Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erwartete die Welt, dass ein Exempel statuiert würde. Es waren einfach zu viele Untaten ans Licht gekommen.
Zwischen 1945 und 1949 mussten sich mehr als 100 Nazis vor Gericht verantworten. Als Gerichtsstandort hatte man Nürnberg wegen seiner symbolträchtigen Bedeutung gewählt: hier hatten viele Aufmärsche der Nationalsozialisten stattgefunden.
Bei den Prozessen wurde eine Unmenge an grafischen Darstellungen, Fotos und Zeugnissen der von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen gezeigt.
Aber viele der Angeklagten versuchten, sich herauszureden:
"Ich habe doch nur Befehle befolgt".
Unter den Angeklagten befand sich eine Gruppe, die als "Nürnberg 21" bezeichnet wurde.
Es handelte sich um die allerhöchsten Nazi-Funktionäre.
Man setzte alles daran, vor den Prozessen gegen diese Männer von ihnen psychologische Gutachten zu erstellen.
Die wissenschaftliche Gemeinschaft wollte einfach verstehen, was einen Menschen zu solch grausamen Taten veranlassen konnte. Hier stellte sich das Wesen des Menschen in Frage. Das Konzept von Gut und Böse.
Ein erfahrener und sehr renommierter Psychiater, Dr. Kelley, und ein bekannter Psychologe, Dr. Gilbert, führten für diese Tests eine Reihe von Interviews mit den einzelnen Angeklagten durch.
Dr. Kelley sah als selbst hochbegabter die Tests mit kühler, intellektueller Neugier.
Gilbert war ebenfalls ein hochintelligenter Mann mit jüdischen Wurzeln, aber er machte aus seiner Abneigung den Nazigrößen gegenüber keinen Hehl.
Das betraf vor allem Julius Streicher.
Streicher war abgrundtief antisemitisch eingestellt; er war immer einer der lautesten und kompromisslosesten Befürworter des Völkermords gewesen.
Dass er am Strang enden würde, hatte er wohl verdient.
Alles in allem kamen beide Ärzte zu relativ ähnlichen Schlussfolgerungen hinsichtlich der einundzwanzig Persönlichkeiten.
Sie attestierten ihnen zwar durchwegs Zurechnungsfähigkeit, stellten aber schwere charakterliche Abweichungen und Abnormitäten fest.
Dr. Kelly schrieb: "Das sind alles starke, dominante, aggressive, egozentrische Persönlichkeiten. Ihre Gewissenlosigkeit zieht sich durch ihr ganzes Leben.
Man findet Leute wie sie überall im Land hinter großen Schreibtischen, an denen über das Schicksal ihrer Nationen entschieden wird."
Dr. Gilbert berichtete: "Sie sind rücksichtslos aggressiv, gefühllos - und das alles hinter einer Fassade äußerster Liebenswürdigkeit. Es sind narzisstische Soziopathen."
Der erste Test, den sie durchführten, war der sogenannte Rorschach-Test.
Hier sehen wir die Karte Nr. 2, die den Gefangenen vorgelegt wurde.
Sie wurden dann gebeten, zu beschreiben, was sie darauf sahen.
Frank (ein schon älterer Nationalsozialist):
"Das sind meine Lieblingsbären. Sie halten eine Flasche.
Eine wunderschöne Primaballerina, die in weißen Kleidern tanzt, wobei rotes Licht von unten hoch leuchtet"
Rudolf Hess (Stellvertreter des Führers):
"Zwei Männer reden über ein Verbrechen. Sie sind aufgeregt; ihre Köpfe sind rot."
Hermann Göring (Nach Hitlers die Nr. 2), lachend:
"Das sind zwei tanzende Figuren, ganz klar, Schulter und Gesicht dort, klatschende Hände. Oben rot sind Kopf und Hut; das Gesicht ist teilweise weiß."
Die Ärzte stellten fest, dass die Männer zwar alle charakterlich ähnlich veranlagt waren; dennoch waren die Unterschiede zwischen ihnen groß.
Im Rahmen der Analyse wurde auch schwierige philosophische Fragen gestellt.
Dabei zeigte sich, wie viele Abstufungen Moralvorstellungen und Werte haben können - sie passen nicht in ein einfaches schwarz-weiß-Konzept. Der Charakter wird auch von den Umständen geprägt.
Als nächstes unterzog man die Gefangenen einem IQ-Test.
Das ist bei zum Tode verurteilten gar nicht so ungewöhnlich, aber in der Regel macht man einen solchen Test, um eine mögliche geistige Behinderung festzustellen, die einer Hinrichtung entgegenstehen würde.
Ob sie nun "böse" waren oder nicht; es steht außer Frage, dass die Nazi-Funktionäre keine Dummköpfe waren.
Das eigentlich faszinierende an dem Test ist, dass es der einzige in der Weltgeschichte war, bei dem eine komplette Regierungsführung untersucht wurde.
Alle Testpersonen wiesen überdurchschnittlich hohe IQ's auf, manche von ihnen hatten sogar außerordentlich hohe Werte.
Der Durchschnitt aller 21 untersuchten Nazi-Größen lag bei 128; das sind fast zwei Standardabweichungen höher als der Durchschnitt, der bei 100 liegt.
Die Ironie in der Geschichte liegt darin, dass eben diese Nationalsozialisten IQ-Tests benutzt hatten, um fast eine halbe Million Menschen zu töten und zu sterilisieren. Und die von ihnen nun erzielten hohen Punktzahlen bewirkten, dass sich ihr Ego in ihren letzten Stunden noch weiter aufblähte.
Die drei folgenden wiesen die höchsten IQ-Werte auf:
Hermann Göring, nach Hitler der "zweite Befehlshaber".
Er war äußerst charismatisch und es fiel ihm leicht, die Menschen in seinem Umfeld zu manipulieren.
Das tat er auch während seiner Inhaftierung, wo er Mitgefangene und Wärter beeinflusste. Schließlich musste man ihn deswegen in einen anderen Zellentrakt verlegen.
Zwei Stunden, bevor er aufgehängt werden sollte, beging er Selbstmord.
Er schluckte eine Zyankalikapsel. Woher er die hatte, ist bis heute nicht genau geklärt. Man vermutet, er habe einen seiner Wärter dazu gebracht, sie ihm zu geben.
Göring erzielte beim IQ-Test einen Wert von 138.
Arthur Seyss-Inquart war von den Nationalsozialisten als Kanzler der Niederlande eingesetzt worden.
Er war verantwortlich für die Deportation und Ermordung von Zehntausenden von Juden.
Deswegen wurde er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und verurteilt.
Er wurde im Jahr 1946 hingerichtet.
Er erzielte 141 Punkte.
Hjalmar Schacht erzielte von allen getesteten Personen die höchste Punktzahl.
Aber sein Werdegang unterschied sich von dem der anderen Angeklagten.
Er war Wirtschaftsminister gewesen und hatte eine Schlüsselstellung bei der massiven Expansion der deutschen Wirtschaft inne gehabt.
Im Jahr 1939 hatte er jedoch einen Streit mit Hitler und Göring gehabt, weil er mit ihrer Politik und dem ganzen Nazi-Regime nicht einverstanden war.
Deswegen und weil er in Attentatsversuche auf Hitler beteiligt gewesen war, wurde er verhaftet und verschwand für einige Jahre im einem Konzentrationslager.
Er war sehr wütend, weil auch er in Nürnberg vor Gericht gestellt wurde, obwohl er doch ein lautstarker Kritiker der Nationalsozialisten gewesen war.
Schließlich konnte er seine Unschuld beweisen und man sprach ihn frei.
Er hatte einen IQ von 143.
Hier eine Zusammenstellung der erzielten IQ-Werte aller 21 Testpersonen:
Schacht, Hjalmar 143
Seyss-Inquart, Arthur 141
Dönitz, Karl 138
Göring, Hermann 138
Papen, Franz von 134
Raeder, Erich 134
Frank, Hans 130
Fritzsche, Hans 130
Schirach, Baldur von 130
Keitel, Wilhelm 129
Ribbentrop, Joachim von 129
Speer, Albert 128
Jodl, Alfred 127
Rosenberg, Alfred 127
Neurath, Konstantin von 125
Frick, Wilhelm 124
Funk, Walther 124
Hess, Rudolf 120
Sauckel, Fritz 118
Kaltenbrunner, Ernst 113
Streicher, Julius 106
Das zeigt, wie gefährlich ein Kollektiv hochintelligenter und hochmotivierter Menschen werden kann.
Die medizinischen Tests ergaben keinerlei Abnormitäten oder Geisteskrankheiten.
Diese Männer waren fehlbar, sie hatten ein riesiges Ego und praktisch keinerlei Empathie. Und sie gerieten in einen Strudel von Ereignissen, die ihre schlechten Eigenschaften zum Vorschein brachten und sie aufblühen ließen.
Ihre Herzen und ihre Gedanken verfinsterten sich und das führte zu all dem Elend und Leid, das das Nazi-Regime mit sich brachte.
Um es mit den Worten von Hannah Arendt zu sagen:
"Die traurige Wahrheit ist, dass das meiste Böse von Menschen getan wird, die sich nicht entscheiden können, ob sie nun gut oder böse sind."
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