Brüssel - Die Entscheidung der Europäischen Kommission, wegen eines umstrittenen Grundsatzurteils des Bundesverfassungsgerichts ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, ist auf teils heftige Kritik gestoßen. "Damit stellt die Kommission die ultimative Rechts- und Machtfrage in der EU", kritisierte der Ökonom Bernd Lucke, der die Karlsruher Entscheidung vor rund einem Jahr zum Anleihenkaufprogramm PSPP mit erstritten hat, der FAZ (Donnerstagausgabe).

"Sie will durchsetzen, dass auch der schutzwürdigste Identitätskern der nationalen Verfassungen vom EU-Recht überlagert wird. Damit provoziert die Kommission enorme Konflikte in der EU, weil sie ihre souveränen Mitgliedsstaaten wie nachgeordnete Gliedstaaten behandelt." Auch der ehemalige CSU-Politiker und Kläger Peter Gauweiler pocht darauf, dass sich Deutschland die Möglichkeit des Eingreifens in extremen Ausnahmefällen bewahrt. Das Bundesverfassungsgericht erkennt den Vorrang des Europäischen Rechts zwar grundsätzlich an, allerdings nur, solange die Entscheidungen von EU-Organen nicht fundamentalen deutschen Verfassungsgrundsätzen wie dem Demokratieprinzip widersprechen.

Ist dies der Fall, liege ein "ausbrechender Rechtsakt" ("ultra vires") vor, das dem Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit eröffnet, einzugreifen, wie es heißt. Juristen sprechen hier deshalb von einer "Ultra-Vires-Kontrolle", die das Bundesverfassungsgericht im vergangenen Jahr erstmals dazu brachte, dem Europäischen Gerichtshof zu widersprechen. Damit stellten die Karlsruher Richter die Kompetenz der Luxemburger Kollegen in Frage, denn die haben in der Auslegung europäischer Normen eigentlich das letzte Wort. Gauweiler bekräftige nun: "Das Ultra-Vires-Prinzip ist geltendes Verfassungsrecht, das nicht Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens sein kann", sagte er der FAZ. Alle EU-Vertragsstaaten wüssten, dass Deutschland ohne Beachtung dieses Prinzips dem Lissabon-Vertrag niemals zugestimmt hätte.

"Dass EU-Organe nur innerhalb ihrer Kompetenzen handeln und nicht von Brüssel aus verschoben werden dürfen, war bisher Geschäftsgrundlage der Verträge", sagte Gauweiler. Das Vertragsverletzungsverfahren bezeichnete er als einen "absurden Vorgang" - das Verfahren wolle eines der Fundamentalprinzipien der EU außer Kraft setzen. "Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Die EU-Kommission schadet sich damit selbst, weil sie durch diese Missachtung der Volkssouveränität ihrer Mitgliedsstaaten und des Demokratieprinzips die Zweifel an ihrer eigenen Vertragstreue weiter stärkt."

Foto: EU-Kommission in Brüssel (über dts Nachrichtenagentur)

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