Corona brachte nicht nur ständig Zahlen in die Berichterstattung, sondern eben auch viel Konfrontation mit dem Tod. Manchmal sagt man, dass der Tod selbst ein Wiener sein muss und man hier dem Sensenmann besonders nahe sei. Im Herbst, nahe dem Winter, fallen die Blätter über die Sollbruchstellen der Äste langsam geordnet zu Boden und beenden das, was im Frühjahr Blüte genannt wird. Der Nebel zieht in die Stadt hinein und der Lockdown fesselt uns alle an unsere Region – Reisen geht vor allem nur im Kopf und dann bietet es sich an, seine Gegend besser kennenzulernen, wenn man schon nicht weit weg fahren kann. Der Wiener Zentralfriedhof ist ein wichtiger Platz in Wien, den ein Tourist - ob Einheimischer oder tatsächlich ortsfremder - doch gesehen haben sollte. Er zählt zu den größten Friedhöfen Europas (2,5 Millionen Quadratmeter) und ist laut Umfrage von Touristen (durchgeführt von diversen Reiseveranstaltern wie TripAdvisor) der viert beliebteste Totenplatz Europas. Er liegt im 11. Wiener Gemeindebezirk Simmering, ein Bezirk in Wien, der 1892 aus den selbstständigen Gemeinden Simmering und Kaiserebersdorf geschaffen wurde. Ein Bezirk, der von der Wiege bis zur Bahre alles bereithält. Die wichtigsten Verkehrsverbindungen verlaufen durch diesen Bezirk, ebenso wie der Alberner Donauhafen, die Müllverbrennungsanlagen, landwirtschaftliche Flächen, diverse Schlösser, viele Betriebe und eben den größten Friedhof Österreichs. Weniger als 20 Prozent der Wiener sterben in den eigenen vier Wänden. Im Anschluss geht es wahrscheinlich auf einen der gut 46 kommunalen Friedhöfe Wiens. Die Gottesäcker Wiens machen zwar nur 1,3 ha der Gesamtfläche aus, nehmen somit aber auch die doppelte Fläche von Wiens City ein.
Wiens 1874 eröffneter Gottesacker in Simmering kann nicht nur zu Fuß, sondern auch mit dem Linienbus, dem Fiaker oder dem eigenen PKW (Ausnahme zu Allerheiligen und -seelen) besucht werden.
Die Anfahrt in Wiens größte Todeszone wäre mit der Strassenbahn 71 empfehlenswert (Zustieg auch von der S-Bahnstation Rennweg und der U-Bahnstation Simmering). Die Linie existiert seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Auch diverse Leichentransporte wurden mit ihr durchgeführt, aber nur bis Ende des 2. Weltkriegs). Die „Luft-Geselchten“ wurden mit Pferdekutschen über die Simmeringer Hauptstrasse zum Zentralfriedhof gebracht. Die dort lebende Bevölkerung war über die permanente Konfrontation mit dem Tod natürlich weniger erfreut. Deshalb begann man auch mit dem Transport der Leichen in eigens dafür vorgesehenen Leichenwägen auf der 71er-Route. Der 71er fährt nach wie vor dieselbe Strecke. Ursprünglich wollte man die Toten mit der „Rohrpost“ unterirdisch per Luftdruck innert zehn Minuten aus der City bis zum Zentralfriedhof „verschicken“. Doch die Pläne wurden verworfen, wohl auch deshalb, weil sie angesichts der Wirtschaftskrise aus den 70-er Jahren des 19. Jahrhunderts unfinanzierbar schien.
Den Wienern wird ja eine besondere Liebe zum Tod nachgesagt. Nach der Zeit des Josephinismus wurde auch die Zeit der „schönen Leich´“ geboren. Wer etwas auf sich hielt, der musste für einen glanzvollen letzten Abgang sorgen. Die letzte Reise ist also sehr wichtig für die Wiener. Meine Reise zum Zentralfriedhof beginnt am Schwarzenbergplatz (dort wo das Russen-Denkmal ist), führt über den Rennweg (neben dem Unteren-Belvedere) und die letzte Tour der Toten über die Simmeringer Hauptstrasse direkt zu Tor 1, 2 und 3. Beim 2. Tor befindet sich der Haupteingang. Die Fahrt dorthin nimmt rund 20 Minuten in Anspruch und verläuft eher wenig spannend, und man erahnt nicht, dass man in Kürze schönen Jugendstil mitsamt herausgeputzten Ehrengräbern sehen wird. Die Gegend ab dem Rennweg, also nach dem Belvedere, ist optisch eher traurig, gesäumt von sozialistischen Plattenbauten, garniert mit Ramschläden in den Erdgeschossen. Wenn Architektur töten könnte, dann würde man die Simmeringer Hauptstrasse im 71er nicht überleben, und der Schaffner könnte einem bei der Endstation gleich die letzte Ehre erteilen und vor Tor 3 aussetzen.
