Am Donnerstagmorgen setzte der russische Präsident seine Drohungen in die Tat um und ordnete eine Invasion der Ukraine an. Obwohl sich das seit einigen Wochen andeutete, kam dieser Akt der Aggression für weite Teile der deutschen Öffentlichkeit völlig überraschend. Der Schockmoment führt augenscheinlich gar ein spektakuläres Umdenken in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik herbei. Warum diese Entwicklung zu begrüßen ist, aber eigentlich viel zu spät kommt.
Die „Stunde Null“, die eigentlich keine ist
Die deutsche Öffentlichkeit reagierte entsetzt auf den am frühen Donnerstagmorgen begonnenen Krieg Russlands gegen seinen südwestlichen Nachbarstaat. Die bis noch zu Beginn der Woche von bekannten Russlandapologeten und Putinfreunden wie Sahra Wagenknecht oder Gabriele Krone-Schmalz getätigten Feststellungen, Putin habe ja gar kein Interesse an einer Invasion der Ukraine, waren allesamt von jetzt auf gleich hinweggefegt worden. Dieser „Wendepunkt“ ist genau genommen aber gar keiner. Renommierte Experten für Außen- und Sicherheitspolitik warnen seit Jahren vor einem entgrenzten russischen Großmachtstreben und den Zielen Putins. Dieser steht nicht – wie häufig fälschlicherweise propagiert – in der Tradition der Sowjetunion, sondern vielmehr in jener des Zarenreiches, dessen Geschichte vor über 100 Jahren sein abruptes Ende fand.
Auf eine vertiefte Analyse aller innen- und außenpolitischen Faktoren (Demographie, Energie, Aufstieg Chinas, innenpolitischer Erwartungsdruck) mag hier zwar verzichtet werden, fest steht allerdings eines: Der auch in Deutschland gern repetierte Verweis auf eine angebliche „Bedrohung“ durch die NATO-Osterweiterung oder russische „Sicherheitsinteressen“ sind nur eine Begründungsfassade. In Wahrheit träumt Putin von einer Restauration der Größe des Zarenreichs und betreibt eine radikalrevisionistische Außenpolitik auf Kosten seiner Nachbarstaaten. Dies demonstrierte der Proponent einer eher eigentümlichen geschichtswissenschaftlichen Betrachtung der geographischen Umgebung Russlands nicht nur in seiner Fernsehansprache wenige Tage vor Kriegsbeginn deutlich, sondern bereits in einigen Publikationen, die vor Jahren erschienen waren. Putin stellt die Staatlichkeit der Ukraine, ja sogar ihre Berechtigung, als Nation zu existieren, radikal in Frage und stößt dabei auf eine Betonwand aus sich seit Unabhängigkeit der jungen Nation weiterentwickelten nationalen und emanzipatorischen Aspirationen.
Gewiss ist die ukrainische Geschichte eng mit der russischen verwoben – ebenso, wie die französische eng mit der deutschen verbunden ist – aber niemand stellt ernsthaft in Frage, dass die Ukrainer eine eigene kulturelle, linguistische und damit letztlich auch nationale Identität besitzen. Besonders bizarr wurde die Argumention aus dem Kreml, als man dem Land mit einem jüdischen Präsidenten aus dem russischsprachigen Teil der Ukraine, der in seinen ersten Lebensjahren selbst nur Russisch sprach, vorwarf, von „Nazis und Drogenabhängigen“ geführt zu werden, die einen „Völkermord“ an der russophonen Bevölkerung in der Ostukraine verüben. Dieser absurde Vorwurf stammt wohlgemerkt aus dem Mund eines Präsidenten, der dem Faschismus selbst mindestens drei Erddurchmesser näher steht als der erst 2019 gewählte Wolodymymr Selenskyj.
Putins deutsche Schoßhündchen
Eines ist jedoch mehr als sicher: Die auf Appeasement setzende deutsche Russlandpolitik der vergangenen Jahre ist – im wahrsten Sinne des Wortes – krachend gescheitert. Lange Zeit setzte man auf in eigener Diktion auf „Verständnis und Diplomatie“ und verzieh dem „Freund“ im Osten dabei jeden Fehltritt und jede Zurschaustellung der eigenen bösen Absichten. Ob man nun auf Mordanschläge auf oppositionelle Politiker, Attentate auf offener Straße, Maßnahmen gegen kritische Journalisten, homofeindliche Politik, den völkerrechtswidrigen Krieg gegen Georgien, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim oder den vom Kreml angezettelten und befeuerten Krieg im Donbas verweist – die Liste ist lang. Die Chefarchitektin dieser Politik befindet sich seit einigen Monaten im Ruhestand, einer ihrer Architekten weilt im Schloss Bellevue. So viel sei an dieser Stelle nur gesagt.
Das Unterstützernetzwerk für Russland ist an den gegenüber der Systemfrage aufgeschlossenen politischen Rändern besonders einflussreich, wenn auch aus teilweise unterschiedlichen Gründen. Bei der Linkspartei dominiert naiver Pazifismus und ein realitätsfernes Bild von Weltpolitik, mischt sich gleichwohl oft mit atavistischer Kadertreue zu Moskau; bei der AfD trifft man bedingt durch die feste Verwurzelung der Partei in Ostdeutschland zwar auch auf letzteres, dominierend ist wohl aber die Faszination für einen autoritären und illiberalen Führungsstil, den man hierzulande vermisst. Der außenpolitische Zirkus der Ex-SED ist zugleich besonders widersprüchlich, unterstützt man doch einen autoritären Präsidenten mit rechtsgerichteter Innenpolitik und neoimperialistischer Außenpolitik. Wenngleich sich in den Reihen der Linkspartei ein gewisses Maß an Einsicht bemerkbar macht, ändert sich an diesem sehr grundsätzlichen Befund nichts. Das deutsche Kreml-Hufeisen ist noch immer ein treuer Vasall Moskaus.
Das weit verbreitete historische Argument geht ebenso fehl, müsste man als Deutscher doch gegenüber etwa Weißrussland oder eben der Ukraine als ehemalige Durchmarschgebiete und Schauplätze beispielloser Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Zweiten Weltkriegs eine ähnliche „historische Verantwortung“ haben – beide Staaten kommen in der deutschen Erinnerungskultur jedoch praktisch nicht vor. Über allem stehen die lukrativen Geschäftsverbindungen, die große Segmente der deutschen Elite nach Russland pflegen. Das prominenteste Beispiel stellt hier der ostwestfälische Fleischmagnat und ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende des FC Schalke 04 dar, Clemens Tönnies. Das ist jedoch kein Einzelfall. Bedeutende Teile der Unternehmerschaft hierzulande pocht auf seine Geschäfte mit dem „neuen Zarenreich“ und will von Geopolitik, Menschenrechten oder Autoritarismus nichts wissen – pecunia non olet. Ob die „Friedensaktivisten“ der Linkspartei wissen, dass sie sich so de facto als „nützliche Idioten“ (Lenin) in den Dienst des Großkapitals und des Klassenfeindes stellen?
Am Gipfel der Erbärmlichkeit
Kurz darauf begann ein Überbietungswettbewerb der Politiker, wer die größte Betroffenheit zum Ausdruck bringen konnte. Dies ist wenig überraschend – ist es doch Volkssport der Deutschen, ihre Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen und ihre Moral öffentlich zur Schau zu stellen. Durchaus symptomatisch dafür sind die massenhaft stattfindenden leeren Solidaritätsbekundungen und Gratismut-Orgien und vor allem die erbärmlichen Bitten an Putin, den Krieg unter Verweis auf seine Todesopfer doch bitte sein zu lassen. Was allerdings noch nicht ganz angekommen ist: Das interessiert den Wannabe-Zar aus Moskau überhaupt nicht. Verstehen tut das im moralistischen Deutschland selbstverständlich kaum jemand.
