Am 20. April 2021 habe ich einen etwas anderen Blick auf Politik und Gesellschaft in der Coronakrise geworfen und angeregt, man möge doch nicht nur auf eines - und das mittlerweile vermutlich eher kleinere - Risiko schauen, wieder offener debattieren und zu einer Gesellschaft zurückfinden, die die wesentlichen Probleme auch in der Coronakrise in den Fokus nimmt. Aber nix da. Das Zahlen-Roulette dreht sich weiter und auch der Ton bleibt gleich bzw. hat er sich partiell verschärft, wie man an den hasserfüllten Reaktionen auf die Aktion #allesdichtmachen sehen konnte.
Jetzt sind also auch die Schauspieler, die bisher in der Publikumsgunst ganz weit oben standen, Verschwörungstheoretiker, Coronaleugner, Covidioten und Rechte. Was für ein gewaltiges „q.e.d.“ für meinen unmittelbar davor erschienenen Text. Ich habe das kopfschüttelnd verfolgt. Das Medienecho und die Diskussionen wortgewaltiger Meinungsführer, die hoffentlich nicht in Tatgewalt umschlägt, sprechen für sich. Mit das größte Highlight mal wieder ein Politiker aus einer selbstgekürten antifaschistischen Partei.
Garrelt Duin war von 2005 bis 2010 Landesvorsitzender der SPD Niedersachsen und von 2012 bis 2017 Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk des Landes Nordrhein-Westfalen.
Er ist auch Rundfunkrat beim WDR und forderte nach der Aktion in einem Tweet faktisch einen Beschäftigungsstop (andere sprachen von Berufsverbot) im öffentlich-rechtlichen Rundfunk für die Beteiligten.
Da können wir mal von Glück reden, dass sich der Hass gegen Tatort-Schauspieler richtete und nicht gegen Schriftsteller. Nicht auszudenken, wenn in einer ersten Reaktion großflächig Bücher verbrannt worden wären. Da haben wir alle noch einmal Glück gehabt für den zeitlichen Aufschub. Denn lange wird es nicht mehr dauern, wenn das hier so weiter geht.
Es heißt ja immer wieder, man könne doch alles sagen in Deutschland, also sei das der beste Beweis, dass man in einer Demokratie lebe. Abgesehen davon, dass das schon ein sehr rudimentärer Anspruch an eine Demokratie ist, stellt sich die Frage, ob dem auch wirklich so ist. Klar kann man hier derlei Dinge sagen, ohne dass man dafür eingesperrt wird. Aber ungestraft bleibt es halt auch nicht, wie man an der Ächtung in weiten Teilen der Meinungsführerschaft und ausgerechnet aus dem sog. progressiven Spektrum sieht, das ja gerne sprachlich überkorrekt ist. Eine gesellschaftliche Ächtung bis hin zum Verlust von Einkommen und in der Folge der Existenz garniert mit Drohungen gegen die Akteure kann schon dazu führen, dass eben nicht mehr alles gesagt wird, was gesagt werden muss. Und davon gibt es genug in der Coronakrise. Ich komme noch dazu.
Wie es der Mitinitator Dietrich Brüggemann ausdrückt, gibt es keine Gesprächskultur, es gibt nur noch einen Lynchmob bei einem großen Teil der Gesellschaft. Hier eine weitere Stimme eines Akteurs dazu und noch eine Stimme. Es gab einen Monat vor dieser Aktion ein Manifest für die offene Gesellschaft. Wurde darüber in dieser Breite diskutiert? Wurden diese vielfältigen Stimmen wahrgenommen? Wer hört davon soeben zum ersten Mal? Zumindest diejenigen, die das tun, müssten zugestehen, dass wohl mehr nötig ist, um sich in dieser Diskussion eine Stimme zu verschaffen. Brüggemanns statement beginnt dort so: „Bei Brecht war der Vorhang zu und alle Fragen offen. Heute sehen wir den Vorhang immer noch zu, aber alle Fragen beantwortet.“ Das ist es, was auch mich umtreibt. Wie können Menschen auf beiden Seiten sich ihrer Sache so sicher sein und wissen was los ist, während es mich innerlich zerreißt, weil ich es nicht weiß und lange Zeit nicht sachlich darüber reden konnte?
Derweil wird von Kritikern der Aktion wohlfeil moniert, keiner der Teilnehmenden habe in seinen Videos auch nur die ganzen Toten erwähnt, die Zustände auf den Intensivstationen und überhaupt sei vollkommen unklar, was denn mit dieser Aktion erreicht werden sollte. Ich nehme da aber Unterschiede wahr: Diejenigen, die seit Monaten die Politik, die mediale Verarbeitung und den gesellschaftlichen Umgang mit der Coronakrise kritisierten, stellten solche Fragen nicht, sondern zeigten sich geradezu erleichtert, dass sich auch mal ein breiteres Spektrum, zumal sehr bekannte und populäre Gesichter - zu Wort meldete und: Gehör fand. Für mich war das der zentrale Bestandteil der Aktion, die ich durchaus gelungen fand: sich Gehör zu verschaffen (und damit auch anderen eine Stimme zu verleihen).
Wer sich angegriffen fühlt, hat den Appell aus meiner Sicht nicht richtig verstanden und richtet seine Kritik auch an die Falschen. Die Kritik wäre zu richten an Politik und Leitmedien, die seit einem Jahr eine offene Debatte verhindert haben und damit auch verhindert haben, dass sich an den Ursachen für die Kritik etwas ändert. Es ist nicht die Schuld des Virus oder von Schauspielern, dass das medizinische Personal unter Bedingungen arbeitet, die zum Berufswechsel verleitet und damit zu sich verschlimmernden Zuständen. Das liegt in der Verantwortung der handelnden Politiker. Es ist nicht die Schuld der Gesellschaft, dass sie sich seit einem Jahr im Panikmodus befindet. Das liegt in der Verantwortung der Politik und der Leitmedien. Es ist nicht die Schuld des Virus, dass Existenzen und Wirtschaft in ungekanntem Ausmaß vernichtet werden. Das liegt in der Verantwortung der handelnden Politik und einer durch Politik und Medien aufgepeitschten Gesellschaft. Es ist nicht die Schuld des Virus, dass die Demokratie zersetzt wird. Das ist politische Verantwortung. Und es ist auch nicht die Schuld der Kritiker, dass jegliche Art der Kritik delegitimiert wird. Da müssen sich nun sehr viele an die eigene Nase fassen - auch wenn man das ja grad nicht soll.
Die Coronapolitik der Bundesregierung sorgt für eine gewaltige Umverteilung von öffentlichem Vermögen an Private, Teile der Gesellschaft und der Wirtschaft wurden an die Wand gefahren, Leben generell wurde bis auf ein Minimum heruntergefahren, Kinder - die Schwächsten der Gesellschaft - spielen kaum eine Rolle usw. Das alles für eine Strategie, die die Kurve flach halten sollte, damit die Krankenhäuser und das gesamte öffentliche Gesundheitswesen nicht überlastet würden. Dafür wurden im Jahr 2020 Krankenhäuser geschlossen, tausende zunächst mit Millionenbeträgen geförderte Intensivbettenkapazitäten abgebaut, Personal nicht entlastet, Entstehung von Risikogruppen gefördert statt verhindert, Risikogruppen nicht geschützt usw. Es gäbe wirklich genug Gründe, den Fokus nicht auf die Kritiker der Coronapolitik zu richten.
Der Fokus der Kritik an den Schauspielern reiht sich jedoch ein in den Hass auf gesellschaftliche Gruppen, wie wir ihn seit Beginn der Pandemie sehen - fleißig gefördert durch die hashtag-Treibjagden. Diese Stimmung hat wohl jeder schon mittelbar oder unmittelbar erlebt. Bereits mit dem ersten Maßnahmen-Wochenende im März 2020 schrieb ich
Jeder kennt das doch aus eigenem Erleben, wie die vermeintlich ganz Überkorrekten mit dem Prosecco in der Hand von ihrer Dachterassen-Altbau-Wohnung Menschen fotografierten und ins Netz stellten, die sich zu 3. (!) unten im Park trafen oder die filmischen Meisterwerke, die andere im Park sitzend in aller Öffentlichkeit unverpixelt zeigten - durch Kamerawinkel gern auch mit verzerrtem Abstand. Und ohne Anstand, denn die Filmer waren ja selbst unterwegs. Eigentlich auch kein Grund zum Hass, denn wie wir wissen, ist die Ansteckungsggefahr draußen extrem überschaubar.
Im Mai 2020, als klar wurde, dass es sich nicht um das schlimme Virus handelt, das anfangs befürchtet wurde, hatte ich die Hoffnung, dass sich dies alles wieder beruhigen würde. Aber nicht nur die Stasi-würdige Blockwartmentalität nahm zu. Die Menschen ergingen sich in Hass und Ablenkung, vielleicht sogar Hasslenkung, die verhindert, dass wir auf das Wesentliche schauen. Da musste man nur wirklich ganz genau die Medien und die Diskussionen beobachten. Was wird berichtet, in welcher Frequenz, in welchem Medium, worüber diskutieren die Menschen? Twitter ist da hervorragend geeignet. Man sieht das gleich an den hashtags. Mutante hier, Streeck, andere Mutante dort, tödlich, nicht so tödlich, infektiöser, doch nicht so, Streeck, Impfstoff A, B oder C oder eine Kombination von allem, Streeck, Maske, Ausgangssperre, Streeck, Schnelltests, Inzidenzen, R-Wert, Intensivbetten, Streeck, schuld sind die Mallorca-Urlauber, die Parksitzer, die Demonstranten und natürlich Streeck und so weiter und so fort. Das alles dann schön massiv in verhärteten Fronten gegeneinander. Das versperrt so schön den Blick auf das Wesentliche. Das beste Beispiel waren die Reaktionen auf die Videos der 52 Schauspieler unter dem hashtag #allesdichtmachen, die vieles davon aufgriffen, was aber nicht verstanden werden wollte oder sollte. Wohlgemerkt, bei Menschen, die bereits wieder Wege aus der Angst herausgefunden haben, war das Verständnis für die geäußerte Kritik größer. Vielleicht weil dort mehr Perspektiven einbezogen werden als bei denen, die ihre vermeintliche Empathie vor sich hertragen, von der aber nichts übrig bleibt, wenn sie sich nur auf die eigene Angst fokussiert und im übrigen ganz unempathisch hasst.
Man macht sich angreifbar mit solchen Aktionen, auch ich mit meinem Text. Klar. Aber es geht nicht anders. Ich bin kein Maßnahmengegner und kein Coronaleugner und erkenne durchaus an, dass Handlungsbedarf besteht. Dazu habe ich schon viel geschrieben. Man kann aber nicht an jeden Text eine mehrminütige Erklärung hängen, der hier bedauert und dort fordert und gleichwohl nie allen Betroffenen gerecht wird. Vielleicht zieht man auch mal in Betracht, dass man Menschen nicht von Haus aus die übelsten Motive unterstellt. Ich selbst habe auch keine Lust mehr, mich ständig zu erklären, wenn ich das Handeln von Regierungen und Mächtigen kritisiere, die - eher euphemistisch ausgedrückt - nicht immer im Sinne des Gemeinwohls agieren. Früher war das mal Konsens unter Linken.
Es spricht auch ein weiterer Punkt nicht für den Zustand unserer aufmerksamkeitsökonomischen Erregungsgesellschaft: Nur weil sich sehr bekannte Menschen sehr pointiert äußerten, wird darüber (wenn auch mit dem falschen Fokus) seither debattiert. Oder hat jemand wahrgenommen, dass wir beispielsweise über die Forderungen von „Alarmstufe rot“ gesellschaftlich in dieser Intensität diskutieren. Bedauerlicherweise ist eine derart disruptive Aktion wohl erforderlich, um Menschen überhaupt mal zur Wahrnehmung anderer Perspektiven zu rütteln.
Denn wir reden doch nicht ernsthaft darüber, was an Maßnahmen überhaupt erforderlich ist auf Grund der nun zur Verfügung stehenden Datengrundlage. Die wird noch immer nicht akzeptiert. Dahin müssen wir erst einmal kommen. Und dazu musste vielleicht so eine Aktion erst einmal etwas aufbrechen, auch wenn sich gerade Journalisten wehren, es würden doch auch andere Stimmen gezeigt. Wie ich bereits geschrieben hatte, kommt es auf die Frequenz und vor allem Bilder an. Wenn zwischen dem ausufernden Schüren von Angst zwischendrin andere Stimmen zu Wort kommen, wird weiter die Angst überwiegen. Und wenn die anderen Stimmen dann Beispiele aus den letzten wenigen Wochen sind, ist das nicht geeignet zu erklären, was fast ein Jahr lang ablief, bis endlich einmal oft eher verhalten berichtet wurde, was man außerhalb der Leitmedien schon seit Mitte 2020 lesen konnte.
Und trotzdem schafft es ein großer Teil der Meinungsführer, den Akteuren entgegenzuhalten, sie machten die Kranken und das Klinikpersonal verächtlich und teilten Positionen, die auch Querdenker äußern, die ja samt und sonders rechtsradikal wären. Die Kritik kommt auch gerne von Politikern, die für die Zustände in den Kliniken seit Jahren verantwortlich sind. Ist der Pfleger Ricardo Lange, der Lothar Wieler und Jens Spahn in deren Beisein in der Bundespressekonferenz kritisierte, jetzt auch ein Querdenker, weil derartige Kritik ja auch von Querdenkern geäußert wird? Darf also auch diese Kritik nicht mehr geäußert werden, die die Kritiker von #allesdichtmachen jedoch gerne in jedem Spot gehört hätten? Oder dreht sich da nicht vielmehr deren Argument im Kreis? Das ist vollkommen absurd. Viele Künstler sahen sich genötigt, Erklärungen abzugeben, ihre Videos zurückzuziehen etc. Chapeau cancel culture. Du hast es schon weit gebracht. Ein Dank an alle Künstler für ihren Mut und das Anstoßen dieser wichtigen Debatte.
Ich habe auf meinen letzten Text viele Hinweise erhalten, die ich zum Teil verarbeitet habe, aber zum großen Teil auch nicht. Der Text ist ohnehin sehr überfrachtet. Er enthielt in einer ersten Version noch viel mehr Facetten zu
- bereits bestehenden rechten Strukturen in unseren staatlichen Sicherheitsapparaten. Hannibal, Nordkreuz werden den meisten ein Begriff sein, ansonsten empfehle ich diesen Denkangebot-podcast von Katharina Nocun dazu. Wir konnten in den letzten Jahren viel lesen von Polizeigewalt oder massiven Problemen im Verfassungs-„Schutz“, insb. im Zusammenhang mit dem NSU.
- dem bereits laufenden planmäßigen Ausbau der Exekutive, der auch bauplanmäßig voranschreitet, indem beispielsweise das Kanzleramt für mehrere hundert Millionen mit ein paar hundert Mitarbeitern aufgerüstet wird.
- Luca-App - für mich vollkommen hirnrissig, wie man erst nach dem Widerstand aus der Zivilgesellschaft gegen den Ausbau der Überwachung eine open-source-Software für ein Schweinegeld in Auftrag gab, diese verkümmern ließ und nun, nachdem die Bevölkerung weichgeklopft ist, eine undurchsichtige Software mit zentraler Datenverwaltung breit installiert. Aus meiner Sicht verstehen die Menschen nicht, was passieren kann und wie schnell das geht, dass Gesellschaften kippen. Lebt man heute noch in einer liberalen Demokratie kann das morgen schon anders aussehen. Daher sollte man sehr gut überlegen, was man bereit ist, einer immer autoritärer werdenden Staatsmacht an Instrumentarien zu übergeben. Zumal wenn die Gefahr besteht, dass in einer Wirtschaftskrise rechte Parteien reüssieren…
- den Modellstädten. Das war ein ganzes Kapitel über mutige und kreative Akteure, die die Dinge anders angehen.
- Schnelltests. Ich war ein großer Freund einer Schnellteststrategie. Aber halt dort, wo es sinnvoll ist. Wenn beispielsweise in Alten- und Pflegeheimen durchgängig und ausnahmslos getestet worden wäre, hätten über den Winter in der Erkältungszeit Tote verhindert werden können. Jetzt werden Kinder getestet, wenn die Risikogruppen zum großen Teil bereits geimpft sind und es in den Sommer geht. Das ist irre!
- dem Schicksal der Kinder und Jugendlichen. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass wir in dieser Gesellschaft so mit Kindern umgehen. Das ist für mich die grausamste Lektion aus der Pandemie. Noch im Februar 2021 (!) habe ich von einem Vater gehört, dass er dem Kind erklärt habe, es könne Opa und Oma umbringen, wenn es sich nicht an die Maßnahmen halte. Da müsste eigentlich das Jugendamt einreiten, das aber wohl eher dann tätig wird, wenn sich Eltern nicht an staatliche Maßnahmen halten, aus nicht unberechtigter Sorge, ihre Kinder könnten in ihrer sozialen und seelischen Entwicklung Schaden nehmen.
Wie mir aber andere Hinweise zeigten, hätte ich manches vielleicht aufnehmen sollen, denn die Wahrnehmung bei manchen ist so verzerrt, dass es kaum auszuhalten ist. Von der Länge her wäre es darauf auch nicht mehr angekommen. Zwei Dinge, die mir wichtig bzw, sehr interessant erschienen, habe ich daher noch ergänzt:
- Nachträglich verlinkt habe ich die sehr aktuelle Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH). Werte wie 0,00002% habe ich mir erlaubt auf 0,0% abzurunden bzw. nur eine Stelle hinter dem Komma anzugeben. Denn eigentlich ist seit vielen Monaten bekannt, dass jüngere Menschen und insbesondere Kinder ein sehr geringes statistisches Risiko (unter 0,01%) haben. Das hielt ich mittlerweile für Allgemeinwissen. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass derartige Erkenntnisse fast schon mutwillig ausgeblendet werden und dieser Punkt unter Hinweis, die Statistiken würden etwas anderes sagen, bestritten würde, weshalb in der Ursprungsversion nichts verlinkt war. Diese Kritik war ein weiteres gewaltiges "q.e.d." an meinen Text und die ganz offensichtlich sehr verzerrte Wahrnehmung bzw. Fehlinterpretation von Statistik. Naja und die Gleichgültigkeit gegenüber dem Kindeswohl und der Gerechtigkeit in diesem Lande.
- Das verlinkte Video über Angsterzeugung als Herrschaftstechnik in neoliberalen Demokratien wurde mir empfohlen. Die Quelle sieht seriös aus und der Referent war Professor für allgemeine Psychologie an der Universität Kiel mit den wissenschaftlichen Schwerpunkten Wahrnehmungspsychologie, Kognitionswissenschaft und Geschichte der Psychologie. Es braucht vermutlich noch einiges an Zeit, dies alles aufzuarbeiten und nachzurecherchieren, aber es ist eine sehr gute Erklärung, was aktuell passiert. Geplant oder ungeplant, die Wirkung auf die Gesellschaft lässt sich aus meiner Sicht derzeit beobachten und spiegelt auch einiges aus meinem Artikel wider. Das Video ist aus dem Februar 2019. Es bietet auch Erklärungen über vieles, was die vergangenen Jahre zu beobachten war, zB nach Terroranschlägen. Es wäre ein Ausweg, wie wir miteinander wieder besser klar kommen und die Gräben zuschütten, ohne einander die Schuld zu geben: Die Angst wurde medial und politisch geschürt. Das gehört adressiert. Wir haben einander viel zu verzeihen, sagte einmal ein nicht sonderlich gemeinwohlorientierter Mann. Wir sollten uns untereinander verzeihen, wieder mutig sein und unsere Zukunft gestalten.
Noch ein paar weitere Worte zu meinem letzten Artikel. Ich habe erheblichen Zuspruch darauf bekommen. Gleichwohl erscheint es mir so, dass manche nicht verstanden haben, worum es mir ging. Manchmal setze ich da vielleicht auch zu viel Wissen voraus, das nicht gewusst werden kann, wenn man sich nicht täglich mehrere Stunden mit der Materie auseinandersetzt, was genau genommen auch vollkommen unzumutbar ist. Das ist schlicht so, weil es in den Leitmedien nicht in der Breite diskutiert wird, wie es das sollte. Ich mache dies fest an einem Beispiel - den Inzidenzen.
An diesen hängt seit der Reform des IfSG die automatische (!) Einschränkung von Grundrechten auf Grundlage von Zahlen, die selbst weder Rechtsqualität haben noch überhaupt irgendeine hinreichende Qualität. Das haben teilweise auch Gerichte erkannt und zuletzt für Kinder entschieden. Dem entscheidenden Richter am Amtsgericht Weimar brachte das eine Strafanzeige nebst Hausdurchsuchung (!) ein.
Mir ist in Gesprächen aber bewusst geworden, dass das Wissen um diese Details so eine Art juristennerdiges Verhalten zu sein scheint, obwohl ich davon ausging, dass das jeden demokratischen Staatsbürger interessieren müsste. Wenn ich beispielsweise von ct-Werten schrieb, ging ich davon aus, dass das bekannt wäre, weil ich diese Gespräche seit letztem Sommer führe. Zu der Zeit wurde es bereits außerhalb der Leitmedien breit diskutiert. Seit einigen Wochen hatte ich den Eindruck, es käme auch in den Leitmedien an und damit in der Breite der Bevölkerung. Dem scheint nicht so zu sein, daher eine kurze Ausführung nur zu diesem einen Kritikpunkt, der längst nicht der einzige ist:
Die Infektion messen wir mit dem sogenannten PCR-Test. Da fängt es schon mal sprachlich an, weil der PCR-Test nicht zur Diagnostik geeignet ist. Er kann nicht feststellen, ob jemand infiziert ist oder gar krank und infektiös. Er kann feststellen, dass da irgendwas ist und das kann viel sein. Vor allem hängt das davon ab, was man wie untersucht. Hier soll es um das „wie“ gehen.
PCR ist die Abkürzung für Polymerase-Kettenreaktion (im englischen Polymerase-Chain-Reaktion). Da sind noch ein paar Buchstaben vorgeschaltet, aber ich will es nicht zu kompliziert machen. Aber einer ist wichtig: q für quantitative. Das ist wichtig, denn damit der PCR-Test etwas findet, muss das, was geprüft wird, so oft verfielfätligt werden, bis etwas gefunden wird. Wie viele dieser Verfielfältigungszyklen durchlaufen wurden, gibt der sog. Ct-Wert an (für Cycle threshold). Standard bei den PCR-Tests sind nachdem, was ich gelesen habe 35 Zyklen, bei den bei uns verwendeten Drosten-Tests bis zu 45.
Jetzt zu dem Problem: Wir kennen diese Werte so gut wie nicht. Sie werden kaum angegeben. Das Problem ist, dass dann nicht vergleichbar ist, was welches Labor wie misst (von anderen Problemen, die hier den Rahmen sprengen würden einmal abgesehen). Dabei ist das unglaublich bedeutsam. Es fängt immer mit sehr kleinen Zahlen an, aber selbst wenn sich in der Probe nur ein einziges Viruspartikel befinden sollte und dieses in jedem Zyklus verdoppelt wird, sind es nach zwei, vier, acht usw. bei einem Ct-Wert von 30 schon über 1 Milliarde Vermehrungen.
Wir wissen seit langem, dass es maßgeblich auf die Virenlast ankommt, ob wir es mit einem sog. Superspreader zu tun haben bzw. überhaupt mit einem Infektiösen. Bei Ct-Werten über 30 ist es fast ausgeschlossen, dass ein Superspreader unterwegs ist, weil in der Regel kein vermehrungsfähiges Virus vorhanden ist. Bei 45 kann gar nichts mehr ausgesagt werden. Das kann irgendwas sein, was da gefunden wurde, vielleicht Reste einer durchgestandenen Infektion, die das eig. Immunsystem vielleicht sogar frühzeitig vollständig unter Kontrolle hatte.
Daran schließen sich dann ja auch Folgefragen an, wie beispielsweise ob die im Gesetz teilweise willkürlich festgelegten Grenzwerte sinnvoll sind. Man kann sie als Frühindikatoren betrachten, denn man will ja die Intensivstationen freihalten, indem man zu viele Schwerkranke (oder überhaupt Infektionen) verhindert. Das schafft man aber mit dieser Strategie kaum. Und die ursprüngliche Begründung für die 50er-Grenze rückt vollends aus dem Bild. Diese Grenze wurde deshalb gesetzt, weil irgendjemand gesagt hatte, bis zu dem Wert könnten die Gesundheitsämter die Kontakte nachverfolgen. Würde man sich auf weniger Fälle konzentrieren, die mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auch infektiöser sind, dürfte die Kontaktverfolgung weitaus besser gelingen und zielführender sein.
Jetzt kommt es aber: Auf dieser Grundlage - und wie gesagt, es gäbe noch weitere Kritikpunkte wie der vollständig unseriöse Umgang mit freien Intensivbetten - werden massive Einschnitte in die Grundrechte gerechtfertigt und diese basieren nun auf Grundlage von Zahlen, die nicht einmal ins Verhältnis zur Anzahl der Tests gesetzt werden. Letztere steigen massiv an, weil positive Schnelltests PCR-Tests nach sich ziehen. Wir sorgen also für unseren eigenen Lockdown durch diese anlasslose Dauertesterei, denn der tritt seit Neuestem automatisch ein, weil Zahlen in ein Gesetz geschrieben wurden, die leicht manipulierbar sind. Das dürfte nun klar geworden sein. Der Rechtsweg, um dies nachzuweisen, wurde hingegen sehr stark beschnitten. Grundrechtseinschränkungen passieren also nun, weil das Robert-Koch-Institut eine kaum nachvollziehbare Zahl mitteilt. Das (oder so etwas) meine ich u.a. damit, dass wir anscheinend gar nicht wissen wollen, was los ist. Damit hat eine Behörde durch eine schlampige Wissensmitteilung die Einschränkung von Grundrechten in der Hand. Damit hat auch die Exekutive längst mehr Macht übernommen als das den meisten klar ist. Darum geht es. Das bringt mich ebenso um den Schlaf, wie die Frage, was denn mit unseren Leitmedien los ist, die diese Fragen stellen müssten statt täglich ein Feuerwerk an Inzidenzen abzufackeln. Zumindest der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der nicht von Quoten, Werbekunden oder den Millionenzuwendungen sog. Philantropen abhängig ist, müsste dies leisten.
Es ist ja nicht so, dass darüber - wenn auch eher selten - nicht auch in Leitmedien berichtet wird, z.B. hier (ein halbes Jahr alt!). Das heißt auch nicht, dass der PCR-Test vollkommen unbrauchbar ist. Das ist er nicht. Ist sogar ein tolles Tool, aber wenn er so angewendet wird, produziert er nur Schrott. Deshalb fordern ja stapelweise Fachleute, dass der Test nicht die einzige Größe sein dürfe. Aber warum wissen das die Leute dann nicht? Warum interessiert es sie nicht? Darauf basieren alle Maßnahmen. Alle. Darauf baisert ein Großteil der Angst vor einer Zunahme der Inzidenzwerte, die teilweise lediglich auf einer massiven Ausweitung der Testung basierten. Das muss man doch wissen wollen, wenn man nur auf dieser Grundlage seinem Kind mehrmals in der Woche die Nasenschleimhaut mit einem borstigen Stäbchen verletzt und es so anfälliger für Infektionen macht. Oder es von anderen Kindern fernhält. Oder es vielleicht bald impfen lässt, obwohl es selbst 0 Risiko hat. Mit einem neuartigen Impfstoff, von dem wir mangels Langzeitbeobachtung entgegen aller Beschallung noch gar nicht umfassend wissen können, wie er auf uns wirkt. Oder wenn nun ein Impfpass diskutiert wird, der ein hervorragendes Eingangsinstrument zum social scoring bieten würde, wofür wir als Wertewesten massive Kritik an China geheuchelt haben. Das was wir jetzt schaffen, werden wir so schnell nicht wieder los, wenn es denn unter irrsinnigen Anstrengungen überhaupt gelingen sollte.
Offensichtlich stört sich daran kaum jemand in der Twittermeinungsführerschaft. Es wird sogar vehement verteidigt, keine Kritik daran oder an den Helden der Lockdownbefürworter zugelassen, andere werden medial hingerichtet. Und das auf dieser Datengrundlage bei der sich eigentlich unzählige Fragen automatisch stellen müssten.
Streeck prognostizierte sinkende Zahlen für spätestens April, wenn die Erkältungssaison vorbei wäre. Dafür wurde er ein weiteres Mal von orientierungslosen Faktenfindern und der Twitterschickeria zur Schlachtbank geführt (wie viele Leben hat der eigentlich?). Das RKI und Lauterbach prognostizierten für Anfang Mai Inzidenzen von 2.000. Die Inzidenz liegt zum 1.5.21 bei 155. Haben sie es nicht geschafft, den viel gescholtenen Streeck zu widerlegen, obwohl getestet wird wie bekloppt, wie es schon das sog. Panikpapier forderte (was übrigens das dann gerne ins Feld geführte Präventionsparadoxon ausschließt, wenn sich an den Maßnahmen kaum etwas geändert hat)? Wo liegen denn die tatsächlichen Zahlen, wenn man sie in Relation zu den Testzahlen setzt…? Warum fordert man aktiv bei derart gravierenden, offenen Fragen die Änderung des IfSG und die Beschädigung von Demokratie und Rechtsstaat?
Ich hätte mir so etwas vor einem Jahr im Ansatz nicht vorstellen können, insbesondere (nochmal!) wie wir als Gesellschaft mit Kindern umgehen. Und dass dies sehr viele Menschen nicht zum Nachdenken bringt. Ich kann nur jedem empfehlen, sich mal 2-3 Wochen dem Trommelfeuer der Zahlen und Hetze zu entziehen, eine Einordnung in einen größeren Kontext vorzunehmen und sorgenfrei nachzudenken. Die Angstfreiheit stellt sich sehr schnell ein, wenn man sich der Dauerbeschallung entzieht. Und lasst das mit den sozialen Hetzwerken sein. Sahra Wagenknecht hat in ihrem neuen Buch „Die Selbstgerechten“ den aktuellen Zustand sehr gut beschrieben und mir auch ein paar Erklärungen dafür geliefert, was ich auf Twitter beobachten konnte.
Mit dem vorangegangenen Text und diesem hier sollte eine Einordnung versucht werden. Maßnahmen in nie gekanntem Ausmaß waren schon vor der erneuten Reform des IfSG möglich. Aber nun drohen wir ggf. unsere Demokratie, die Grundrechte, den Rechtsstaat, den Föderalismus, zu opfern. Wir baggern diesen die Freiheit garantierenden, antifaschistischen Schutzwall mehr und mehr ab. Die Grundfrage ist: Sollten wir das tun bei einem Virus von dieser Gefährlichkeit, das in absehbarer Zeit seinen Schrecken verloren haben wird? Was wir bis dahin an Demokratie aufgegeben haben, wird nicht zurückkehren. Das gilt es abzuwägen und dann für die Zukunft zu diskutieren, denn wir brauchen wohl künftig eine andere Vorgehensweise. Es werden noch größere Krisen kommen. Das wäre aber ein gesamtgesellschaftlicher Prozess. Nichts, was wir der Exekutive überlassen dürfen. Wer dies für zu alarmistisch hält, dem möchte ich abschließend die Worte unseres Altbundespräsidenten Richard von Weizsäcker ans Herz legen:
„Die Weimarer Republik ist letztlich nicht daran gescheitert, dass zu früh zu viele Nazis, sondern dass zu lange zu wenige Demokraten vorhanden waren.“
Titelbild: Gerd Altmann
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