München - Der Münchner Philosoph Julian Nida-Rümelin findet "gezielte Impfpflichten" für berufliche Tätigkeiten, bei denen man in engem Kontakt mit Hochvulnerablen ist, gerechtfertigt. Das gelte auch für "Impfpflichten für besonders Gefährdete, wenn das nötig ist, um Triage-Situationen in den Kliniken zu vermeiden", sagte er dem Focus.

Das sage er aber ausdrücklich als Risiko-Ethiker, nicht in seiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrates. Generell gehe es "um eine Balance zwischen Individualrechten und kollektivem, solidarischen Gesundheitsschutz". Zwar könne es nicht sein, "dass wir unseren Gesundheitsschutz ausschließlich in die Hände des Staates legen". Aber wenn er nun allen ein Impfangebot mache, "sehe ich das durchaus als `Game Changer`", so Nida-Rümelin, der in der Ära von Bundeskanzler Gerhard Schröder auch als Kulturstaatsminister tätig war.

"Der Staat hat prinzipiell keine Verpflichtung, die Menschen vor sich selbst zu schützen." Man sei jetzt aber "an einem Punkt angekommen, wo klar wird, dass die freie Entscheidung aller offensichtlich nicht ausreicht, die nötige Sicherheit zu gewährleisten". Da scheine es nur noch die Option zu geben, den Druck auf die Ungeimpften immer weiter zu erhöhen, auch wenn das "zugleich einen neuen und wachsenden Anti-Impf-Heroismus befeuert". Für die aktuell dramatische Corona-Lage macht Nida-Rümelin "mehrere Faktoren" verantwortlich: "Eine zu niedrige Impfquote, den Rückgang der Immunisierungs-Wirkung, der sich doch schneller entwickelt hat als erwartet, die Impfdurchbrüche bei Hochaltrigen und Vorerkrankten."

Es sei "eindeutig", dass letztlich wieder die gleichen Bevölkerungsgruppen bedroht sind: die älteren Jahrgänge und die Risikogruppen. "Es ist bislang noch immer nicht gelungen, diese vulnerablen Gruppen verlässlich zu schützen." Auch die Impfdurchbrüche erlebe man wieder überwiegend bei den besonders Alten. "Das Durchschnittsalter der Verstorbenen liegt wieder bei rund 80 Jahren", so der Philosoph.

Nida-Rümelin weiter: "Wenn alle Über-60-Jährigen geimpft wären und nach fünf Monaten eine Booster-Impfung bekommen hätten, hätten wir eine völlig andere, weitgehend entspannte Lage. So sieht unsere Realität aber momentan nicht aus, wenngleich wir beachtliche Impfquoten haben." Er mahnte zugleich, dass man in den vergangenen zwölf Monaten mehr Intensivbetten verloren habe, als momentan durch Covid-Patienten belegt sind. "Das wiederum hatte damit zu tun, dass viele Fachkräfte ihre Pflegejobs aufgegeben haben. Sicher auch wegen der schlechten Bezahlung."

Seine Empfehlung: "Die wachsenden Lücken hätte man mit Prämien oder gezielten Anwerbeaktionen schließen müssen. Stattdessen ist man da sehenden Auges in eine massive Verknappung des Angebots mitten in einer Gesundheitskrise reingelaufen."

Foto: Werbung für Impfkampagne (über dts Nachrichtenagentur)

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