Zurück zum Thema „a schöne Leich´“ abgeben: Die größten Friedhöfe sind ohnehin bald im Web 2.0 zu finden. Und unsere digitalen Handlungen sind zu einem wichtigen Bestandteil unserer Identität geworden. Deshalb gibt man heutzutage nicht nur „a schöne Leich´“ im realen Leben, sondern auch „a schöne ID“ im Netz ab, um für später gleich vorsorgen zu können. Was also machen, wenn man heute noch eine Facebookfreundschaftsanfrage beantwortet, den PC runterfährt und gleich im Anschluss tot umfällt. Schön ist anders, es sei denn man sorgt digital vor. Für das Begräbnis im irdischen Raum kümmern sich wahrscheinlich (hoffentlich) eh die Nachfahren. Aber das digitale Begräbnis? Ein Toter als Untoter im sozialen Netzwerk von Lebenden? Es hat ja wahrscheinlich niemand die Passwörter für seine diversen Accounts und kann sie auch nicht schließen. Es gibt aber Firmen, die die Passwörter aufbewahren und die zugehörigen Personen bei Bedarf (wenn sie sich nicht nach einer bestimmten Zeit einloggen) für tot erklärt und somit die Passwörter „post mortem“ an die Angehörigen weiter schickt. Mehrere Millionen Facebook-User sterben jährlich – das ist also keine Minderheitensache mehr.
Am realen Zentralfriedhof (ich stieg bei Tor 2 aus) endlich angekommen, geht man gleich gerade vor zur Karl-Barromäus-Kirche, der Friedhofskirche. Vor ihr ist die Präsidentengruft. Am Weg zur Kirche befinden sich auch die meisten Ehrengräber. Links in Richtung neuem jüdischem Friedhof befindet sich auch der Babyfriedhof, welcher auch optisch sofort auffällt.
Der Friedhof ist ein schönes Idyll inmitten einer eher trostlosen Gegend, und daher meines Erachtens einen Besuch in jeder Hinsicht wert. Wie alle Friedhöfe ist auch der Zentralfriedhof am Lebensraum der Hinterbliebenen angrenzend, aber doch irgendwie am Ende der Stadt beziehungsweise der Gesellschaft gelegen.
Der Begräbnisplatz ist die essentielle Institution des Totengedenkens. Respectance.com, strassederbesten.de oder trauer.de ermöglichen aber auch online Totengedenken, falls den Hinterbliebenen die Anfahrt zu beschwerlich wird. Auch Kerzen können (nach käuflichem Erwerb wie im realen Leben) digital angezündet werden. Manche Gedenkstätten haben weit über 200.000 digital zur Ruhe gebetteten Menschen/Usern. Der Wiener Zentralfriedhof hat rund 350.000 Tote, also noch „beliebter“. Die Online-Gruft kann aber auch zu einem Mehr an Verbundenheit mit dem Verstorbenen führen. Genauso wie vor den Todesanzeigen in den Zeitungen die Leichenbitter existierten und man durch den Wandel auch die Pietätlosigkeit durch die mediale Verbreitung des Todes heraufbeschwor. Jedenfalls ist das Hinsurfen zu seinen Liebsten im WWW längst Realität.
Wie man trauert und/oder gedenkt, kann man nicht vorschreiben. Sollten Sie also voll internetfähig und mit Smartphone und Pad ausgestattet am Friedhof unterwegs gewesen sein (soll ja vorkommen), dann könnten Sie bei Ihrer Heimfahrt auch gleich an der schönen eigenen Internetleich´ zu basteln beginnen. Zu Lebzeiten tun wir ja auch unser Bestes, um auf Facebook und dergleichen via perfektem, aber sicher nicht immer ganz ehrlichem Eigenmarketing a gute Partie abzugeben. Stimmt’s ?
Wolfgang Glass ist Politologe in Wien.
(glassiker.wordpress.com | facebook.at/glassiker1)