr Zuhause und alles, was sie besaßen, ihre Tagebücher oder die Puppe.

Klagen ging nicht.

Sie waren aufgewachsen damit, dass das alles für ihr Volk und ihren Führer geschah. Etwas anderes kannten sie nicht.

Es war der einzige Sinn, den sie dem Ganzen geben konnten.

Dann ging der Krieg vorbei. Alles kaputt. So viele tot. Das, was sie kannten und lieben gelernt hatten, gab es nicht mehr.

Viele waren in der Hitlerjugend gewesen, als das noch ging.

Sie hatten es geliebt, denn es gab ihnen Gemeinschaft und Wert.

Nun war all das, was sie kannten, schlecht.

All das schreckliche Leiden war völlig sinnlos gewesen.

Die Mütter arbeiteten hart, um die Familie irgendwie durchzukriegen. Sie waren hart und verhärmt. Ein großer Anteil von ihnen war vergewaltigt worden.

Sie klagten nicht, denn sie mussten ihre Kinder durchbringen. Alle hungerten.

Die Kinder, die nun Heranwachsende waren, wurden in Kinos geschickt, wo man ihnen zeigte, was das, was sie gekannt und geliebt hatten, wovon sie ein Teil gewesen waren, auch gewesen war.

Mord, Grausamkeit.

Man zeigte ihnen die Lager und Filme mit ausgemergelten Menschen und Leichenbergen.

(hier ein Bild, wo man das den Erwachsenen zeigt)

(hier sind auch Kinder)

Sie durften nicht klagen.

Sie waren schuldig. Alles was sie erlebt hatten, war ihre Schuld, so sagte man ihnen.

Wenn sie hungerten und vergewaltigt wurden, war es ihre Schuld.

Sie waren die schlechtesten Menschen der Welt.

Haben sie dir davon erzählt?

Junge Männer, die als Kinder in den Krieg gezogen waren, kamen zurück.

Als ich Kind war, waren sie schon älter. Man sprach nicht viel darüber, aber ich hörte manche Männer immer über den Krieg reden.

Sie hatten oft Arm-Oder Beinstümpfe.

Auch sie waren schuldig.

Diese Leute mussten alle sehen, wie sie durchkamen.

Sie waren wie Kinder, die in einer Sekte aufgewachsen waren, nichts anderes kennen, dann rausgeworfen werden und auch noch daran schuld sein sollen.

Peter Weber schreibt für die schwedische Zeitung:

"Die Deutschen schleppten sich wie im Halbschlaf, gebrochen, die Straßen entlang. Doch sie sind sprungbereit, wenn die fremden Herrschaften einen Zigarettenstummel wegwerfen. In den Mülltonnen der Gäste wühlen sie nach Apfelsinen- und Grapefruitschalen, Kartoffelschalen, Rest von noch abzunagenden Knochen und Sardinenbüchsen. Es scheint, als gäbe es in der ganzen Bevölkerung kein Liebespaar. "

Und Leute wie ich und andere auf Quora waren deren Kinder.

Viele von uns wurden so schlimm geschlagen. Viele von uns hatten psychische Störungen.

Meine Mutter war knallhart. Wenn ich weinte, sagte sie oft: "ich knall dir eine, dann weisst du, warum du heulst.".

Auf meiner großen Schwester zerschlug sie Holzlöffel und Holzkleiderbügel.

Wir mussten immer alles aufessen. Auch wenn wir es schon erbrochen hatten.

Ich durfte nie über Schmerzen klagen oder traurig sein. Ich durfte nicht zu Hause sein, wenn ich krank war. Ich musste funktionieren, so, wie sie es anders nicht gekannt hatte.

Es waren so viele so harte Menschen, als ich klein war.

Wir machten ihnen Vorwürfe. Viele aus meiner Generation waren verfeindet mit den eigenen Eltern.

Aber ich glaube, wenn die ihren Schmerz gefühlt hätten, hätte nichts mehr funktioniert. Sie mussten sich verkapseln.

Härte und Gefühllosigkeit ist meist Trauma.

Ich habe es, als zweite Generation auch erlebt. Ich habe nie Angst gespürt, bis zu einem psychischen Zusammenbruch. Danach hatte ich jahrelang Angstzustände und holte das nach.

Der Ort, wo unsere Liebe und unser Mitgefühl ist, dort ist auch unsere Trauer und unsere Wut.

Trauer und Wut wickeln die Liebe ein.

Und Gefühllosigkeit und Härte sind die Kapsel für all das.

Das Öffnen dieser Kapsel und das Auspacken der Liebe sind unsere Lebensaufgabe.

Es braucht Todesmut, aber es lohnt sich.

Falls du mehr wissen willst, hier:

Schau dir den Blick des Jungen rechts an.

Der hat ALLES gesehen.


Grafiken

Von Bundesarchiv, Bild 146-1981-157-29 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, File:Bundesarchiv Bild 146-1981-157-29, Bombenopfer.jpg

Dir gefällt, was Luise schreibt?

Dann unterstütze Luise jetzt direkt: