Berlin - Mehrere Virologen kritisieren die bisherige Haltung der Länder, wonach Schulen keine Treiber der Pandemie seien. Der Direktor des virologischen Instituts am Universitätsklinikum Düsseldorf, Jörg Timm, sagte der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" (FAS), er halte das "so für nicht mehr haltbar."
Kleinere Kinder steckten sich zwar seltener mit dem Coronavirus an, könnten es bei einer Infektion aber genauso weitergeben. Kinder ab zwölf Jahren seien sogar "genauso ansteckungsfähig wie Erwachsene", sagte Timm. "Daher spielen Schulkinder definitiv eine Rolle." Auch die Direktorin der Frankfurter Virologie, Sandra Ciesek, mahnte in der FAS, jüngere und ältere Kinder bei der Schuldiskussion zu unterscheiden.
Warum Grundschüler das Virus weniger verbreiten als Jugendliche, sei nicht ganz klar. Das Immunsystem von Kindern spiele eine Rolle, möglicherweise ebenso die weniger ausgeprägte Symptomatik und das Verhalten. Zur Eindämmung der Pandemie habe der Distanzunterricht bei älteren Kindern und Jugendlichen daher vermutlich einen größeren Effekt als bei Grundschulkindern. Zahlen des Robert-Koch-Instituts aus dem November legen nahe, dass ältere Schüler sich überdurchschnittlich oft mit dem Coronavirus infizieren.
So lag die Inzidenz bei 15 bis 19 Jahre alten Jugendlichen in der vorvergangenen Woche bei 212, während sie für die gesamtdeutsche Bevölkerung bei 151 lag. Vergleicht man die Zahlen aller Infizierten in Einrichtungen wie Kitas, Schulen und Ferienlagern mit denen vom März und April, als diese größtenteils geschlossen waren, so haben sie sich mittlerweile verzehnfacht. Auch in den Gesundheitsämtern beobachtet man, dass eher ältere Schüler infiziert sind. Eine Sprecherin des Bezirksamtes Berlin-Mitte, aktuell Spitzenreiter bei den Infektionen, sagte der FAS: "Die Älteren scheinen stärker betroffen zu sein, Kinder unter vier Jahren kaum."
Dennoch haben viele Amtsärzte nicht den Eindruck, dass Schulen Virenschleudern sind. Ein Sprecher der Stadt Herne, ebenfalls mit einer Inzidenz von über 300, sagte: "Wir haben viele Fälle in Schulen, aber im klassischen Unterrichtsgeschehen erfolgen die Infektionen eher nicht." Ähnlich äußerte sich der Leiter des Gesundheitsamts im Kreis Düren. Schüler steckten eher privat ihre Kumpels an als ihren Sitznachbarn in der Klasse. Einmal habe es mehrere Fälle an verschiedenen Schulen gegeben, "da kam raus, die waren auf einer gemeinsamen Fete".
In Duisburg ist die Lage an den Schulen "angespannt", wie ein Sprecher der Stadt der FAS sagte. Seit Anfang November wurden an weiterführenden Schulen 92 Schüler positiv getestet, an Grundschulen 34. "Die Bedingungen für einen durchgehenden Präsenzunterricht werden immer schwieriger." Der Gesundheitspolitiker und Epidemiologe Karl Lauterbach befürchtet zudem eine hohe Dunkelziffer, da Erwachsene zehnmal so häufig getestet würden wie Schüler, wie der FAS sagte. Der Bundeselternbeirat ist unzufrieden mit der Situation an den Schulen und kritisiert die vollen Klassen.
Stephan Wassmuth sagte der FAS: "Wir sind froh, dass die Schulen offen sind, aber die Gesundheitsversorgung muss im Vordergrund stehen." Obwohl viele Schulen gute Konzepte für Wechselunterricht entwickelt hätten, würden die Kultusminister stur am Normalbetrieb festhalten. "Man kann nicht nachvollziehen, dass immer mehr Zeit ins Land geht ohne eine Entscheidung." Der Bildungsforscher Olaf Köller, der in einer Langzeitstudie die Folgen von Corona auf die Schulen untersucht, kritisiert ebenfalls, dass es keinen Plan B für den Winter gebe.
"Im Grunde ist der Konsens: Augen zu und durch." Dabei sei Unterricht aus der Distanz nicht nur aus virologischer, sondern auch aus pädagogischer Sicht vertretbar. "Jüngere brauchen persönlichen Kontakt, aber für Ältere ist es kein großes Problem, selbständig zu lernen."
Foto: Schule mit Corona-Hinweis (über dts Nachrichtenagentur)Dir gefällt, was dts Nachrichtenagentur schreibt?
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