Der politische Mainstream in Deutschland will mit Haltung Geopolitik machen und unterstellt dabei, dass alle anderen Staaten (wie wir) eine moralistische Grundhaltung einnehmen. Moral ist aber keine Währung im Wettkampf der Staaten und Systeme, Macht ist es. Angesichts dieser die weltpolitischen Realitäten völlig verkennenden Einstellung sollte es doch niemanden überraschen, dass man Deutschland im Ausland entweder nicht mehr ernst nimmt oder sogar seine Loyalität zu den Bündnispartnern anzweifelt.
In erster Linie drückt man sich hierzulande aber gern davor, Verantwortung zu übernehmen. Wir haben uns in der NATO eingenistet, halten den dadurch und auf Kosten der USA gewährleisteten Schutz sowie ein Leben in Sicherheit und Freiheit für selbstverständlich und leisten selbst wie Schmarotzer kaum einen Beitrag dazu. Während die Bundeswehr jahrelang systematisch heruntergewirtschaftet wurde, beschäftigt man sich bei den Streitkräften erzwungenermaßen mit Frauenquoten und geschlechtergerechten Dienstgradbezeichnungen. Die Bundeswehr ist nicht einmal nur „bedingt abwehrbereit“, sondern überhaupt nicht mehr. Ein Tor, wer nicht weiß, dass man das im Ausland auch erfährt und als Zeichen der Schwäche deutet. Wladimir Putin ist kein Moralist, sondern ein rücksichtsloser Machtmensch.
Zugleich sieht man sich stets mit einer überkritischen, boykottähnlichen Haltung zur vertraglich geforderten Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO konfrontiert, die oftmals von einer süffisanten Haltung den Amerikanern gegenüber flankiert wird. Eine nicht gern gehörte, wenngleich zutreffende Beschreibung des Ist-Zustandes ist indes: Die USA garantieren seit Jahrzenten unsere Sicherheit und wir tun fast nichts dafür. Wir haben nicht einmal abwehrfähige Streitkräfte. Donald Trump lag jedenfalls hier also goldrichtig.
Décadence
Während Russland an seiner revanchistischen Agenda arbeitet und China sich einen Systemkampf mit den Vereinigten Staaten und der freien Welt liefert, diskutiert Deutschland über Themen von sagenhafter Irrelevanz. Frauenquoten, Unisex-Toiletten, Gendern, „Klimaaktivisten“, die sich auf einer Autobahn festkleben und innerparteiliche Querelen um den Begriff „Indianerhäuptling“ – das sind nur Auszüge aus dem täglichen Diskussionsstoff einer Irrenanstalt. Während Putin am Donnerstag in die Ukraine einmarschierte, unzählige Menschen den Tod fanden und die Grenzen in Europa einmal mehr gewaltsam verschoben werden sollten, bewarfen Aktivisten der linksradikalen „Klimaschützer“ von „Die letzte Generation“ die FDP-Parteizentrale in Berlin mit Gemüse. Das ist kein Witz, sondern durchaus symptomatisch für die politische Großwetterlage in einem Land, in dem es wichtiger ist, dass es in der Unimensa auch ein veganes und glutenfreies Angebot gibt und eine Discounter-Werbung auf „Diskriminierungen“ zu untersuchen, als sich wirklich Gedanken um die eigene Freiheit und Sicherheit zu machen.
Deutschland ist geradezu eine Karikatur des schwachen, wohlstandsverwahrlosten Westens, der an der eigenen Dekadenz zugrunde geht. Und es ist genau diese Schwäche, die Putin die Chance gab, in die Ukraine einzumarschieren. Bleibt dies unverändert, wird China diese Chance zeitnah auch für Taiwan ergreifen. Die nach dem Ende des Kalten Krieges errichtete geopolitische Ordnung fällt vor unseren Augen in sich zusammen, die Vereinigten Staaten verlieren ihre Position als Hegemon und einzig verbliebene Supermacht. Vor allem der vor Kraft nur so strotzende chinesische Drache, aber auch der entkräftete russische Bär machen sich diese Schwäche des Weißkopfseeadlers und seiner schwindenden Einflusssphäre zunutze. Was das konkret bedeutet, ist bereits evident: Die rasche Verbreitung autoritärer Systeme, die Verdrängung einer auf Individualismus, Freiheit und Demokratie fußenden Ordnung und ihre Verdrängung durch Kollektivismus und Totalitarismus. Vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) kann also keine Rede sein. Die Geschichte spielt sich vor unseren Augen ab und verläuft – unterstellt man einen ungehinderten Geschehensablauf – deutlich zu Ungunsten unseres Wertemodells.
Der Tod der Gewissheit
Diese Einstellung ist sehr gefährlich, zieht sich aber bis in die höchsten Ebenen der deutschen Politik. Ostermarsch-Mentalität und naiver Pazifismus aber retten nicht den Frieden, sondern begünstigen im schlimmsten Falle die Proliferation des Autoritarismus, der zur Durchsetzung seines Machtanspruchs vielfach auf aggressive Mittel der Außenpolitik zurückgreift. Die Ukraine demonstriert eindrücklich das Scheitern dieses dümmlichen Politikansatzes. Dennoch lässt sich viel Bewegung beobachten: Die Russen gehen trotz Festnahmen in dreistelliger Höhe und dem durchaus bekannten nicht gerade zimperlichen Vorgehen der russischen Polizei en masse auf die Straßen und stellen sich gegen Putins Politik, der Krieg verläuft offenbar nicht so, wie man sich ihn in Moskau erhofft hat. Verbündete wie Kasachstan verweigern ihre Unterstützung, die Ukraine wird massiv mit Waffen beliefert, weitere Staaten drängen auf einen NATO-Beitritt und die ohnehin schwache russische Wirtschaft kollabiert. Vor allem aber treten die westlichen Staaten erstmals seit langer Zeit halbwegs geschlossen auf. Eine wichtige Rolle dabei spielt auch die Kehrtwende des bisherigen Dauer-Störenfriedes Deutschland. Angesichts des in der Sondersitzung des Bundestages am vergangenen Sonntag von Olaf Scholz verkündeten Maßnahmenpakets (inter alia 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr, Einhaltung des 2%-Ziels der NATO sowie eine offenere Haltung zu bewaffneten Drohnen) deutet sich zumindest ein Paradigmenwechsel in Deutschland an.
Auch in der Energiepolitik ist ein rasanter Wandel absehbar. Selbst der grüne Wirtschaftsminister prüft eine Verlängerung der Laufzeiten der verbliebenen Kernkraftwerke und postuliert, es gebe „keine Denkverbote“ mehr. Das Tempo, in dem deutsche Gewissheiten über Bord geworfen werden, ist jedenfalls atemberaubend. Die stets wie ein Damoklesschwert über der deutschen Politik schwebende Realität holt in Überschallgeschwindigkeit ihre ideologischen Fixpunkte ein und reißt die obersten Ebenen der Politik ruckartig aus ihren Träumereien. Mit etwas Glück steht das Land also nicht nur vor einer sicherpolitischen Zeitenwende, sondern gar einer Ära der Realpolitik, die es dringend benötigt. Putin führt gegenwärtig also nicht nur einen prospektiven NATO-Beitritt etwa Schwedens oder Finnlands und eine weitere Isolation Russlands herbei, sondern spielt unfreiwillig Tempomacher für längst überfällige Reformen und den Kampf gegen verkrustete Denkmuster der politischen Landschaft zwischen Sylt und Zugspitze. Wie nachhaltig diese historischen Veränderungen nun wirklich sind, bleibt abzuwarten. Einen Schritt in die richtige Richtung stellen sie jedenfalls bereits jetzt dar.
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