Berlin - Im vergangenen Jahr haben 70 Fluggesellschaften 104,56 Millionen Datensätze zu ihren Passagieren an das Bundeskriminalamt (BKA) übermittelt. Das geht aus dem vertraulichen "Lagebild 2020 Passenger Information Unit" hervor, das die Wiesbadener Behörde erstmals erstellt hat und über das die "Welt am Sonntag" berichtet.
Noch nie wurden so viele Fluggastdaten erfasst - obwohl während der Pandemie deutlich weniger geflogen wurde. Es werden die Daten zu allen grenzüberschreitenden Flügen aus und nach Deutschland gespeichert, um terroristische Straftaten und schwere Kriminalität zu bekämpfen. Laut Lagebild wurden aus den Datensätzen 78.179 Passagiere herausgefiltert und "fachlich überprüft". Das wiederum führte zu 5.347 Treffern ("positiv überprüft").
In 3.593 Fällen schaltete das BKA die Bundespolizei oder den Zoll ein, die für die Flughäfen zuständig sind. So gab es 333 Fahndungen "mit Terrorismusbezug". Dazu gehörten die Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten (35 Verdachtsfälle) und 14 Fälle von Terrorismusfinanzierung. Insgesamt wurden 460 Personen festgenommen.
Für Ulrich Kelber (SPD), den Bundesbeauftragten für den Datenschutz, stehen Aufwand und Nutzen in keinem vertretbaren Verhältnis. Es werde "eine unfassbar große Menge an Daten" erfasst, sagte er der "Welt am Sonntag". Ebenso kritisch beurteilte er den langen Zeitraum der Speicherung von fünf Jahren. FDP-Vizefraktionschef Stephan Thomae sagte der Zeitung: "In einem Rechtsstaat ist eine verdachtsunabhängige Speicherung auf Vorrat hochproblematisch."
Alle Fluggäste würden als potentielle Verdächtige behandelt: "Dies wirft die Frage auf, ob das wirklich verhältnismäßig ist." Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) monierte die "sehr bedenklichen Praktiken" einer "sozusagen anlasslosen Rasterfahndung". Auch Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz kritisierte "die lupenreine anlasslose Massenspeicherung". Geregelt ist das Vorgehen im Fluggastdatengesetz, das auf einer EU-Richtlinie basiert.
Laut BKA sind gegen das Gesetz inzwischen mehrere Klagen anhängig, die deutsche Gerichte dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt hätten. Ein Grundsatzurteil der Luxemburger Richter wird im Frühsommer 2022 erwartet, berichtet die "Welt am Sonntag". Das BKA rechnet danach mit einem rechtlichen "Anpassungsbedarf" für Deutschland.
Foto: Flugpassagiere während der Coronakrise (über dts Nachrichtenagentur)Dir gefällt, was dts Nachrichtenagentur schreibt?
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