Berlin/Kiew - Der Terrorismus- und Sicherheitsexperte Malte Roschinski hält das Sicherheitsrisiko bei der Kiew-Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) insgesamt für überschaubar, sieht aber einzelne Gefahrenstellen. Zwar seien Reisen in Kriegsgebiete "immer mit einem gewissen Risiko behaftet", vor allem die Zugfahrt sei gefährlich gewesen, aber er gehe davon aus, dass es Abstimmungen mit der russischen Seite geben habe und Moskau auch aus politischen Gründen wohl eher keine militärischen Zwischenfälle provozieren wolle, sagte Roschinski im Fernsehsender "Welt".
"Aufgrund der hohen politischen Bedeutung ist es natürlich auch sehr riskant für Russland, wenn jetzt hier irgendwelche Experimente gestartet würden. Das hätte einen sehr sehr hohen politischen Preis." Konkrete Sicherheitsabsprachen mit der russischen Seite hält Roschinski zwar für unwahrscheinlich, aber informelle Abstimmungen werde es wohl gegeben haben: "Es gibt, glaube ich, keine richtigen Absprachen, weil man natürlich den Eindruck vermeiden muss, dass man sich anmeldet in Moskau, wenn man als Politiker nach Kiew fahren möchte. Und diesen Eindruck möchte sicherlich niemand der europäischen Regierungschefs, oder der EU zum Beispiel, erwecken. (...) Es wird aber sicherlich, irgendwie im Hintergrund, informelle Abstimmungen gegeben haben, es wird Signale gegeben haben, vielleicht so eine Art Warnung, dass man da in dieser Zeit möglichst nichts unternehmen soll von russischer Seite aus. Und ich denke, das verstehen die Russen auch. Aber die Sicherheitsabsprachen finden natürlich vor allem zwischen den Delegationen statt und mit der ukrainischen Seite und auch mit anderen beteiligten Akteuren vor Ort."
Es gebe vor Ort sehr viele erkennbare und verdeckte Personenschützer aus allen Bereichen und Nationalitäten, erklärt Roschinski: "Bei Scholz selbst gibt es natürlich das unmittelbare Team. Dann ist mit dabei auch eine Einheit, die es seit einigen Jahren gibt, die Auslandsspezialeinheit des BKA, die speziell ausgebildet ist, um Politiker in diese Kriegs- und Risikogebiete zu begleiten. Die sind sicherlich auch jetzt vor Ort konkret, man sieht sie wahrscheinlich im Bild, ohne sie identifizieren zu können. Dazu gibt es eben auch noch die örtlichen Sicherheitskräfte, also die Ukrainer selbst haben natürlich auch ihre spezialisierten Personenschützer dort eben mit hingeschickt, weil denen eben auch ganz wichtig ist, dass natürlich die Gäste da unbeschadet rauskommen. Also sie haben hier mehrere Dutzend aktive Personenschützer, die jetzt hier gerade im unmittelbaren Umfeld sind. Mit ein Schutz ist natürlich die Informationssicherheit. Das heißt, dass man hier ebendiese Überraschungen macht. Das ist also nicht groß vorgeplant. Das heißt, mögliche Gegner - das muss ja nicht nur die russische Armee sein - können sich hier nicht konkret darauf einstellen, wann, wo, diese Schutzpersonen sind."
Ein vergleichsweise großes Risiko habe die gemeinsame Zugfahrt dargestellt, so Roschinski - das habe man aber auch versucht, zu minimieren: "Dort sind die Delegationen weitestmöglich auseinandergehalten worden: Draghi an der Spitze des Waggons, in der Mitte Macron, wenn ich richtig informiert bin, und im hinteren Zugteil Scholz. Wenn das also irgendwie zu einem Zwischenfall gekommen wäre, dass dort zumindest die Verletzungen oder die Vulnerabilität begrenzt wird. (...) Natürlich ist es ein Problem, wenn man über 10 Stunden, 11 Stunden, sich auf einer festgelegten unveränderlichen Route befindet, wo jeder im Prinzip das weiß und verfolgen kann. Das ist immer ein Problem und das mögen natürlich die Sicherheitsteams überhaupt nicht. Natürlich ist so eine Situation gewissermaßen riskant, da ist einfach ein hohes potenzielles Risiko dabei."
Der kurze Abstecher nach Irpin hingegen habe kein erhöhtes Risiko dargestellt, findet Roschinski: "Das ist ja in der Umgebung auch von Kiew. Das heißt, in diesem Bereich gibt es eigentlich keine Bedrohung mehr durch die russische Armee selbst. Was immer möglich ist, sind Angriffe durch die Luft, durch Marschflugkörper oder Raketen, zum Beispiel, aber das Risiko ist dort in Irpin oder auch in Butscha oder sonst wo in der Umgebung von Kiew, eigentlich, rein militärisch gesehen, genauso hoch wie in Kiew."
Foto: Olaf Scholz (über dts Nachrichtenagentur)Dir gefällt, was dts Nachrichtenagentur schreibt?
Dann unterstütze dts Nachrichtenagentur jetzt direkt: