Berlin - Die Polizei hat 2020 so viele judenfeindliche Angriffe festgestellt wie nie zuvor seit 2001. Für das vergangene Jahr seien "bisher insgesamt 2.275 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund gemeldet" worden, geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) und ihrer Fraktion hervor, über die der "Tagesspiegel" (Freitagausgabe) berichtet. Bei 55 Delikten handelte es sich demnach um Gewalttaten.
Die Polizei konnte 1.367 Tatverdächtige ermitteln. Festgenommen wurden jedoch nur fünf Personen, Haftbefehle gab es keine. Die Zahl der Straftaten wird wahrscheinlich noch steigen, da die Polizei erfahrungsgemäß noch Delikte aus dem Vorjahr nachmeldet. Aber auch jetzt schon ist deutlich, dass der Rekordstand von 2019 übertroffen wurde.
Damals hatte die Polizei in ihrer endgültigen Bilanz 2.032 antisemitische Straftaten gemeldet. Im vergangenen Jahr nahm judenfeindliche Kriminalität nun um noch mindestens elf Prozent zu. Die Polizei registrierte im Durchschnitt pro Tag sechs antisemitische Delikte. Die bislang gezählten 2.275 Straftaten sind die höchste Marke, seit die Polizei 2001 das Erfassungssystem "Politisch Motivierte Kriminalität (PMK)" einführte.
Mit den Zahlen wachsen die Sorgen beim Zentralrat der Juden in Deutschland. "Angesichts der zahlreichen antisemitischen Vorfälle auf den Corona-Leugner-Demos im vergangenen Jahr und der Verschwörungsmythen im Netz war leider damit zu rechnen, dass die Zahl der antisemitischen Straftaten erneut steigt", sagte Präsident Josef Schuster am Donnerstag dem "Tagesspiegel". Und weiter: "Jetzt ist das traurige Gewissheit." Die vorläufige Statistik zeige, "dass die Radikalisierung der Gesellschaft voranschreitet und der Respekt vor Minderheiten sinkt", warnte Schuster.
Mit Bestürzung reagierte auch der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, auf den Höchststand judenfeindlicher Delikte. Der Anstieg "muss uns eine Warnung sein", sagte Klein der Zeitung. "Im Zuge der sogenannten Corona-Proteste wurden Grenzen des Sagbaren verschoben, die Shoah relativiert und altbekannte antisemitische Hassbilder erneuert." Die Zunahme der Straftaten sei "ein deutliches Zeichen, dass die Demokratie sich besonders in Krisen wie der andauernden Pandemie wehrhaft zeigen muss".
Der gesellschaftliche Zusammenhalt "misst sich gerade hier in Deutschland daran, wie fest wir gegen Judenhass zusammenstehen", mahnte Klein. Aus Sicht der Polizei sind die meisten antisemitischen Delikte rechten Tätern zuzuordnen. Islamistische, linke und anders motivierte Judenhasser sind in der Statistik nur eine kleine Minderheit. Die Zunahme judenfeindlicher Angriffe verläuft parallel zu einer weiteren dramatischen Entwicklung.
Anfang Februar berichtete die Bundesregierung von einem Anstieg der Kriminalität von Neonazis und anderen Rechten. Die Polizei hat 2020 nach bisherigen Erkenntnissen mehr als 23.000 einschlägige Straftaten festgestellt. Das ist der zweithöchste Stand seit 2001. Die Zahl ist Angaben der Regierung zu weiteren Anfragen von Petra Pau zu entnehmen. Vermutlich wird bei den rechten Straftaten mit den noch zu erwartenden Nachmeldungen der Polizei ebenfalls der höchste Stand seit 2001 erreicht.
Foto: Orthodoxer Jude (über dts Nachrichtenagentur)Dir gefällt, was dts Nachrichtenagentur schreibt?
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